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RechtsprechungDie Top 25 Entscheidungen aus dem Arbeitsrechtsjahr 2023
| AGG, Arbeitszeitbetrug, Kündigung, Urlaub, Mitbestimmung, Verzugslohn: Auch im Jahr 2023 war wieder viel los vor den Arbeitsgerichten. AA Arbeitsrecht aktiv zeigt die wichtigsten Entscheidungen aus dem Arbeitsrechtsjahr ab Ende 2022 und im Jahr 2023 im gewohnten Kurzüberblick auf. Neu dabei sind Entscheidungen der Verwaltungsgerichte. Hintergrund: Immer häufiger stehen die öffentlich Bediensteten, allen voran die Polizeibeamten und Lehrkräfte, im Fokus der Rechtsprechung. |
1. AGG: Gleiche Arbeit, gleicher Lohn: Für Mann und Frau!
Eine Frau hat Anspruch auf gleiches Entgelt für gleiche oder gleichwertige Arbeit, wenn der ArbG männlichen Kollegen aufgrund des Geschlechts ein höheres Entgelt zahlt. Daran ändert es nichts, wenn der männliche Kollege ein höheres Entgelt fordert und der ArbG dieser Forderung nachgibt (BAG (16.2.23, 8 AZR 450/21, Abruf-Nr. 233917 in AA 23, 56).
2. AGG: Beweislastverteilung bei Benachteiligung aufgrund Behinderung
Ein erfolgloser schwerbehinderter Bewerber genügt im Entschädigungsprozess seiner Darlegungslast für die Kausalität der Schwerbehinderung für die Benachteiligung regelmäßig dadurch, dass er eine Verletzung des ArbG gegen Bestimmungen rügt, die Verfahrens- und/oder Förderpflichten zugunsten schwerbehinderter Menschen enthalten. Er muss für die von ihm nur vermutete Tatsache eines Verstoßes des ArbG regelmäßig keine konkreten Anhaltspunkte darlegen (BAG 14.6.23, 8 AZR 136/22, Abruf-Nr. 237449 in AA 23, 203).
3. Arbeitsunfähigkeit: Streit mit Vorgesetzten über AU führt nicht stets zur Auflösung des Arbeitsverhältnisses
Für einen Auflösungsantrag des ArbN nach § 9 Abs. 1 S. 1 KSchG müssen substanziierte und konkrete Tatsachen für die Umstände vorgetragen werden, aus denen sich nach Auffassung des ArbN die Unzumutbarkeit der Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses ergeben soll (LAG Baden-Württemberg 30.12.22, 17 Sa 11/22, Abruf-Nr. 234285 in AA 23, 57).
4. Arbeitszeit: Genehmigung bei Tätigkeiten an Sonn- und Feiertagen
Die grundgesetzlich geschützte Sonn- und Feiertagsruhe erfordert strenge Anforderungen bei der Beurteilung, ob die Voraussetzungen der Ausnahmeregelung nach § 13 Abs. 5 ArbZG vorliegen (VG Osnabrück 11.10.23, 1 A 119/22, Abruf-Nr. 238434).
5. Arbeitszeitbetrug: Fristlose Kündigung bei Kaffeepause
Auch ein einmaliger 10-minütiger Cafébesuch kann ohne Ausloggen bei beharrlicher Leugnung bis zum Nachweis einen wichtigen Grund nach § 626 Abs. 1 BGB bilden (LAG Hamm 27.1.23, 13 Sa 1007/22, Abruf-Nr. 234587 in AA 23, 93).
6. Beamtenrecht: Wenn der Polizist bei TikTok postet
Betreibt ein Polizeibeamter außerhalb des Dienstes einen Internetauftritt, in dem er erkennbar als Polizist polizeiliche Themen behandelt, kommt eine Untersagung der Nebentätigkeit durch die Dienstbehörde in Betracht (OVG Berlin-Brandenburg (17.4.23, OVG 4 S 4/23, Abruf-Nr. 236358 in AA 23,139).
7. Befristung: Vorherige ArbN-Überlassung hindert nicht Befristung
Wegen des dem ArbG zustehenden Gestaltungsspielraums und dessen Einschätzungsprärogative in Bezug auf die tatsächlichen Gegebenheiten und betroffenen Interessen ist eine tarifvertragliche Höchstüberlassungsdauer von 36 Monaten nicht zu beanstanden. Ein Überschreiten der gesetzlichen Öffnungsklausel durch die Tarifvertragsparteien liegt erst vor, wenn die Überlassung ohne jegliche zeitliche Begrenzung erfolgt und der Leih-ArbN dauerhaft anstelle eines Stamm-ArbN eingesetzt werden soll (BAG 5.4.23, 7 AZR 223/22, Abruf-Nr. 236750 in AA 23, 171).
8. Datenschutz: BR-Vorsitzender UND Datenschutzbeauftragter?
Der Vorsitz im Betriebsrat steht einer Wahrnehmung der Aufgaben des Beauftragten für den Datenschutz typischerweise entgegen (BAG 6.6.23, 9 AZR 383/19, Abruf-Nr. 235792 in AA 23, 111).
9. Datenschutz: Steuerung logistischer Abläufe kein Datenschutzverstoß
Eine ständige Mitarbeiterkontrolle ist möglich, wenn der Zweck der Kontrollen in der Steuerung der logistischen Abläufe liegt (VG Hannover 9.2.23, 10 A 6199/20, Abruf-Nr. 233777 in AA 23, 37).
10. Entgeltfortzahlung: Wer zahlt die Leasingraten für das Dienstrad?
Ein ArbN muss die Leasingraten des Dienstrad-Leasings, das im Wege der Entgeltumwandlung finanziert wird, während des Krankengeldbezugs selbst tragen (Arbeitsgericht Aachen 2.9.23, 8 Ca 2199/22, Abruf-Nr. 237649 in AA 23, 188).
11. Entgeltfortzahlung: Abgestufte Darlegungslast bei neuer Erkrankung
Die Abstufung der Darlegungslast beim Streit über das Vorliegen einer neuen Erkrankung i. S. v. § 3 Abs. 1 EFZG, wonach der ArbN Tatsachen vorzutragen hat, die den Schluss erlauben, es habe keine Fortsetzungserkrankung bestanden, begegnet weder unions- noch verfassungsrechtlichen Bedenken. Dem steht nicht entgegen, dass der hiernach erforderliche Vortrag im Regelfall mit der Offenlegung der einzelnen zur Arbeitsunfähigkeit führenden Erkrankungen im maßgeblichen Zeitraum verbunden ist (BAG 18.1.23, 5 AZR 93/22, Abruf-Nr. 235023 in AA 23, 153).
12. Gleichbehandlung: Höchstbetrag steht Ausgleich nicht entgegen
Es verstößt gegen den betriebsverfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz, wenn die Betriebsparteien in einem Sozialplan grundsätzlich die Gewährung eines zusätzlichen Abfindungsbetrags zum Ausgleich der durch eine Schwerbehinderung bedingten wirtschaftlichen Nachteile infolge des Arbeitsplatzverlusts vorsehen, dessen Zahlung aber wegen einer im Sozialplan vorgesehenen Höchstbetragsregelung bei älteren schwerbehinderten ArbN unterbleibt (BAG 11.10.22, 1 AZR 129/21, Abruf-Nr. 233650 in AA 23, 64).
13. Kündigung: Kündigung einer nicht geimpften MFA durchaus möglich
Die Kündigung des Arbeitsverhältnisses einer nicht gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 geimpften medizinischen Fachangestellten zum Schutz von Patienten und der übrigen Belegschaft vor einer Infektion verstößt nicht gegen das Maßregelungsverbot des § 612a BGB (BAG 30.3.23, 2 AZR 309/22, Abruf-Nr. 234875 in AA 23, 73).
14. Kündigung: Wann darf wegen „Krankfeierns“ fristlos gekündigt werden?
Meldet sich eine ArbN bei ihrem ArbG für 2 Tage krank und nimmt an einer Party teil, ist von einer vorgetäuschten Arbeitsunfähigkeit (AU) auszugehen. Eine fristlose Kündigung kann dann gerechtfertigt sein. Durch die Teilnahme an einer solchen Veranstaltung ist der Beweiswert der AU erschüttert (Arbeitsgericht Siegburg 1.12.22, 5 Ca 1200/22, Abruf-Nr. 234876 in AA 23, 74).
15. Kündigung: Der fristlos gekündigte Freischwimmer
Schwimmen im Rhein während der Firmenfeier ist wegen der potenziellen Eigen- und Fremdgefährdung eine Verletzung arbeitsvertraglicher Pflichten (LAG Düsseldorf 18.7.23, 3 Sa 211/23, Abruf-Nr. 236360 in AA 23, 139).
16. Kündigung: Kündigung bei Verdacht auf Arbeitszeitbetrug
Der dringende Verdacht einer fehlerhaften Arbeitszeiterfassung kann eine personenbedingte Kündigung rechtfertigen, wenn sich der ArbN aller Wahrscheinlichkeit nach von zu Hause aus im Zeiterfassungssystem eingebucht hat, die Arbeit aber erst später im Dienstgebäude aufnimmt (LAG Mecklenburg-Vorpommern 28.3.23, 5 Sa 128/22, Abruf-Nr. 235224 in AA 23, 155).
17. Kündigung: Äußerungen in einer privaten WhatsApp-Gruppe
Ein ArbN, der sich in einer aus sieben Mitgliedern bestehenden privaten Chatgruppe in stark beleidigender, rassistischer, sexistischer und zu Gewalt aufstachelnder Weise über Vorgesetzte und andere Kollegen äußert, kann sich gegen eine außerordentliche Kündigung nur im Ausnahmefall auf eine berechtigte Vertraulichkeitserwartung berufen (BAG 24.8.23, 2 AZR 17/23, Abruf-Nr. 237413 in AA 23, 168).
18. Kündigung: Nach dem Trinkgelage war Schluss mit lustig
Das Betreten von Betriebsräumen des ArbG zu einem Trinkgelage ohne Duldung kann auch ohne Abmahnung ein Kündigungsgrund sein (LAG Düsseldorf 12.9.23, 3 Sa 284/23, Abruf-Nr. 237414 in AA 23, 169).
19. Kündigung: Kollegin mit Äußerungen sexuell belästigt = fristlos raus
Der ArbN verletzt seine vertraglichen Pflichten gemäß § 7 Abs. 3 AGG, wenn er auf einer Weihnachtsfeier eine Kollegin mit sexuellen Äußerungen belästigt. Das kann eine außerordentliche Kündigung rechtfertigen. Dem ArbG kann es dann unzumutbar sein, das Arbeitsverhältnis auch nur bis zum Ablauf der Kündigungsfrist fortzusetzen (Arbeitsgericht Elmshorn 26.4.23, 3 Ca 1501 e/22, Abruf-Nr. 235796 und LAG Schleswig-Holstein 6 Sa 71/23 in AA 23, 199).
20. Mitbestimmung: Einsatz von sozialen Medien mit Kommentarfunktion
Betreibt eine Stelle der öffentlichen Verwaltung in sozialen Medien eigene Seiten oder Kanäle, kann wegen der für alle Nutzer bestehenden Möglichkeit, dort eingestellte Beiträge zu kommentieren, eine technische Einrichtung zur Überwachung des Verhaltens und der Leistung von Beschäftigten vorliegen, deren Einrichtung oder Anwendung der Mitbestimmung des Personalrats unterliegt (BVerwG 4.5.23, BVerwG 5 P 16.21, Abruf-Nr. 235323 in AA 23, 96).
21. Pfändung: Unpfändbarkeit einer Corona-Sonderzahlung
Zahlt ein ArbG, der nicht dem Pflegebereich angehört, freiwillig an seine Beschäftigten eine Corona-Prämie, ist diese Leistung als Erschwerniszulage nach § 850a Nr. 3 ZPO unpfändbar, wenn ihr Zweck in der Kompensation einer tatsächlichen Erschwernis bei der Arbeitsleistung liegt. Dies gilt nur, soweit die Prämie den Rahmen des Üblichen nicht übersteigt (BAG 25.8.22, 8 AZR 14/22, Abruf-Nr. 230997 in AA 23, 43).
22. Tarifrecht: Höherer Zuschlag für unregelmäßige Nachtarbeit
Eine Regelung in einem Tarifvertrag, die für unregelmäßige Nachtarbeit einen höheren Zuschlag vorsieht als für regelmäßige, verstößt dann nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG, wenn ein sachlicher Grund für die Ungleichbehandlung gegeben ist. Dieser muss aus dem Tarifvertrag erkennbar sein (BAG 22.2.23, 10 AZR 332/20, Abruf-Nr. 234288 in AA 23, 55).
23. Tarifvertrag: Leih-ArbN versus Stamm-ArbN: Ungleicher Lohn möglich
Von dem Grundsatz, dass Leih-ArbN für die Dauer einer Überlassung Anspruch auf gleiches Arbeitsentgelt wie vergleichbare Stamm-ArbN des Entleihers haben („equal pay“), kann ein Tarifvertrag nach § 8 Abs. 2 S. 2 AÜG „nach unten“ abweichen. Folge ist, dass der Verleiher dem Leih-ArbN nur die niedrigere tarifliche Vergütung zahlen muss (BAG 31.5.23, 5 AZR 143/19, Abruf-Nr. 235791 in AA 23, 110).
24. Urlaub: Wann beginnt die dreijährige Verjährungsfrist?
Der gesetzliche Anspruch eines ArbN auf bezahlten Jahresurlaub unterliegt der gesetzlichen Verjährung. Allerdings beginnt die dreijährige Verjährungsfrist erst am Ende des Kalenderjahres, in dem der ArbG den ArbN über seinen konkreten Urlaubsanspruch und die Verfallfristen belehrt und der ArbN den Urlaub dennoch aus freien Stücken nicht genommen hat (BAG (20.12.22, 9 AZR 266/20, Abruf-Nr. 232936 in AA 23, 26).
25. Verzugslohn: Kein Annahmeverzug durch unzumutbare Prozessbeschäftigung
Kündigt der ArbG fristlos, weil er die weitere Beschäftigung des ArbN für unzumutbar hält, bietet aber gleichwohl eine Prozessbeschäftigung zu unveränderten Arbeitsbedingungen an, spricht wegen dieses widersprüchlichen Verhaltens eine tatsächliche Vermutung dafür, dass es sich um kein ernst gemeintes Angebot handelt. Ein solcher ArbN unterlässt meist zumindest dann nicht böswillig anderweitigen Verdienst, wenn er das Angebot der Prozessbeschäftigung ablehnt, solange die gegen ihn erhobenen Vorwürfe nicht zumindest erstinstanzlich geklärt sind (BAG 29.3.23, 5 AZR 255/22, Abruf-Nr. 235922 in AA 23, 132).
AUSGABE: AA 1/2024, S. 10 · ID: 49835364