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EUStAVorlagepflicht nach Art. 24 Abs. 1 i. V. m. Art. 25 Abs. 1 EUStA-VO – geht der „EUStA“ die Puste aus?

Abo-Inhalt14.07.2025205 Min. LesedauerVon RAin Lea Wimmer, FAin StR, STÜRZL Steuerstrafrecht, Frankfurt a. M., und RA Dr. Jens Bosbach, FA StrR und FA StR, Pfordte Bosbach Rechtsanwälte PartmbB, München

| Die Europäische Staatsanwaltschaft (auch EUStA – European Public Prosecutor’s Office, hier EUStA) hat am 1.6.21 offiziell ihre Arbeit aufgenommen. Sie ist eine unabhängige Behörde der Europäischen Union, die mit der Ermittlung und Verfolgung von Straftaten zulasten des EU-Haushalts betraut ist. Der folgende Beitrag setzt sich aufgrund der aktuellen Entwicklungen mit der Frage der Zuständigkeit der EUStA im Bereich der Verkürzung von Einfuhrabgaben auseinander und wirft einen kritischen Blick auf die Sinnhaftigkeit der Führung sog. Bagatellfälle durch die EUStA. |

1. Allgemeines

Die Zuständigkeit der EUStA umfasst insbesondere Betrug, Korruption, Geldwäsche sowie grenzüberschreitenden Mehrwertsteuerbetrug ab einer Schadenssumme von 10 Mio. EUR. Ihr Tätigkeitsbereich erstreckt sich auf die mittlerweile 24 teilnehmenden EU-Mitgliedstaaten, in denen sie eigenständig Ermittlungen durchführen, Anklagen erheben und Verfahren vor nationalen Gerichten führen kann. Damit stellt die EUStA aus Sicht der Befürworter einen bedeutenden Schritt dar, um die justizielle Zusammenarbeit in der EU zu stärken. Nach gut drei Jahren operativer Tätigkeit kommen allerdings zunehmend Fragen nach ihrer Effektivität, ihrer institutionellen Einbettung sowie den Herausforderungen ihrer praktischen Umsetzung auf.

2. Ermittlungsorgane

Bis zur Einführung der EUStA lag die Ermittlungskompetenz in Steuerstrafverfahren bislang entweder bei der Finanzbehörde i. S. d. § 386 AO oder der Staatsanwaltschaft. Welche Behörde in Steuerstrafverfahren tätig wurde, hing davon ab, ob die federführende Ermittlungskompetenz bei der Finanzbehörde oder bei der Staatsanwaltschaft lag. Nun kann die Ermittlungskompetenz auch bei der EUStA liegen. Fraglich ist nur: Welche Fälle bearbeitet sie?

3. Sachliche Zuständigkeit

a) Finanzbehörde als zuständige Ermittlungsbehörde

Soweit nicht die Staatsanwaltschaft zuständig ist, obliegt die Ermittlung und Verfolgung von Steuerstraftaten und Steuerordnungswidrigkeiten den Finanzämtern. Nach § 386 Abs. 1 S. 1 AO i. V. m. Abs. 2 S. 1 Nr. 1 AO ermittelt die Finanzbehörde bei dem Verdacht einer Steuerstraftat den Sachverhalt grundsätzlich selbstständig im Rahmen einer sog. eigenständigen Ermittlungskompetenz (BeckOK AO/Schaefer, 31. Ed. 1.1.25, AO § 386 Rn. 1, beck-online). Steuerstraftaten (Zollstraftaten) i. S. d. § 369 Abs. 1 AO sind insbesondere Taten, die nach den Steuergesetzen strafbar sind, aber auch der Bannbruch, die Wertzeichenfälschung und deren Vorbereitung, soweit die Tat Steuerzeichen betrifft und die Begünstigung einer Person, die eine Tat nach den Nrn. 1 bis 3 begangen hat. Die Finanzbehörden haben in Strafverfahren, die sie in eigener Zuständigkeit führen, gem. § 399 Abs. 1 i. V. m. § 386 Abs. 2 AO die Rechte und Pflichten, die der Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren zustehen (BeckOK AO/Schaefer, 31. Ed. 1.1.25, AO § 386 Rn. 1, beck-online).

Liegt die selbstständige Ermittlungskompetenz bei der Finanzbehörde, kommen das Hauptzollamt, das Finanzamt (FA), das Bundeszentralamt für Steuern und die Familienkasse (§ 386 Abs. 1 S. 1 i. V. m S. 2 AO) als zuständige ermittelnde Behörde in Betracht.

Sachlich zuständig ist die Finanzbehörde, die die betroffene Steuer verwaltet, § 387 Abs. 1 AO. Welche Steuer von welcher Finanzbehörde i. S. d. § 387 Abs. 1 AO verwaltet wird, orientiert sich an Art. 108 Abs. 1 und Abs. 2 GG und ist im Einzelnen durch bundes- und landesrechtliche Regelungen konkret bestimmt.

Für die Ermittlung von Steuerstraftaten wurden innerhalb der Finanzbehörden zentrale finanzbehördliche Strafverfolgungsdienststellen geschaffen, die Bußgeld- und Strafsachenstellen (BuStra), die teilweise auch als Straf- und Bußgeldstellen (StraBu) bezeichnet werden. Die BuStra nimmt innerhalb der Finanzbehörde alle Aufgaben wahr, die sich aus der Ausübung staatsanwaltschaftlicher Rechte und Pflichten nach § 399 Abs. 1 AO ergeben (Graf/Jäger/Wittig/Weyand, AO, 3. Aufl., § 386 Rn. 10, beck-online).

Zölle, die bundesgesetzlich geregelten Verbrauchsteuern einschließlich Einfuhrumsatz und Biersteuer, die Luftverkehrsteuer und die Kraftfahrzeugsteuer werden von den Hauptzollämtern verwaltet (Art. 108 Abs. 1 GG, § 12 Abs. 2  Finanzverwaltungsgesetz [FVG]; Klein/Jäger, AO, 18. Aufl., § 387 Rn. 2, beck-online). In diesen Fällen ist das Hauptzollamt sachlich zuständige und ermittelnde Behörde, wobei auch hier die Ermittlung von Steuerstraftaten gem. § 387 Abs. 2 AO bestimmten Hauptzollämtern (dort Bußgeld- und Strafsachenstellen) übertragen worden ist (Joecks/Jäger/Randt/Randt, AO, 9. Aufl., § 387, Rn. 6, beck-online).

b) Nationale Staatsanwaltschaft als zuständige Ermittlungsbehörde

Die Staatsanwaltschaft (§ 152 StPO, § 386 Abs. 4 S. 2 AO, Nr. 267 Abs. 1 RiStBV) kann bei Vorliegen und Bekanntwerden eines Anfangsverdachts das Ermittlungsverfahren auch direkt selbst einleiten bzw. an sich ziehen und ihre Zuständigkeit insoweit ausüben. Als „Herrin des Ermittlungsverfahrens“ leitet die Staatsanwaltschaft die steuerstrafrechtlichen Ermittlungen, §§ 160, 161 StPO; die Finanzbehörde übernimmt die Funktion einer Polizeibehörde, § 402 Abs. 1 AO i. V. m § 399 Abs. 2 S. 2 AO.

Besteht dementsprechend Anlass, dass die Staatsanwaltschaft ein Verfahren führt, muss die Finanzbehörde die Staatsanwaltschaft, soweit sie das Steuerstrafverfahren bis dahin selbstständig geführt hat, entsprechend unterrichten und das Verfahren vorlegen bzw. das Steuerstrafverfahren nach § 386 Abs. 4 AO abgeben (Joecks/Jäger/Randt/Randt, AO, 9. Aufl., § 386 Rn. 26, beck-online).

Die Finanzbehörde ist nicht mehr befugt, das Ermittlungsverfahren eigenständig zu führen, wenn der Verdacht einer weiteren Straftat besteht. Dies ergibt sich aus dem Umkehrschluss aus § 386 Abs. 2 Nr. 1 AO (Joecks/Jäger/Randt/Randt, AO, 9. Aufl. § 386 Rn. 26, beck-online). Daneben übernimmt die Staatsanwaltschaft das Steuerstrafverfahren ggf. aufgrund der Bedeutung der Sache jedenfalls aber, wenn Zweifel bestehen oder während des Gangs der Ermittlungen entstehen, ob die Sache für ein Strafbefehlsverfahren geeignet ist (§ 400 1. Hs. AO), und insbesondere, wenn – oder sobald – wegen der Größenordnung oder der Bedeutung des Falls eine Anklage beim LG zu erwarten ist (Joecks/Jäger/Randt/Randt, a. a. O., Rn. 43, beck-online; siehe hierzu auch Nr. 22 AStBV 2025, Nr. 267 RiStBV). In der Praxis führen diese Vorgaben zur Abgabe von Fällen ab i. d. R. 50.000 EUR, teilweise 80.000 bis 100.000 EUR, oder bei entsprechender Komplexität.

c) Sonderfall: EUStA als zuständige Ermittlungsbehörde

Mit Einführung der EUStA kann sich bei Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der EU gem. Art. 22, 25 Abs. 2 und 3 der Verordnung (EU) 2017/1939 (im Folgenden: EUStA-VO) auch die Zuständigkeit der EUStA ergeben. Dies führt dazu, dass die Finanzbehörde in diesen Fällen prüfen muss, ob das Verfahren der örtlich zuständigen Staatsanwaltschaft oder der örtlich zuständigen EUStA (ggf. auch beiden Behörden) zu melden ist, Art. 24 EUStA-VO; siehe auch Nr. 140a AStBV 2025.

Nachdem sich der Rat für Justiz und Inneres am 8.6.17 auf eine endgültige Textfassung verständigt hatte, haben die 20 ursprünglich teilnehmenden Mitgliedstaaten am 11.10.17 die EUStA-VO beschlossen, um die EUStA zu errichten. In Kraft trat sie am 20.11. desselben Jahres.

Danach kann die EUStA (Art. 26, 27 der EUStA-VO) auch direkt selbst ein Ermittlungsverfahren einleiten bzw. an sich ziehen und ihre Zuständigkeit insoweit ausüben, wenn ein Anfangsverdacht hinsichtlich einer in ihre Zuständigkeit fallende Straftat vorliegt und bekannt wird. Wenn die EUStA entscheidet, ihre Zuständigkeit auszuüben, üben die zuständigen nationalen Behörden ihre eigene Zuständigkeit in Bezug auf dieselbe strafbare Handlung nicht aus, Art. 25 Abs. 1 EUStA-VO. Auch in diesem Fall übernehmen die Finanzbehörden die Funktion einer Polizeibehörde, Art. 28 Abs. 1 EUStA-VO.

Art. 86 Abs. 1 AEUV gibt in Bezug auf die sachliche Zuständigkeit der EUStA nur eine grobe Wegweisung vor und überlässt die nähere Konkretisierung der Errichtungsverordnung (EUStA-VO). Diese wiederum verweist in Art. 22 EUStA-VO mangels genuiner EU-Straftatbestände maßgeblich auf Normen des nationalen Rechts. Die EUStA ist für Straftaten zuständig, die die finanziellen Interessen der EU betreffen (sog. PIF-Straftaten, abgeleitet von der „Protection of Financial Interests“-Richtlinie 2017/1371). Dazu gehören insbesondere Zoll- und Betrugsdelikte im Zusammenhang mit EU-Mitteln. Für Mehrwertsteuerbetrügereien ist die EUStA nach Art. 22 Abs. 1 S. 2 EUStA-VO nur zuständig, wenn die Tat mit dem Hoheitsgebiet von zwei oder mehr Mitgliedstaaten verbunden ist und zusätzlich einen Gesamtschaden von mindestens 10 Mio. EUR umfasst.

Dagegen wird die Kompetenzausübung der EUStA im Übrigen in materieller Hinsicht nur durch die sog. „De-minimis-Klausel“ des Art. 25 Abs. 2 EUStA-VO beschränkt, wonach eine summenmäßige Erheblichkeitsschwelle bei 10.000 EUR vorgesehen ist: Hat die EU durch das deliktische Verhalten einen unter dieser Marke liegenden Schaden erlitten, kann die EUStA von ihrer Zuständigkeit nur Gebrauch machen, wenn entweder „der Fall Auswirkungen auf Unionsebene“ hat, die ihr Tätigwerden erforderlich machen (lit. a), oder wenn sich der Tatverdacht gegen Beamte und Bedienstete bzw. Mitglieder der EU oder deren Organe richten könnte (lit. b).

In Bezug auf die Frage, ab welcher Schadenshöhe die EUStA Verfahren trotz Vorliegen der zuständigkeitsbegründenden Voraussetzungen des Art. 22 Abs. 1 S. 1 EUStA-VO an die national zuständige Behörde verweisen kann, hat das Kollegium der EUStA mit Entscheidung vom 21.4.21, u. a. gestützt auf Art. 34 Abs. 3 EUStA-VO, erstmals operative Leitlinien für Ermittlungen, Evokationspolitik und Verweisung von Fällen aufgestellt. Diese wurden mit Beschluss 007/2022 vom 7.2.22 noch einmal geändert.

Danach kann die EUStA Verfahren in Bezug auf Straftaten, die einen Schaden von weniger als 100.000 EUR zum Nachteil der finanziellen Interessen der EU verursacht haben bzw. verursachen könnten und die aufgrund der Schwere der Straftat oder der Komplexität des Verfahrens im Einzelfall keine Ermittlung oder Strafverfolgung auf Unionsebene erforderlich machen und aufgrund dessen eine Verweisung im Interesse der Effizienz der Ermittlungen oder der Strafverfolgung besser wäre, an die zuständigen nationalen Behörden verweisen. Ausnahmen von diesem Grundsatz sind in den operativen Leitlinien geregelt.

4. Praxisproblem – Abgabe ab 10.000 EUR

Unter Berücksichtigung des Art. 24 Abs. 1 EUStA-VO, wonach die zuständigen mitgliedsstaatlichen Stellen verpflichtet sind, dem Delegierten Europäischen Staatsanwalt Straftaten unverzüglich zu melden, bezüglich derer der Europäische Staatsanwalt seine Zuständigkeit ausüben könnte, ergibt sich im Zusammenhang mit Art. 25 Abs. 2 EUStA-VO eine etwas makabre Situation: Aus Sicht der inländischen Strafverfolgungsbehörde bedeutet dies im Umkehrschluss, dass bereits in Fällen, in denen ein potenzieller Schaden für die finanziellen Interessen der EU i. H. v. 10.000 EUR im Raum steht, eine Vorlage an die EUStA erfolgen muss.

Wenn die EUStA entscheidet, ihre Zuständigkeit auszuüben, hat dies zur Folge, dass die nationale Behörde ihre eigene Zuständigkeit in Bezug auf dieselbe strafbare Handlung nicht mehr ausüben darf, Art. 25 Abs. 1 i. V. m. Art. 27 EUStA-VO.

Dies gilt auch im Hinblick auf den Verdacht einer Zollstraftat, da insoweit das die Zuständigkeit der EUStA beschränkende Erfordernis eines Mindestschadens i. H. v. 10 Mio. EUR nicht gilt. Steuerstrafrechtliche Ermittlungen wegen Zollstraftaten werden grundsätzlich durch die Bußgeld- und Strafsachenstellen der Hauptzollämter in eigenständiger Kompetenz geführt. Die Hauptzollämter treten dabei als Staatsanwaltschaft in Steuersachen auf (bei reinen Steuerdelikten nach § 386 Abs. 2 AO (s. o.). Lediglich in besonders schweren oder besonders bedeutenden Fällen wurden die Ermittlungen bisher von der Staatsanwaltschaft geführt. In diesen Fällen tritt das Hauptzollamt als Ermittlungspersonen der Staatsanwaltschaft auf (s. o.).

Die neue, die sachliche Zuständigkeit der EUStA regelnde EUStA-VO (Art. 22 ff. EUStA-VO) führt dazu, dass das „originär“ zuständige Hauptzollamt bei internationalen Sachverhalten und bei Einfuhrabgaben (ohne Einfuhrumsatzsteuer) bereits alle Fälle ab einem potenziellen Hinterziehungsschaden von nur 10.000 EUR vorlegen muss. Die Erfahrung in der Praxis zeigt, dass die originär ermittelnden Hauptzollämter, diesem „Anreiz“ folgend, diese Fälle regelmäßig der EUStA vorlegen und die EUStA diese Fälle entsprechend ihrer operativen Leitlinien jedenfalls ab einem Betrag ab 100.000 EUR auch an sich zieht. Der Vorlageakt dauert dabei mitunter mehrere Monate, wie die Praxis zeigt und was für den Betroffenen eine zusätzliche erhebliche Belastung darstellt.

Aus Sicht der ermittelnden Behörden mag dies vor dem Hintergrund der grenzüberschreitend weitaus weitreichenderen Ermittlungsmöglichkeiten der EUStA auf den ersten Blick vorteilhaft sein. Womöglich dient es aus Sicht der vorlegenden Bußgeld- und Strafsachenstellen der Hauptzollämter auch dazu, sich von lästiger Arbeit zu befreien. Bei genauerer Betrachtung wirkt sich diese Vorgehensweise jedoch insbesondere zulasten des Beschuldigten aus.

a) Überlastung der EUStA

2024 waren in Deutschland insgesamt 21 Europäische Delegierte Staatsanwälte in insgesamt fünf Zentren (Berlin, Frankfurt, Hamburg, Köln und München) tätig. Bei ihrer Arbeit wurden die Europäischen Delegierten Staatsanwälte von im Schnitt 8 Nationalen Assistenten unterstützt. Spezialisierte, die Ermittlungen der Europäischen Delegierten Staatsanwälte unterstützende Ermittler innerhalb der EUStA gibt es nicht (siehe Annual Report EUStA zum 31.12.24). Hinsichtlich der Durchführung der Ermittlungen sind die Europäischen Delegierten Staatsanwälte mithin auf die Ermittlungstätigkeit der lokalen Steuer- bzw. Zollfahndung angewiesen.

Die Zuständigkeit für die Ermittlung von den insgesamt 41 Hauptzollämtern unterliegenden Zollstraftaten wurde dagegen insgesamt an 13 Hauptzollämter übertragen. Die dort zuständigen Bußgeld- und Strafsachenstellen der 13 Hauptzollämter verfügen im Vergleich über eine weitaus größere Anzahl an Ermittlungsbeamten, die die Verfahren in eigener Zuständigkeit führen könnten, als die EUStA.

Berücksichtigt man darüber hinaus, dass die Delegierten Europäischen Staatsanwälte 2024 allein 368 Fälle des grenzüberschreitenden Mehrwertsteuerbetrugs zu führen hatten (siehe Annual Report EUStA zum 31.12.24), was bedeutet, dass jeder Delegierte Europäische Staatsanwalt ca. 18 Fälle aus diesem Bereich hätte bearbeiten müssen, ist fraglich, wie die Delegierten Europäischen Staatsanwälte tatsächlich und praktisch in der Lage sein wollen, der Flut und dem Umfang der Verfahren in praktischer Hinsicht Herr zu werden.

Die Vorlagepflicht von Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der EU ab einem Schaden i. H. v 10.000 EUR führt dazu, dass die EUStA in diesen Konstellationen eigentlich innerhalb von fünf Tagen (Art. 27 Abs. 1 EUStA-VO) eine Entscheidung darüber treffen muss, ob sie von ihrem Evokationsrecht Gebrauch machen will.

Im Fall der Übernahmen des konkreten Verfahrens ist zu erwarten, dass wegen der eingeschränkten Personalkapazitäten die Fortführung insbesondere der Ermittlungsverfahren wegen „kleinerer“ Zollstraftaten (ab einem Hinterziehungsvolumen von 10.000 EUR) zurückgestellt und damit wesentlich verzögert werden, was erheblich gegen das Beschleunigungsgebot verstößt. Die Durchführung dieser Ermittlungsverfahren innerhalb eines angemessenen Zeitraums wäre allein aus Kapazitätsgründen nicht umsetzbar.

Im Übrigen ist davon auszugehen, dass die Qualität der Ermittlungen erheblich leiden wird. Es ist zu besorgen, dass die Delegierten Europäischen Staatsanwälte in Anbetracht der zu erwartenden Anzahl an Ermittlungsverfahren ihre Funktion als Leiter und Herren des Ermittlungsverfahrens nicht sachgerecht wahrnehmen können. Aus Sicht des mit einem laufenden steuerstrafrechtlichen Ermittlungsverfahren belasteten Beschuldigten ist dies ein nicht hinnehmbarer Zustand. Aus Sicht des mit der Einrichtung der EUStA verfolgten Ziels der effektiveren Strafverfolgung ist dies ebenfalls kein erstrebenswerter Zustand.

b) Redundanz der Bußgeld- und Strafsachenstellen beim Hauptzollamt

Im Hinblick auf die bei den Hauptzollämtern eingerichteten Bußgeld- und Strafsachenstellen ist fraglich, ob hiermit faktisch eine Abschaffung dieser aus gutem Grund eingerichteten Stellen einhergeht. Würden alle zollstrafrechtlichen Ermittlungsverfahren bei Überschreiten der Schadensschwelle i. H. v. 10.000 EUR von der EUStA in eigener Zuständigkeit übernommen werden, verbliebe vermutlich nur noch ein Bruchteil der bislang von den Bußgeld- und Strafsachenstellen der Hauptzollämter geführten Ermittlungsverfahren bei ebendiesen. Davon ist auch dann auszugehen, wenn tatsächlich nur solche Fälle ab einem Schaden i. H. v. 100.000 EUR übernommen würden. Dies widerspräche allerdings nicht nur dem Sinn und Zweck des § 386 AO, sondern führte auch zu einem erheblichen Verlust von zollrechtlichem Know-how und Erfahrungswerten.

Der Umstand, dass die Staatsanwaltschaft (§ 161 StPO i. V. m. § 402 AO) wie auch die EUStA (Art. 28 Abs. 1 EUStA-VO) nach dem Übergang der Verfahrensherrschaft berechtigt sind, die Finanzbehörde um einzelne Ermittlungshandlungen zu ersuchen (vgl. hierzu Joecks/Jäger/Randt/Randt, AO, 9. Aufl., § 386 Rn. 43, beck-online), ändert daran nichts. Da die Ermittlungstätigkeit in der täglichen Praxis ohnehin bereits jetzt überwiegend durch die Steuerfahndung bzw. Zollfahndung als Hilfsorgan der Staatsanwaltschaft bzw. Finanzbehörde gestaltet und durchgeführt wird (MAH WirtschaftsStrafR/Bohnert/Szesny, 3. Aufl., § 33 Rn. 213, beck-online), ist nicht davon auszugehen, dass die Bußgeld- und Strafsachenstellen der Hauptzollämter im Rahmen ihrer unselbstständigen Ermittlungskompetenz tätig würden.

Die Zoll- und die Steuerfahndung haben im Strafverfahren wegen Steuerstraftaten dieselben Rechte und Pflichten wie die Behörden und Beamten des Polizeivollzugsdienstes nach den Vorschriften der StPO und handeln damit ebenso wie die Bußgeld- und Strafsachenstellen im Rahmen ihrer unselbstständigen Ermittlungstätigkeit als Hilfsorgan der Staatsanwaltschaft (Joecks/Jäger/Randt/Randt, a. a. O., § 386 Rn. 27, beck-online).

Im Bereich der Ermittlungen wegen einer Zollstraftat ergäbe sich nach Übernahme der Ermittlungen durch die EUStA kein Anlass mehr, die Bußgeld- und Strafsachenstellen der Hauptzollämter um einzelne Ermittlungshandlungen zu ersuchen, weil mit diesen Ermittlungshandlungen grundsätzlich die Zollfahndungsämter beauftragt würden und es sich bei den Zollfahndungsämtern anders als bei der Steuerfahndung in organisatorischer Hinsicht um eigenständige Behörden handelt (§ 6 Abs. 2 Nr. 5 AO; MAH WirtschaftsStrafR/Bohnert/Szesny, a. a. O., § 33 Rn. 219, 220, beck-online).

c) Widerspruch zu § 386 AO i. V. m. § 401 AO

Die Übernahme der zollstrafrechtlichen Ermittlungen durch die EUStA bei Überschreiten der o. g. Schadensschwellen widerspricht schließlich dem Wortlaut, dem Sinn und dem Zweck des § 386 AO.

Dem Wortlaut des § 386 AO entsprechend ermittelt bei dem Verdacht einer Steuerstraftat die Finanzbehörde den Sachverhalt. Finanzbehörde sind das Hauptzollamt, das Finanzamt, das Bundeszentralamt für Steuern und die Familienkasse. Nach § 386 Abs. 2 Nr. 1 AO führt die Finanzbehörde das Ermittlungsverfahren in den Grenzen des § 399 Abs. 1 und der §§ 400, 401 selbstständig durch, wenn die Tat ausschließlich eine Steuerstraftat darstellt. Maßgeblich ist insoweit insbesondere die Frage, ob die Sache zur Behandlung im Strafbefehlsverfahren geeignet erscheint, § 400 AO. Eine Beschränkung der eigenständigen Ermittlungskompetenz auf Steuer- bzw. Zollstraftaten bis zu einem Schaden i. H. v. max. 10.000 EUR ergibt sich daraus nicht, vielmehr kommt in tatsächlich und rechtlich einfach gelagerten Fällen eine Erledigung im Strafbefehlsverfahren auch bei einer Steuerhinterziehung in besonders schweren Fällen in Betracht (Joecks/Jäger/Randt/Webel, 9. Aufl. 2022, AO § 400 Rn. 8, beck-online).

Entgegen dem Wortlaut des § 386 AO i. V. m. § 400 AO ergäbe sich bei einem potenziellen Steuerschaden i. H. v. 10.000 EUR regelmäßig noch keine Veranlassung, die Ermittlungen auf die Staatsanwaltschaft bzw. EUStA zu übertragen. Der Abschluss einfach gelagerter bzw. summenmäßig kleiner Fälle wird dadurch in der Praxis erheblich erschwert, da der Delegierte Europäische Staatsanwalt ein dort geführtes Ermittlungsverfahren nicht ohne Vorlage an die Ständige Kammer einstellen kann, Art. 39 EUStA-VO i. V. m. § 3 Abs. 1 EUStAG; ein komplizierter und wiederum zeitintensiver Vorgang.

Eine Übernahme der zollstrafrechtlichen Ermittlungen durch die EUStA bei Überschreiten der o. g. Schadensschwelle widerspricht auch dem Sinn und Zweck des § 386 AO. Diese Regelung dient dem eigenverantwortlichen Einsatz der besonderen Sach- und Steuerrechtskunde der Finanzbehörde zugunsten einer zielsicheren Verfolgung von Steuerstraftaten, damit zugleich einer Straffung des Strafverfahrens i. S. d Prozessökonomie und nicht zuletzt einem weitgehenden Schutz des Steuergeheimnisses im Steuerstrafverfahren (Joecks/Jäger/Randt/Randt, 9. Aufl. 2022, AO § 386 Rn. 11, beck-online).

An der besonderen Sach- und Steuerrechtskunde, insbesondere des Zoll- und Zollstrafrechts, dürfte es bei den Delegierten Europäischen Staatsanwälten regelmäßig fehlen, was erwartungsgemäß zu Fehlgriffen oder Irrtümern bei der Strafverfolgung führen könnte. Eine effiziente Ahndung von Zollstraftaten wird dadurch entgegen dem Zweck des § 386 AO erschwert. Hinzu kommt, dass die Nutzung von Synergieeffekten bei Führung des Zollstrafverfahrens und des Zollverfahrens als Ausgangspunkt des Zollstrafverfahrens innerhalb einer Behörde verloren ginge.

5. Fazit/Ausblick

Sollte die EUStA ihrer bisherigen Praxis folgend jedenfalls weiterhin alle Verfahren wegen Zollstraftaten ab einem Schaden von 10.000 EUR inhaltlich sachgerecht prüfen, scheint der Kollaps des Systems „EUStA“ sicher.

Bereits vor diesem Hintergrund wäre es zielführend, wenn i. S. e. ressourcenschonenden Handelns eine „sinnvolle“ Erheblichkeitsschwelle für die Übernahme der Ermittlungen bei Zollstraftaten mit internationalem Bezug eingeführt werden würde. Berücksichtigt man im Vergleich hierzu die die sachliche Zuständigkeit begründende bzw. beschränkende gesonderte Regelung in Art. 22 Abs. 1 S. 2 EUStA-VO, wonach die EUStA bei Mehrwertsteuerhinterziehung nur zuständig ist, wenn die vorsätzlichen Handlungen oder Unterlassungen einen Gesamtschaden von mindestens 10 Mio. EUR umfassen, ergibt sich eindeutig Handlungsbedarf.

Tatsache ist, dass die EUStA weitreichendere Rechte hat als eine mitgliedsstaatliche Staatsanwaltschaft oder Bußgeld-und Strafsachenstelle, was das Schutzniveau des Beschuldigten beeinträchtigt. Der Delegierte Europäische Staatsanwalt kann z. B. ohne Rechtshilfeersuchen, den Europäischen Staatsanwalt (als sog. Unterstützender Europäischer Staatsanwalt) in einem anderen Mitgliedstaat bitten, einen Durchsuchungsbeschluss zu vollziehen. Aus Sicht des Betroffenen erscheint die „Anhebung“ der Erheblichkeitsschwelle zum Schutz des Rechts auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 2 GG) und des Rechts auf ein faires Verfahren (Art. 6 Abs. 1 EMRK/Art. 41 Abs. 1 EUStA-VO) zwingend. Dadurch würde dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Rechnung getragen, dem auch die EUStA unterliegt, siehe auch Art. 5 Abs. 1 EUStA-VO.

Die Existenzberechtigung der Bußgeld- und Strafsachenstellen bei den Zollbehörden scheint auch infrage gestellt.

Mit den zu erwartenden erheblichen Verfahrensverzögerungen stellt sich auch die bislang ungeklärte Frage nach einer Kompensation/Schadenersatz im Fall der unangemessen oder unverhältnismäßigen Verfahrensdauer.

Weiterführende Hinweise
  • Krause-Ablaß, Tätigkeit der Europäischen Staatsanwaltschaft PStR 22, 231.
  • Schützeberg, BGH entscheidet: kein Gold für die EUStA PStR 24, 269.

AUSGABE: PStR 8/2025, S. 179 · ID: 50365297

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