Sie sind auf dem neuesten Stand
Sie haben die Ausgabe Mai 2025 abgeschlossen.
EntgeltfortzahlungDie Erschütterung des Beweiswerts einer im Nicht-EU-Ausland erstellten AUB
| Der Beweiswert einer im Nicht-EU-Ausland ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (AUB) kann erschüttert sein, wenn nach der vorzunehmenden Gesamtbetrachtung des zu würdigenden Einzelfalls Umstände vorliegen, die zwar für sich betrachtet unverfänglich sein mögen, in der Gesamtschau aber ernsthafte Zweifel am Beweiswert begründen. Es gelten die gleichen Grundsätze wie bei einer inländischen AUB. |
Sachverhalt
Die Parteien streiten über Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall für Zeiten, in denen der ArbN während seines Auslandsurlaubs im Sommer 2022 erkrankt sein will. Er ist seit 2002 als Lagerarbeiter beim ArbG beschäftigt. Bereits in den Jahren 2017, 2019 und 2020 legte er dem ArbG im direkten zeitlichen Zusammenhang mit seinem Urlaub AUBs vor. Vom 22.8. bis zum 9.9.22 hatte der ArbN Urlaub, den er in Tunesien verbrachte. Mit E-Mail vom 7.9.22 teilte er dem ArbG mit, er sei bis zum 30.9.22 krankgeschrieben. Beigefügt war ein Attest eines tunesischen Arztes vom selben Tag, der in französischer Sprache bescheinigte, dass er den ArbN untersucht habe. Dieser leide danach an „schweren Ischialbeschwerden“ im engen Lendenwirbelsäulenkanal. Er benötige daher 24 Tage strenge häusliche Ruhe bis zum 30.9.22. Während dieser Zeit dürfe er sich nicht bewegen oder reisen.
Einen Tag nach diesem Arztbesuch buchte der ArbN ein Fährticket für den 29.9.22 und reiste an diesem Tag mit seinem PKW zunächst mit der Fähre von Tunis nach Genua und dann weiter nach Deutschland zurück. Danach legte er dem ArbG eine Erstbescheinigung eines deutschen Arztes vom 4.10.22 vor, in der Arbeitsunfähigkeit bis zum 8.10.22 bescheinigt wurde. Nachdem der ArbG dem ArbN mitgeteilt hatte, dass es sich seiner Auffassung nach bei dem Attest des tunesischen Arztes nicht um eine AUB handele, legte dieser eine erläuternde Bescheinigung des tunesischen Arztes vor, in welcher dieser bescheinigt, den ArbN in Tunesien persönlich untersucht zu haben. Weiter heißt es: „Er hatte eine beidseitige Lumboischialgie, die eine Ruhepause mit Arbeitsunfähigkeit und Reiseverbot für 24 Tage vom 07/09/2022 bis zum 30/09/2022 erforderlich machte.“ Der ArbG lehnt die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall ab. Mit seiner Klage verlangte der ArbN Entgeltfortzahlung. Das LAG verurteilte den ArbG zur Zahlung (LAG München 16.5.24, 9 Sa 538/23).
Entscheidungsgründe
Die dagegen gerichtete Revision des ArbG war erfolgreich (BAG 15.1.25, 5 AZR 284/25, Abruf-Nr. 247734). Das LAG habe zwar im Ausgangspunkt zutreffend erkannt, dass auch einer AUB aus einem Land außerhalb der EU grundsätzlich der gleiche Beweiswert wie einer in Deutschland ausgestellten Bescheinigung zukommen könne. Dafür müsse sie aber erkennen lassen, dass der ausländische Arzt zwischen einer bloßen Erkrankung und einer mit Arbeitsunfähigkeit verbundenen Krankheit unterschieden habe. Das Berufungsgericht habe vor diesem Hintergrund rechtsfehlerhaft bei der Würdigung der vom ArbG zur Begründung seiner Zweifel an der bescheinigten Arbeitsunfähigkeit jedoch keine Gesamtschau der vorgetragenen tatsächlichen Umstände vorgenommen, sondern nur jeden einzelnen Aspekt isoliert betrachtet.
Die Frage der Erschütterung des Beweiswerts einer im Nicht-EU-Ausland ausgestellten AUB erfordere indes eine Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalls. Vorliegend sei insbesondere zu berücksichtigen, dass der tunesische Arzt dem ArbN für 24 Tage Arbeitsunfähigkeit bescheinigte, ohne eine Wiedervorstellung anzuordnen. Weiter buchte dieser bereits einen Tag nach der attestierten Notwendigkeit häuslicher Ruhe und des Verbots, sich zu bewegen und zu reisen, ein Fährticket und trat noch während des attestierten Zeitraums die lange Rückreise nach Deutschland an. Zudem habe er bereits in den Jahren 2017 bis 2020 dreimal unmittelbar nach seinem Urlaub AUBs vorgelegt. Diese Gegebenheiten mögen für sich betrachtet unverfänglich sein. In einer Gesamtschau begründeten sie indes ernsthafte Zweifel am Beweiswert der AUB. Das habe zur Folge, dass nunmehr der ArbN die volle Darlegungs- und Beweislast für das Bestehen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit als Voraussetzung für einen Entgeltfortzahlungsanspruch trage. Da das LAG hierzu keine Feststellungen getroffen habe, sei die Sache insoweit zur neuen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen gewesen.
Relevanz für die Praxis
Der 5. Senat vertieft seine bereits mehrfach bestätigte Linie zur Frage des Beweiswerts von AUBs. Waren diese bis vor wenigen Jahren noch geradezu sakrosankt, bestehen inzwischen zahlreiche revisionsrechtliche Vorgaben, die zu einer Erschütterung des Beweiswerts führen.
So kann etwa bei (nahezu) passgenau ausgestellten AU-Bescheinigungen eine Erschütterung des Beweiswerts von AU-Bescheinigungen vorliegen, wenn eine zeitliche Koinzidenz zwischen Beendigungstatbestand und Restdauer des Arbeitsverhältnisses besteht und der ArbN unmittelbar nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses eine neue Beschäftigung aufnimmt. Für solche Zeiten der Krankschreibung trifft den ArbN dann die volle Darlegungs- und Beweislast für das Bestehen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit als Voraussetzung für einen Entgeltfortzahlungsanspruch (BAG 13.12.23, 5 AZR 137/23).
Bei der Wertung einer AUB ist stets zu berücksichtigen, dass sie nicht nur isoliert, sondern in einer Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalls zu betrachten ist. Für die Personalpraxis bleibt es daher spannend, wie die Tatsachengerichte sich zu den neuerlichen revisionsrechtlichen Vorgaben verhalten werden. Die vorliegende Entscheidung fügt weitere Aspekte dazu, die in einer Nähe zum Urlaub und widersprüchlichen Verhaltensweisen des ArbN zu ärztlichen Weisungen liegen. Das Fazit bleibt indes unverändert: Lassen die Umstände in einer Gesamtschau Zweifel an Richtigkeit und Gehalt der Bescheinigung aufkommen, liegt die volle Beweislast beim ArbN.
AUSGABE: AA 5/2025, S. 83 · ID: 50395572