Sie sind auf dem neuesten Stand
Sie haben die Ausgabe Mai 2024 abgeschlossen.
RegressVersicherer fordert Regress – Vorgehen und Abwehrmöglichkeiten des Schadengutachters
| Der BGH hat mit Urteil vom 12.03.2024 (Az. VI ZR 280/22) die Grundsätze zum Werkstattrisiko auf den Sachverständigen übertragen (mehr dazu in UE 5/2024 → Abruf-Nr. 50000872). Es ist daher nicht unwahrscheinlich, dass einige Versicherer vermehrt Regressversuche gegen Schadengutachter starten. UE nimmt das zum Anlass für ein Regress-Update. Sie erfahren, wie Schadengutachter am besten vorgehen und welche Abwehrmöglichkeiten sie haben. |
Die eigene Vermögensschadenhaftpflichtversicherung
Im ersten Schritt sollte geklärt werden, ob – sofern vorhanden – die Vermögensschadenhaftpflichtversicherung des Schadengutachters greift.
In dem Fall greift die VSH nicht
Will der Versicherer nur einen Teil des von ihm für zu hoch gehaltenen Honorars zurückerstattet bekommen, für das er dem Geschädigten gegenüber einstehen musste, ist das kein Fall, den die Vermögensschadenhaftpflichtversicherung des Schadengutachters abdeckt. Also ist der Schadengutachter frei in all seinen Entscheidungen und Handlungen, die nun folgen.
In dem Fall greift die VSH
Verlangt der Versicherer jedoch einen Teil der von ihm an den Geschädigten erstatteten Reparaturkosten vom Schadengutachter zurück, weil wegen des – so der Vorwurf – viel zu großzügig kalkulierten Schadens und Reparaturweges erhöhte Reparaturkosten entstanden seien, wäre das anders. Ein solcher Regress wäre, wenn das Gutachten nicht vorsätzlich fehlerhaft erstellt wurde, vom eigenen Vermögensschadenversicherer gedeckt. Das gilt auch, wenn es bei Totalschäden um angeblich fehlerhaft ermittelte Werte geht.
Werden mit einer Klage des regressierenden Kraftfahrtversicherers sowohl angeblich zu hohes Honorar als auch angeblich vom Schadengutachter schuldhaft verursachte unnötige Reparaturkosten oder Totalschadenanteile verlangt, ist jedenfalls der Teil versichert, der sich auf die unnötig entstandenen Reparaturkosten oder die falsch ermittelten Werte bezieht.
Eigenen Versichererins Boot holen Praxistipp | Das erste, worum sich der Schadengutachter dann kümmern muss, ist seine eigene Vermögensschadenhaftpflichtversicherung. Das muss er streng genommen schon tun, wenn die Forderung ernsthaft vorgerichtlich an ihn herangetragen wird. Spätestens allerdings bei Zustellung eines Mahnbescheids oder einer Klage ist insoweit zügiges Handeln geboten. Denn in allen Vermögensschadenhaftpflichtversicherungen gilt: Der eigene Versicherer führt bei der Abwehr der Ansprüche Regie. Er bestimmt, wie vorgegangen wird. Wird der Versicherer zu spät informiert, kann das unter dem Gesichtspunkt des „Obliegenheitsverstoßes“ im schlimmsten Fall zum Verlust des Versicherungsschutzes führen. |
Solche Versicherungen sind oft mit einer Selbstbeteiligung abgeschlossen. Nun könnte man meinen, dass bei Regressforderungen unterhalb der Selbstbeteiligung nicht nötig wäre, Kontakt zum eigenen Versicherer aufzunehmen. Doch mit den Prozesskosten kann das Gesamtrisiko die Selbstbeteiligung schnell übersteigen; erst recht, wenn das Gericht im Rechtsstreit ein weiteres Gutachten einholt.
Damit der Vermögensschadenhaftpflichtversicherer nicht einen „seiner“ Anwälte einschaltet, ist es sinnvoll, wenn man bereits einen Erwiderungsentwurf des Anwalts des eigenen Vertrauens beifügt. Wegen gutachteninhaltlicher Attacken sollte er sich an der maßgeblichen Entscheidung des BGH, (Urteil vom 13.01.2009, Az. VI ZR 205/08, Abruf-Nr. 090691, dort vor allem Rz. 8 und 10) orientieren.
Regress und die richtige vorgerichtliche Argumentation
Regressforderungen des gegnerischen Versicherers beginnen ja zunächst mit der vorgerichtlichen Geltendmachung. Auch da sollte bereits klargemacht werden, dass und warum man die Forderung für unsinnig hält. Um überhaupt Chancen zu haben, Regresse durchzusetzen, müssten sich die Versicherer doch eher die schwach aufgestellten Gutachter aussuchen. Also kann eine gut gemachte vorgerichtliche Abwehr den Prozess verhindern.
Wenn allerdings auch unsachliche Einflüsse wirken, weil sich der Versicherer an einem Gutachter „festgebissen“ hat (das kann man von Zeit zu Zeit eindeutig beobachten), wird das wenig nützen.
Wichtig | Auch ein guter Schadengutachter ist nicht frei von Fehlern. Wenn man bei selbstkritischer Prüfung erkennt, dass der Versicherer mit seiner Kritik am Schadengutachten recht haben könnte, oder wenn bereits der Prozess des Geschädigten gegen den gegnerischen Haftpflichtversicherer nur gewonnen wurde, weil selbst nachgewiesene Fehler des Gutachters den Geschädigten nicht belasten, mag es sinnvoll sein, zu der Fehlleistung zu stehen. Denn sonst leidet das Image bei Gericht doch sehr.
Das richtige Vorgehen bei Zustellung einer Klage
Wird eine Klage zugestellt, laufen enge Fristen. Dann ist also Eile geboten, einen Rechtsanwalt einzuschalten.
Und da stellt sich die Frage: Kann der Anwalt eingeschaltet werden, der schon den Kunden im Streit gegen den Versicherer vertreten hat oder ist das ein Fall einer vom Anwalt unbedingt zu vermeidenden Interessenkollision? Nach unserer Einschätzung gibt es kein rechtliches Hindernis, dass derselbe Anwalt ausgewählt wird, denn das erste Mandat ist ja abgeschlossen.
Dennoch ist es wohl sinnvoll, einen anderen Rechtsanwalt zu nehmen. Vertrauensvoll zusammenarbeitende Kanzleien arbeiten insoweit über Kreuz, Motto: Du machst meine Regresse, ich mache deine. Letztlich muss der Anwalt das selbst entscheiden.
Wichtig | Weil die Fälle schlecht standardisierbar sind, hat UE bisher davon abgesehen, Textbausteine zur Verfügung zu stellen, die im Rechtsstreit verwertbar sind. Auf Anfrage kann UE aber erprobte Textmodule individuell liefern. Eine gute Arbeitshilfe ist auch das sehr lesenswerte Urteil des AG Kassel vom 01.07.2020 (Az. 421 C 104/18, Abruf-Nr. 217595).
Die Aktivlegitimation des Versicherers ist gegeben
Eine direkte rechtliche Verbindung vom Schadengutachter zum Versicherer gibt es nicht. Denn der hat einen Vertrag mit dem Geschädigten. Doch der Schadengutachter weiß, dass das Schadengutachten der Vorlage beim eintrittspflichtigen Versicherer dient und dass es die Grundlage der Schadenregulierung bildet. Das genügt, um den Versicherer als Dritten in den Schutzbereich des Vertrags einzubeziehen.
Davon geht der BGH in seinem Urteil vom 13.01.2009 (Az. VI ZR 205/08, Abruf-Nr. 090691) unter Rz. 8 ganz selbstverständlich aus, wenn er schreibt: „Auch wenn der Sachverständige weiß, dass im Regelfall das Gutachten als Grundlage der Schadensregulierung dient und Auswirkungen für den Haftpflichtversicherer haben kann, reichen die Rechte des in die Schutzwirkung des Vertrages einbezogenen Dritten nicht weiter als die des Vertragspartners selbst. Maßgebend ist dafür der Inhalt des Vertrags des Geschädigten mit dem Sachverständigen.“
„Schutzwirkung zugunsten Dritter“, also zugunsten des Versicherers, bedeutet nicht, dass der Sachverständige den Versicherer „schützen“ und alle Zweifelsfragen zugunsten des Schädigers entscheiden müsse. Das bedeutet nur, dass der Versicherer reklamieren kann, was auch der Geschädigte als Auftraggeber des Schadengutachters reklamieren könnte.
Das geltende Schadenersatzrecht ist die Richtschnur
Unter Rz. 8 und 10 der zitierten Entscheidung findet sich für die Beurteilung, ob der Schadengutachter einen Fehler gemacht hat, eine Leitlinie: „Beauftragt der Geschädigte – wie im Streitfall – den Gutachter mit der Schadensschätzung zum Zwecke der Schadensregulierung, hat der Sachverständige das Gutachten unter Berücksichtigung der geltenden Rechtsprechung zum Schadensersatz bei KFZ-Unfällen zu erstellen.“
Und der BGH betont, „…dass der Gutachtensumfang durch den Gutachtensauftrag und nicht durch das Interesse des Haftpflichtversicherers des Unfallgegners an einer besonders Kosten sparenden Schadensabrechnung bestimmt wird.“
Wichtig | Das geltende Schadenersatzrecht ist also hinsichtlich der einzelnen Schadenpositionen die Richtschnur, nicht hingegen das Interesse des Versicherers.
Regressabwehr – Gutachter hat Beurteilungsspielraum
Dem Schadengutachter steht in aller Regel ein Beurteilungsspielraum zu, was sich schon daraus ergibt, dass es selten nur eine „richtige“ Lösung gibt.
Was im Rahmen des Beurteilungsspielraums vertretbar ist
Wenn z. B. eine Wertminderung von 400 Euro richtig ist, ist eine von 350 oder 450 Euro nicht falsch, sondern im Rahmen des Beurteilungsspielraums vertretbar. Dasselbe gilt für einen Wiederbeschaffungswert von 10.000 Euro, der mit 10.500 oder 9.500 Euro auch nicht falsch bemessen ist, sondern im Rahmen des Beurteilungsspielraums vertretbar.
So können auch zwei sich scheinbar widersprechende technische Einschätzungen richtig sein. Das ist immer dann anzunehmen, wenn ein Grenzfall vorliegt: Kann man knapp doch noch instandsetzen oder ist die Grenze zur Instandsetzung knapp überschritten, sodass die Erneuerung der richtige Weg ist? Auch bei solchen Fragen kann – obwohl sich prima facie widersprechend – im Rahmen des Beurteilungsspielraums die eine Antwort so richtig sein wie die andere. Oder um es juristisch auszudrücken, „vertretbar“.
Der Beurteilungsspielraum im Lichte der Rechtsprechung
Der Beurteilungsspielraum des Schadengutachters ist auch immer wieder Thema bei Gericht:
- Treffsicher formuliert das LG Coburg: „Bewertungen haben es an sich, dass sie unterschiedlich ausfallen können. Dem Sachverständigen ist ein gewisser Spielraum zuzugestehen. Maßgeblich ist allein, ob sie auf der Grundlage zutreffender Tatsachen und Methoden vorgenommen wurden. Unterschiedliche Einschätzungen von Sachverständigen sind häufig und begründen per se keine Pflichtverletzung.“ (LG Coburg, Urteil vom 28.05.2021, Az. 33 S 49/20, Abruf-Nr. 222779).
- Ähnlich sagt das AG Oldenburg: „Im Rahmen der Schadenkalkulation ist zu berücksichtigen, dass es häufig mehrere vertretbare Wege zur Instandsetzung gibt. Dem Sachverständigen kommt bei der Auswahl und bei der Beurteilung des Erforderlichen ein Ermessenspielraum zu.“ (AG Oldenburg, Urteil vom 30.12.2014, Az. 7 C 7205/13 (X), Abruf-Nr. 143708).Bei Auswahl und Beurteilung des Erforderlichen besteht Spielraum
- Das bestätigt auch das AG Stuttgart: „In die gerichtliche Schätzung ist ebenfalls mit einzustellen, dass auch dem vorgerichtlich tätig gewordenen Sachverständigen ein gewisser Ermessensspielraum zusteht.“ (AG Stuttgart, Urteil vom 21.11.2017, Az. 43 C 723/17, Abruf-Nr. 198523).
Die Beispiele können umfangreich fortgesetzt werden. Allerdings ist das kein Freibrief für den Schadengutachter, denn ein Beurteilungsspielraum hat Grenzen. Bildhaft gesprochen: Pendeln um die Mittellinie der Straße ist „Beurteilungsspielraum“, je näher der Gutachter an den rechten oder linken Bordstein kommt, desto regressgefährlicher wird es. Wer über den Bordstein fährt, ist sicher im Regress, und wer das mit Absicht tut, im Strafrecht. Und zwar auf beiden Seiten.
Dementsprechend darf ein Beweisbeschluss nicht fragen „Gerichtsgutachter, wären Sie zum identischen Ergebnis gekommen?“, sondern „Gerichtsgutachter, liegt das Ergebnis des ersten Gutachters im Rahmen eine Beurteilungsspielraums (auch wenn Sie den vielleicht anders genutzt hätten)?“
AUSGABE: UE 5/2024, S. 9 · ID: 50002813