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AbstammungGene lügen nicht oder Anforderungen an ein Abstammungsgutachten
| Der BGH hat dazu Stellung genommen, unter welchen Voraussetzungen trotz Vorliegens eines Abstammungsgutachtens ein weiteres nach § 1598a BGB eingeholt werden kann. |
Sachverhalt
Der Antragsteller V ist deutscher Staatsangehöriger, der 1998 geborene Antragsgegner S und seine Mutter M haben die ungarische Staatsangehörigkeit und seit der Geburt des S dort ihren gewöhnlichen Aufenthalt. Nach Einholung eines Abstammungsgutachtens des gerichtsmedizinischen Instituts Budapest, das aufgrund von DNA-Untersuchungen die Vaterschaft des V mit einer Wahrscheinlichkeit von 99,9969878 Prozent als praktisch erwiesen angesehen hatte, wurde mit Urteil des ungarischen Gerichts die Vaterschaft des V rechtskräftig festgestellt und der V verpflichtet, Kindesunterhalt zu zahlen. V hat beim AG erfolgreich beantragt, die Zustimmung von M und S in eine genetische Abstammungsuntersuchung gerichtlich zu ersetzen und sie zu verpflichten, die Entnahme einer Speichelprobe zu dulden, da das Gutachten mangelhaft sei und weder den damaligen noch den heutigen wissenschaftlichen Standards entspreche. Auf die Beschwerde von M und S hat das OLG den Beschluss abgeändert und den Antrag zurückgewiesen. Diese Entscheidung hat der Senat durch Beschluss aufgehoben und die Sache an das OLG zurückverwiesen (10.7.19, XII ZB 33/18, FamRZ 19, 1543), das nach einer Beweisaufnahme erneut den amtsgerichtlichen Beschluss abgeändert und den Antrag abgewiesen hat. Dagegen wendet sich der V erfolglos mit seiner Rechtsbeschwerde.
Leitsatz: BGH 17.11.21, XII ZB 117/21 | 
Für die Frage, ob es bei einem bereits vorliegenden Abstammungsgutachten an einer den Anspruch aus § 1598a BGB ausschließenden ausreichend sicheren naturwissenschaftlichen Klärung fehlt, sind formale Kriterien der Gutachtenserstattung wie etwa die Akkreditierung des Labors nur maßgeblich, wenn ihre Nichterfüllung der Begutachtung die Verlässlichkeit nimmt und daher einer objektiven Gewissheit der Abstammung entgegensteht (Abruf-Nr. 227181).  | 
Entscheidungsgründe
Dem V steht kein Anspruch aus § 1598a BGB zu, weil die tatrichterliche Würdigung rechtsfehlerfrei ist, dass die Abstammung des S vom V durch das ungarische Abstammungsgutachten geklärt ist. Nach § 1598a Abs. 1 S. 1 BGB können Vater, Mutter und Kind voneinander verlangen, in eine genetische Abstammungsuntersuchung einzuwilligen und die Entnahme einer für die Untersuchung geeigneten genetischen Probe zu dulden, um die leibliche Abstammung des Kindes zu klären. Gem. § 1598a Abs. 2 BGB muss das Familiengericht auf Antrag eines Berechtigten eine nicht erteilte Einwilligung ersetzen und die Duldung einer Probeentnahme anordnen. Nach der Rechtsprechung des Senats setzt der Anspruch aus § 1598a Abs. 1 S. 1 BGB voraus, dass die leibliche Abstammung des Kindes nicht bereits durch ein Abstammungsgutachten geklärt ist. Eine solche Klärung liegt i. d. R. vor, wenn schon – etwa im Verfahren auf Bestehen oder Nichtbestehen eines Eltern-Kind-Verhältnisses oder auch als Folge des Anspruchs aus § 1598a Abs. 1 S. 1 BGB – ein Abstammungsgutachten eingeholt worden ist. Ausnahme: Es kann auch in diesem Fall ein Bedürfnis nach (weiterer) Klärung und damit ein Anspruch gem. § 1598a Abs. 1 S. 1 BGB gegeben sein.
- Ein solches Bedürfnis kann sich daraus ergeben, dass die Begutachtung fehlerhaft war und das Abstammungsgutachten daher nicht geeignet ist, dem Anspruchsinhaber die ausreichend sichere naturwissenschaftliche Gewissheit und damit Kenntnis der leiblichen Abstammung zu vermitteln.Weitere Klärung, wenn das Gutachten, fehlerhaft war ...
 - Es kann an einer Klärung i. S. d. § 1598a Abs. 1 BGB fehlen, wenn das Gutachten nur zu einem Grad der Gewissheit geführt hat, der geringer ist als derjenige, der nach aktuellen wissenschaftlichen Standards zu erreichen ist. Dies scheidet aber aus, wenn der im Gutachten ermittelte Wahrscheinlichkeitsgrad nach wie vor zur höchstmöglichen Wahrscheinlichkeitsstufe („Vaterschaft praktisch erwiesen“) führen würde (Senatsbeschlüsse vom 30.11.16, XII ZB 173/16, FamRZ 17, 219 Rn. 14 ff.; 10.7.19, XII ZB 33/18, FamRZ 19, 1543 Rn. 27).... oder der Grad der Gewissheit nicht aktuellen Standards entspricht
 
Das OLG ist zu folgendem richtigen Ergebnis gelangt: Der Wahrscheinlichkeitsgrad verliert seine wissenschaftliche Aussagekraft nicht durch Fehler beim Erstellen des Gutachtens, wozu auch die Entnahme und Analyse der Proben gehören (diese Möglichkeit verkennend Schwonberg, FamRZ 19, 1546, 1547).
Erfolglos bleibt die Rüge, dass das ungarische Abstammungsgutachten nicht alle Anforderungen der am 26.7.12 in Kraft getretenen Richtlinie der Gendiagnostik-Kommission (BGBl. 13, 169 ff.; im Folgenden: Richtlinie 2012) und des im Wesentlichen am 1.2.10, hinsichtlich der Bestimmung zur Qualitätssicherung genetischer Analysen am 1.2.11 in Kraft getretenen Gesetzes über genetische Untersuchungen bei Menschen vom 31.7.09 (Gendiagnostikgesetz – GenDG; BGBl. I, 2529) bzw. der von der Bundesärztekammer 2002 veröffentlichten Richtlinie für die Erstattung von Abstammungsgutachten (Deutsches Ärzteblatt 02, A-665 ff.; im Folgenden: Richtlinie 2002) erfülle. Diese – überwiegend nach dem Gutachten datierenden – Regelwerke gelten für die ungarische Gutachtenspraxis nicht. Zudem folgt dies aus der Zielrichtung des § 1598a BGB, der nur greift, wenn eine ausreichend sichere naturwissenschaftliche Klärung fehlt. Hierfür sind jedoch formale Kriterien wie etwa die von § 5 GenDG normierte Akkreditierung des Labors nur im folgenden Fall maßgeblich: Dadurch, dass sie nicht erfüllt sind, fehlt der Begutachtung die Verlässlichkeit und steht einer objektiven Gewissheit der Abstammung entgegen. Dies ist hier nicht der Fall.
Damit wird den genannten Regelwerken nicht die Bedeutung für Abstammungsgutachten in Deutschland, um die es hier nicht geht, abgesprochen.
Das OLG hat zu Recht die ausreichend sichere naturwissenschaftliche Gewissheit bejaht, obwohl im Abstammungsgutachten nur acht statt der in der Richtlinie 2002 (dort 2.4.2.1) geforderten zwölf und in der Richtlinie 2012 geforderten (dort 7.2.1) 15 STR-Systeme untersucht wurden. Die Richtlinien gelten für das ungarische Gutachten nicht. Der Sachverständige hat bestätigt, dass der auf dieser Grundlage im Abstammungsgutachten ermittelte W-Wert von 99,996 Prozent zutreffend – und nach seinen eigenen Berechnungen geringfügig zu niedrig – sei. Dem hat die Rechtsbeschwerde nichts entgegenzusetzen. Dass der Sachverständige eigene Berechnungen angestellt hat, war hier erforderlich, um die Validität des im Abstammungsgutachten ausgewiesenen Werts zu untersuchen.
Der Sachverständige hat auch die AVACH (sog. Allgemeine Vaterschafts-Ausschließungs-Chance) errechnet, die sich aus der Verwendung der acht STR-Systeme ergab. Obwohl diese mit 99,97 Prozent nicht den Wert erreichte, der in den Richtlinien 2002 genannt ist (2.4.2: 99,99 Prozent), hat er den im Gutachten ausgewiesenen W-Wert bestätigt, wonach der V mit einer Wahrscheinlichkeit von 99,996 Prozent – also bei einer Fehlerwahrscheinlichkeit von 1:25.000 – der Vater des S ist. Diese übersteigt den W-Wert von 99,9 Prozent, der einer Fehlerwahrscheinlichkeit von 1:1.000 entspricht und ab dem selbst nach der Richtlinie 2012 (dort 9.5) die „Vaterschaft praktisch erwiesen“ ist, um ein Vielfaches. Damit unterliegt keinem Zweifel, dass die Abstammung durch das in Ungarn erstellte Gutachten naturwissenschaftlich ausreichend sicher geklärt ist.
Die Richtigkeit dieses Ergebnisses wird schließlich nicht dadurch infrage gestellt, dass die AVACH im Abstammungsgutachten nicht genannt ist. Dabei kann dahinstehen, dass die Rüge der Rechtsbeschwerde, die Angabe sei schon nach der (wiederum: für Ungarn nicht anwendbaren) Richtlinie 2002 verpflichtend gewesen, weder von ihrem Text noch von dem der Richtlinie 2012 getragen wird, weil diese nur das Vorliegen, nicht aber die Nennung eines (Mindest-)Werts verlangen (vgl. Richtlinie 2002 unter 2.4.2. bzw. Richtlinie 2012 unter 6.1 und 9.7). Maßgeblich für die Abstammungsklärung ist der W-Wert und dessen durch den gerichtlichen Sachverständigen bestätigte inhaltliche Richtigkeit.
Relevanz für die Praxis
Im ersten Aufgalopp hat der BGH Folgendes klargestellt: Für die Frage, welches internationale Recht für eine Abstammungsklärung gem. § 1598a BGB anzuwenden ist, wenn schon eine Vaterschaftsfeststellung im statusrechtlichen Sinn außerhalb Deutschlands gegeben ist, richtet sich entsprechend Art. 19 EGBGB (BGH 10.7.19, XII ZB 33/18, FamRZ 19, 1543). Der Senat hat auch entschieden, dass die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte gegeben (§ 100, § 169 Nr. 2 FamFG), deutsches Recht anwendbar und das Klärungsbegehren nicht deshalb treuwidrig i. S. d. § 242 BGB ist, weil der V die Einwendungen gegen das Abstammungsgutachten nicht bereits im ungarischen Verfahren erhoben hat.
Im zweiten Aufguss des Verfahrens ging es nun um das im Ausland erstellte Abstammungsgutachten: Auch bei Auslandsbezug können nicht so lange Gutachten eingeholt werden, bis das Ergebnis passt:
Ein Gutachten, bei dem der ermittelte Wahrscheinlichkeitsgrad zur höchstmöglichen Wahrscheinlichkeitsstufe führt („Vaterschaft praktisch erwiesen“), reicht (BGH 30.11.16, XII ZB 173/16, FamRZ 17, 219 Rn. 14; 10.7.19, XII ZB 33/18, FamRZ 19, 1543 Rn. 27).
AUSGABE: FK 4/2022, S. 60 · ID: 47986790