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ArzthaftungWie weit reicht der „Anscheinsbeweis“ im Arzthaftungsprozess? – Drei aktuelle Urteile
| Wenn Patienten Arzthaftungsansprüche geltend machen und Klagen erheben, berufen sie sich in der Begründung oft auf den „Anscheinsbeweis“. Dass dieser aber nicht zulasten der Behandlerseite uferlos ausgedehnt werden kann, hat das Oberlandesgericht (OLG) Dresden in drei Entscheidungen klargestellt, die auch Chefärzte kennen sollten. |
Die (oft) entscheidende Frage: Wer trägt die Beweislast?
Wer in einem Prozess die Beweislast trägt – also entweder der Patient oder der Arzt bzw. die Klinik –, muss den Beweis führen, zum Beispiel durch Zeugen oder Sachverständigengutachten. Gelingt dies nicht, verliert die beweisbelastete Partei den Prozess und die Gegenseite gewinnt.
Die Frage, welche Partei die Beweislast trägt, entscheidet häufig über den Ausgang eines Arzthaftungsprozesses. Grund: Vorgänge im menschlichen Körper und insbesondere hypothetische Kausalverläufe lassen sich im Nachhinein vom medizinischen Sachverständigen kaum sicher beurteilen. Wenn zum Beispiel der Gutachter nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit sagen kann, ob bei früherer Intervention oder bei richtiger Diagnostik die Behandlung erfolgreicher verlaufen und der Patient nicht geschädigt worden wäre, geht dies zulasten der beweisbelasteten Prozesspartei.
OLG Dresden weist Anscheinsbeweisvortrag der Patientenseite in drei Fällen zurück
Grundsätzlich muss der Patient das Vorliegen eines Behandlungsfehlers sowie dessen Ursächlichkeit für den eingetretenen Schaden beweisen. Insbesondere der Kausalitätszusammenhang ist jedoch manchmal schwer nachweisbar. In solchen Fällen wird von Patientenseite in Prozessen häufig sinngemäß vorgetragen: „Es ist eine Komplikation eingetreten. Das muss auf einen ärztlichen Fehler zurückzuführen sein.“ Dem ist das OLG Dresden in drei aktuellen Entscheidungen entgegengetreten.
1. Schlechter Zustand des Stents zwei Jahre nach OP lässt nicht auf einen Behandlungsfehler schließen
Bei dem Patienten war eine endovaskuläre Stentimplantation vorgenommen worden. Nachfolgend kam es zu einer Durchblutungsstörung des Rückenmarks. Die Patientenseite argumentierte im Prozess dahin gehend, dass von dem im Jahre 2018 festgestellten schlechten Zustand des Stents auf einen Behandlungsfehler beim Einsatzes des Stents im Jahre 2016 zu schließen sei. Dies verneinte das Gericht jedoch. Die Richter betonten in den Entscheidungsgründen, dass es keinen allgemeinen medizinischen Erfahrungssatz gebe, wonach der Eintritt einer Komplikation auf einen ärztlichen Fehler zurückzuführen sei. Ein solcher Anscheinsbeweis sei im Arzthaftungsbereich selten und nur dann in Betracht zu ziehen, wenn konkrete Anhaltspunkte für einen Fehler als mögliche Ursache einer Komplikation sprächen. Nach dem eingeholten Sachverständigengutachten sei im dortigen Fall weder aufgrund des eingesetzten Materials noch aufgrund der Durchführung der Operation ein Behandlungsfehler ersichtlich (OLG Dresden, Beschluss vom 13.09.2022, Az. 4 U 583/22).
2. Dislokation des Knochenfragments nach Osteosynthese ist kein Beweis für einen Behandlungsfehler bei der OP
Bei einem Sportunfall hatte der Patient eine Unterschenkelfraktur erlitten, die in der Klinik mit einer Nagelosteosynthese operativ versorgt werden musste. Intraoperativ wurde eine Bildwandlerkontrolle durchgeführt, die eine unauffällige Beinachse und eine ausreichende Knochenfragmentstellung ergab. Bei der postoperativen Röntgenkontrolle am Folgetag jedoch zeigte sich eine Dislokation ad latus vom proximalen Fragment der Tibia. Der Vorwurf der Patientenseite: Die operative Versorgung sei nicht lege artis erfolgt. Das Gericht hingegen erachtete die Behandlung nicht als fehlerhaft. Die Richter ließen dabei keinen Anscheinsbeweis zugunsten der Patientenseite gelten: Allein der Eintritt eines Gesundheitsschadens erlaube keinen Rückschluss auf einen Behandlungsfehler. Auch der Umstand, dass die Dislokation mit großer Wahrscheinlichkeit intraoperativ aufgetreten sei, lasse nicht darauf schließen, dass die Behandler die Reposition intraoperativ fehlerhaft nicht erkannt hätten (OLG Dresden, Beschluss vom 18.04.2024, Az. 4 U 2001/23).
3. Defekt und Wechsel des Beatmungsgeräts ist keine erwiesene Ursache für Tod des Patienten
Der Patient litt seit seiner Geburt an einem offenen Rücken, war katheterisiert und an den Rollstuhl gebunden. Während einer Physiotherapie musste der Notarzt gerufen und der Patient per Rettungswagen wegen starker Luftnot in die Klinik transportiert werden. Dort konnte zunächst eine Stabilisierung der pulmonalen Situation erreicht werden. Im Verlaufe der stationären Behandlung kam es dann zu einem Defekt des eingesetzten Beatmungsgeräts, welches ersetzt wurde. Schließlich verstarb der Patient. Im Prozess wurde das Behandlungsmanagement im Zusammenhang mit der Handhabung und dem Wechsel des Beatmungsgeräts gerügt. Der im Verfahren beauftragte medizinische Sachverständige konnte keine ärztlichen Fehler erkennen. Das Gericht beurteilte das Gutachten als nachvollziehbar begründet und frei von Widersprüchen. Insofern die Klägerseite im Prozess eine Kausalität zwischen dem Wechsel des Beatmungsgeräts und dem Zustand des Patienten mutmaßte, ließ das OLG dies nicht gelten. Eine solche Mutmaßung liefe auf die Annahme eines Anscheinsbeweises hinaus, der im Arzthaftungsrecht nur unter besonderen Voraussetzungen angenommen werden könne (OLG Dresden, Beschluss vom 22.04.2024, Az. 4 U 1984/23).
Fazit | Die Entscheidungen des OLG Dresden bieten eine differenzierte Betrachtung des fraglichen Nachweises eines Behandlungsfehlers im Arzthaftungsprozess. Allein der Eintritt eines Gesundheitsschadens beim Patienten lässt nicht auf einen ärztlichen Fehler schließen. Ein möglicher Vorwurf von Patientenseite – „Wenn eine Komplikation eintritt, muss vorher ärztlicherseits etwas schiefgelaufen sein.“ – hat damit keine rechtliche Grundlage. |
AUSGABE: CB 9/2024, S. 16 · ID: 50128241