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Digitalisierung im deutschen Mittelstand, Teil 3Digitaler Wandel in KMU: Praxisbeispiele und kritische Erfolgsfaktoren
| Für den Mittelstand, den Motor des deutschen Unternehmertums, ist die Digitalisierung zunehmend die Basis für das zukünftige Überleben. Auch wenn es kein allgemeingültiges Erfolgsrezept für den Umgang mit der Digitalisierung gibt, so lassen sich doch einige kritische Erfolgsfaktoren identifizieren. |
1. Drei Beispiele aus der Praxis
1.1 Digitalisierung des Werkzeugbereichs – die Hoffmann Group
Die Hoffmann Group blickt auf eine über 100-jährige Unternehmensgeschichte zurück. In der Anfangszeit konzentrierte sich das Unternehmen auf den Vertrieb von technischen Produkten wie z. B. Schweißanlagen, Automobilzubehör oder später Werkzeuge und Kleinmaschinen. Die Produktpalette wurde schnell erweitert, sodass das Unternehmen in den 1970er-Jahren vom reinen Händler zum Hersteller von Industrieprodukten wurde. Bereits vor einigen Jahren hat die Hoffmann Group damit begonnen, ihre Aktivitäten im Rahmen einer Digitalisierungsstrategie auszurichten. Meilensteine daraus sind:
- 2017 übernahm die Hoffmann Group das deutsche Start-up Contorion – eine Online-Plattform für Handwerks- und Industriebedarf. Die Investition sollte einerseits zur Internationalisierung der Gruppe beitragen und andererseits das traditionell geprägte Geschäftsmodell um innovative digitalisierte Lösungen ergänzen.
- 2018 investierte die Hoffmann Group über 200 Mio. EUR in die Errichtung eines globalen Zentrallagers und hochautomatisierten Logistikzentrums. Ziel des digital vernetzten Logistikzentrums ist u. a., die in der Branche einmalige 99%ige Lieferfähigkeit weiterhin garantieren zu können.
- Weitere Investitionen flossen in den Aufbau eigener Kompetenzen im Bereich Industrie 4.0. Die Hoffmann Group baute ein eigenes Team von Softwarespezialisten auf, um praxistaugliche digitale Lösungen rund um die Fertigungsprozesse und -organisation zu entwickeln. Dabei haben Kunden die Möglichkeit, mit verschiedenen Modulen von Connected Tools wieKompetenzen im Bereich Industrie 4.0
- Connected Data (Direktimport von Daten im gewünschten Datenformat),
- Connected Manufacturing (digitale Verwaltung von Werkzeugen in Echtzeit, inkl. Möglichkeit der Maschineneinbindung) und
- Connected Metrology (Erfassung, Verwaltung und Austausch von Messdaten)
- ihre (Fertigungs-)Prozesse in eine digitale Welt zu überführen. Zusätzlich zu den Softwarelösungen entwickelt das Unternehmen selbst hochmoderne bluetoothfähige Werkzeuge, die Teil der Digital Connected Tools-Lösungen sind. Darüber hinaus steht eine App zur Dokumentation und Datenübertragung zur Verfügung. In den Jahren 2021 und 2022 wurde die Hoffmann Group für ihre digitalen Innovationen mit dem German Innovation Award bzw. dem German Design Award ausgezeichnet.
- Im Jahr 2022 ging die Hoffmann Group noch einen Schritt weiter und eröffnete ein eigenständiges digitales Ökosystem für Kunden, in dem nicht nur ihre eigenen digitalen Angebote, sondern auch smarte Apps und Lösungen von Drittanbietern zur Verfügung stehen. Diese können in den individuell konfigurierten Account integriert werden. Der Vorteil des Hoffmann Group Go Digital Store ist, dass Digitalisierungsvorhaben im Gesamt-Lifecycle der Prozesse auch für KMU ermöglicht werden, die aufgrund begrenzter Ressourcen nicht die Zeit und die finanziellen Mittel für eine Eigenentwicklung aufbringen können. Ein weiterer Vorteil ist, dass die Unternehmen über den Store mit aktuellen Trends und vielversprechenden Start-ups zusammengebracht werden können.Eigenständiges digitales Ökosystem für Kunden
1.2 Vorreiter im Bereich Smart Building – GEZE GmbH
Die heutige GEZE GmbH wurde im Jahr 1863 als Zusammenschluss von zwei deutschen Handwerksbetrieben gegründet. Zunächst konzentrierte sich das Unternehmen auf Baubeschläge und Eisenwaren, später auf Skibindungen, Türschließer und Fensterlösungen. Aus dem Handwerksbetrieb hat sich ein international agierendes Technologieunternehmen für innovative Gebäudelösungen rund um Fenster-, Tür- und Sicherheitssysteme sowie für Gebäudeautomation entwickelt. 2018 erhält das Unternehmen den German Brand Award für die herausragende Markteinführung seines innovativen Gebäudeautomationssystems Cockpit. Die Erfolge basieren auf dem kontinuierlichen Aufbau einer digitalen Infrastruktur sowie der Entwicklung smarter Softwareprodukte. Darüber hinaus spielt die umfassende Einbindung von Pilotkunden in alle Produktfeatures eine wesentliche Rolle bei der Entwicklung. Durch das agile und interaktive Vorgehen werden Fehler vermieden und die Entwicklungszeit bis zur Produkteinführung deutlich verkürzt.
Die Vorreiterrolle der GEZE GmbH wird deutlich, wenn man die bisherigen Aktivitäten des Bundes zur Digitalisierung des Bauwesens in der Wertschöpfungskette über den gesamten Lebenszyklus von Bauwerken, insbesondere im Bereich des Building Information Modeling (BIM), betrachtet. BIM ist eine Arbeitsmethode, bei der relevante Informationen und Daten digital modelliert, erfasst und zwischen allen Beteiligten ausgetauscht werden. Während das Nationale Zentrum für die Digitalisierung des Bauwesens erst Anfang 2020 gegründet wurde und erst im September 2021 seine erste Beiratssitzung abgehalten hat, hat sich die GEZE GmbH bereits seit Jahren mit den entsprechenden technologischen Möglichkeiten beschäftigt und im August 2020 ein Whitepaper zu BIM veröffentlicht, um Hintergrundwissen, Vorteile und praktische Anwendungsbeispiele zu vermitteln.
„Smart Building“ ist das Geschäftsfeld, in dem die GEZE GmbH in den kommenden Jahren ihr Geschäftsmodell ausbauen und sich einen Vorsprung im Markt sichern will. Dafür investierte sie rund 13 Mio. EUR in ein intelligentes Entwicklungszentrum. In diesem Smart Building sind alle Funktionen miteinander vernetzt und können sich in ihrem Zusammenspiel selbst optimieren.
1.3 Prozessdigitalisierung in einem Entsorgungsfachbetrieb – die Rakowski Dienstleistungen GmbH
Die Rakowski Dienstleistungen GmbH ging 1992 aus der zwei Jahre zuvor gegründeten Rakowski Dienstleistungen GbR in Sachsen-Anhalt hervor. Zu Beginn beschäftigte sich das Unternehmen hauptsächlich mit der Gebäudereinigung. Im Laufe der Zeit hat es sein Angebot kontinuierlich erweitert und bietet heute mit rund 110 Mitarbeitern einen umfassenden Reinigungs- und Entsorgungsservice sowie Baudienstleistungen und andere Industrieservices für Unternehmen und Kommunen an. Das vielfältige Angebot des Unternehmens, verschiedene Softwarelösungen, die unterschiedlichen Aufgaben der Mitarbeiter und die immer individuelleren Anforderungen der Kunden machten es schließlich notwendig, die Prozesse zu überarbeiten und eine digitale Lösung für die Abwicklung der täglichen Aufgaben zu finden.
Besonders wichtig war der Geschäftsleitung, dass die Prozesse stark vereinfacht werden und es nur noch eine Softwarelösung gibt. Die Belegerfassung sollte digital erfolgen können und die Tourenplanung übersichtlicher werden. Außerdem sollte eine zweifelsfreie Zuordnung der Belege zu den Vorgängen möglich sein und die Übermittlung der Belege in Echtzeit erfolgen. Weitere Kriterien, die das Unternehmen erfüllt sehen wollte, waren z. B. die Ausstattung der Fahrer mit mobiler Hardware, um die Kommunikation mit dem Büro jederzeit und reibungslos gewährleisten zu können. Nicht zuletzt sollten alle geltenden Datenschutzbestimmungen eingehalten werden, damit die Kundendaten stets mit der entsprechenden Sicherheit behandelt werden.
Das Digitalisierungsprojekt stellte die Rakowski Dienstleistungen GmbH zu Beginn vor eine große Herausforderung: Obwohl das Unternehmen verschiedene Lieferanten, Softwarefirmen und Hochschulen kontaktierte, konnte niemand die benötigte individuelle Softwarelösung anbieten. Daraufhin wandte sich das Unternehmen an die Handwerkskammer und gründete ein Konsortium. Mit Unterstützung der Handwerkskammer, der örtlichen Wasserzweckverbände und Softwareentwicklern konnte eine individuelle Softwarelösung erstellt werden. Das Digitalisierungsprojekt wurde mit der Einführung der Software im Juli 2018 offiziell abgeschlossen:
- Mit der eingesetzten Hardware können alle notwendigen Daten und Analysen direkt beim Kunden vor Ort durchgeführt werden und die Papierbelege gehören der Vergangenheit an.
- Durch die Online-Verbindung mit dem Büro können die Außendienstmitarbeiter die Erledigung der Aufgaben sofort zurückmelden oder benötigte Informationen abrufen.
- Der Datenaustausch zwischen der Rakowski Dienstleistungen GmbH und den Wasserzweckverbänden ist durch eine direkte Verbindung über das Internetportal möglich und erspart den Mitarbeitern im Büro das mühsame Erfassen und Übertragen der Daten über verschiedene Softwareprogramme. Außerdem lassen sich durch die genutzte Software nun auch Auswertungen schnell und unkompliziert erstellen, die jederzeit einen zuverlässigen Überblick z. B. über den Auftragsstand und die Erledigungsquoten bieten.Überblick über Auftragsstand und Erledigungsquoten ist jederzeit gegeben
2. Erfolgsfaktoren für Unternehmen im digitalen Wandel
Die erfolgreichen Entwicklungen der Unternehmen zeigen, dass es kein allgemeingültiges Erfolgsrezept für den Umgang mit der Digitalisierung gibt. Dennoch lassen sich einige zentrale Punkte identifizieren, die deutsche Mittelständler beachten sollten.
2.1 Fokus auf die Nutzer legen
Jede digitale Veränderung wirkt sich auf die Nutzung und Anwendung eines Prozesses oder Produkts und damit automatisch auf den Nutzer aus. Nutzer können in diesem Szenario z. B. Kunden, Mitarbeiter oder Geschäftspartner sein. Wenn Produkte oder Dienstleistungen digitalisiert werden sollen, empfiehlt es sich immer, die Anpassungen durch die zukünftigen Nutzer testen und bewerten zu lassen. Dies hat z. B. die Rakowski Dienstleistungen GmbH umgesetzt, indem sie Soft- und Hardware individuell an die Bedürfnisse ihrer Mitarbeiter anpassen ließ. Die GEZE GmbH hat bei der Entwicklung ihres Gebäudeautomationssystems Cockpit bereits vor der Fertigstellung der Produktfeatures Pilotkunden eingesetzt, um die Anforderungen der Nutzer vollständig zu erfüllen. Dabei wurden nicht nur Endkunden, sondern auch Architekten, Planer, Verarbeiter und Bauherren einbezogen, um Fehler und zeitaufwendige Korrekturen nach der Markteinführung zu minimieren.
2.2 Know-how aufbauen oder einkaufen
Das Wissen um digitale Geschäftsmodelle, Schnittstellen und agile Arbeitsweisen ist heute nahezu unverzichtbarer Bestandteil der digitalen Entwicklung und damit ein Stück Zukunftssicherung. Dieses Wissen lässt sich jedoch selten aus dem Stand heraus aufbauen. Für Unternehmen, die schon vor Jahren den Blick weit in die Zukunft gerichtet und in die digitale Aus- und Weiterbildung ihrer Mitarbeiter investiert haben, ist das heute kein Problem. Andere Unternehmen hingegen müssen jetzt schnell Know-how aufbauen.
Die Hoffmann Group hat dies beispielsweise durch die Übernahme eines digitalen Start-ups getan. Durch die Integration von Contorion konnte zum einen das Geschäftsmodell um eine Online-Handelsplattform ergänzt werden. Zum anderen wurde das vorhandene Know-how der Start-up-Gründer in der eigenen Innovationsabteilung gebündelt und kommt so dem Unternehmen zugute. Einen anderen Weg hat die Rakowski Dienstleistungen GmbH beschritten, indem sie das fehlende Know-how durch den Einkauf von Berater- und Entwicklerleistungen kompensiert hat. Die Verträge wurden so gestaltet, dass sowohl Wartung als auch Supportleistungen im Leasingpreis enthalten sind und somit kein eigenes Fachpersonal im Unternehmen vorgehalten werden muss.
Beachten Sie | Im Fall der Rakowski Dienstleistungen GmbH war diese Variante kostenmäßig günstiger. Bei anderen Unternehmen kann dies anders aussehen. Hier muss genau kalkuliert werden, welche Variante sinnvoller ist.
2.3 Angebotspalette und Netzwerke digitalisieren und verknüpfen
Neben dem digitalen Know-how der Contorion-Gründer hat auch der Onlinehandel Einzug in das bisher traditionelle Geschäftsmodell der Hoffmann Group gehalten. Zusätzlich zum Online-Vertrieb setzt das Unternehmen vor allem auf eine schnelle und zuverlässige Lieferfähigkeit, indem das Lager digital vernetzt wurde, um Bestellungen schnell abzuwickeln und die Produkte direkt versandfertig zu machen. Das Unternehmen ging sogar noch einen Schritt weiter und entwickelte nicht nur seine digitalen Vertriebskanäle, sondern innovierte seine Produktpalette durch vernetzte und durch Apps steuerbare Tools. Doch auch dies stellt keineswegs das Ende der Digitalisierungsreise der Hoffmann Group dar.
Mit dem Go Digital Store bietet die Hoffmann Group auch anderen Unternehmen die Möglichkeit, ihre Softwaretools anzubieten. Damit wird eine Plattform zur Kontaktaufnahme zwischen Nutzern und Anbietern geschaffen und diese mit dem Fokus auf die Digitalisierung von Fertigungs- und Prozessabläufen in der metallverarbeitenden Industrie vorangetrieben. Die Hoffmann Group fungiert dabei als Vermittler und konnte sich so eine weitere digitale Einnahmequelle sichern. Mit dieser Plattform wird ein einzigartiges Netzwerk geschaffen, das es auch anderen kleinen und mittelständischen Unternehmen ermöglicht, ihre Produktion und Organisation zu digitalisieren, ohne große Investitionen tätigen und tiefgehende IT-Kenntnisse erwerben zu müssen.
Die GEZE GmbH wiederum setzt vor allem auf die Digitalisierung und Vernetzung ihrer eigenen Produkte. Die Elemente ihrer Sicherheitssysteme lassen sich digital miteinander vernetzen und über das Steuerungselement Cockpit als modulares System schnell und einfach bedienen.
Zum Autor | Prof. Dr. Markus H. Dahm lehrt und forscht an der FOM Hochschule für Oekonomie & Management in Hamburg und ist Organisations- und Strategieberater für digitale Transformation im Mittelstand.
AUSGABE: BBP 12/2024, S. 334 · ID: 49986898