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VertragsarztrechtRisse in der Mauer: Dresdener Sozialgericht hält EBM-Prüfzeiten für nicht nachvollziehbar
| Ein jüngeres Urteil des Sozialgerichts (SG) Dresden lässt aufhorchen. Es gab einer Ärztin recht, die sich in einer Plausibilitätsprüfung mit dem Argument verteidigt hatte, die Prüfzeiten des EBM dürften mangels Nachvollziehbarkeit nicht zur Grundlage von Honorarrückforderungen gemacht werden (Urteil vom 07.09.2022, Az. S 25 KA 173/17)! |
Inhaltsverzeichnis
Sachverhalt
Die KV Sachsen hatte von einer Neurologin und Psychiaterin vertragsärztliches Honorar der Quartale III/2012 bis IV/2014 in Höhe von rund 210.000 Euro aufgrund einer Plausibilitätsprüfung zurückgefordert. Der Vorwurf der KV: Die Ärztin habe bei Betrachtung des Zeitaufwands für die von ihr abgerechneten Leistungen mehr als die höchstzulässigen 780 Stunden im Quartal gearbeitet. Die Überschreitung ergäbe sich aus einer Addition der Zeitaufwände für die nervenärztlichen Grundpauschalen (17, 19 oder 20 Minuten pro abgerechneter Gebührenordnungsposition – je nach Alter des Patienten), den psychiatrischen Gesprächen (11 Minuten) sowie den Zusatzpauschalen für die kontinuierliche Mitbetreuung eines Patienten in beschützenden Einrichtungen oder Pflege- und Altenheimen oder in häuslicher Umgebung (37 oder 30 Minuten – je nach Erkrankung). Konkrete einzelne Leistungen, die fehlerhaft abgerechnet worden sein könnten, identifiziert die KV nicht. Zu ihrer Verteidigung berief sich die Ärztin insbesondere darauf, die abgerechneten Leistungen in deutlich kürzerer Zeit erbracht zu haben.
Hintergrund |
Die Quartalsabrechnungen der vertragsärztlichen Leistungserbringer werden von der KV routinemäßig auf ihre Richtigkeit überprüft. Dazu benutzt die KV sogenannte Prüfzeiten. Diese sind in dem von der KBV und dem Spitzenverband Bund der Krankenkassen (GKV-Spitzenverband) im Bewertungsausschuss vereinbarten EBM hinterlegt. Aus der Addition der für die einzelnen Leistungen geltenden Prüfzeiten erstellt die KV Tages- und/oder Quartalszeitprofile. Zeigt ein Quartalszeitprofil mehr als 780 Stunden (das entspricht 12 Stunden pro Arbeitstag, ohne Samstage), so folgt eine vertiefte Überprüfung der Arztabrechnung dahingehend, ob sich diese Auffälligkeit irgendwie erklären lässt. Kann keine Erklärung gefunden werden, geht die KV von einer fehlerhaften Abrechnung aus und kürzt das Honorar nach Maßgabe der Zeitüberschreitung. |
Dreh- und Angelpunkt des Verfahrens sind die im EBM hinterlegten Prüfzeiten. Sie müssen so gestaltet sein, dass sie den zur Leistungserbringung erforderlichen Zeitaufwand des Vertragsarztes abbilden (§ 87 Abs. 2 Satz 1 SGB V). Wie der erforderliche Zeitaufwand zu ermitteln ist, wird vom Gesetz jedoch nicht weiter vorgegeben. Die in der Vergangenheit gegen die Prüfzeiten erhobene Kritik fehlender Nachvollziehbarkeit wurde von den Gerichten bislang nicht geteilt. Das Bundessozialgericht (BSG) beschränkt sich in ständiger Rechtsprechung auf eine Willkürkontrolle (so z. B. im Urteil vom 24.10.2018, Az. B 6 KA 42/17 R, in den Entscheidungsgründen unter Gliederungspunkt 2.a); beim BSG online unter iww.de/s7416). Insbesondere die Auffassung, es gäbe für die Prüfzeiten keine „Evidenz“, mache die Prüfzeiten nicht unwirksam.
Entscheidungsgründe
Umso erstaunlicher ist die Entscheidung des SG Dresden, die der Neurologin und Psychiaterin recht gab. Die Obliegenheit der Ärztin, das hohe Zeitprofil zu plausibilisieren, um sich vom Verdacht der Falschabrechnung zu entlasten, sei „faktisch unerfüllbar“, so das Gericht. Die zur Plausibilitätsprüfung herangezogenen Prüfzeiten des EBM seien nämlich „intransparent“ und unterlägen aufgrund der ihnen innewohnenden wirtschaftlichen Eigeninteressen des EBM-Gebers (also insbesondere der Krankenkassen) einer „Tendenz zur Verzerrung“. Die von der KBV zur Genese der Zeiten abgegebenen Erläuterungen würden mehr „verschleiern“ als aufklären. Die fehlende Validität und Falsifizierbarkeit führe gerade bei den Grundpauschalen zu Unschärfen der Zeitbestimmung, denn der Zeitanteil für die Erbringung des allein obligaten, zeitlich „nach unten offenen“ Arzt-Patienten-Kontakts (APK) falle in Relation zur Prüfzeit (zwischen 17 und 20 Minuten) gering aus. Hingegen lasse der breite fakultative Leistungsinhalt der Leistungslegenden eine so unterschiedliche zeitliche Ausgestaltung zu, dass kritisch geprüft werden müsse, ob die EBM-Prüfzeit tatsächlich den Zeitaufwand widerspiegelt, der in allen Arztpraxen, welche die Position abrechnen können, unabhängig vom individuellen Leistungsprofil und der jeweiligen Patientenklientel als notwendig unterstellt werden kann.
Folgen für hausärztliche Praxen
Das Urteil ist zwar zu einer neurologisch/psychiatrischen Praxis ergangen, lässt sich aber auf hausärztliche Praxen nahtlos übertragen. Auch die hausärztlichen Versichertenpauschalen sehen – bei Prüfzeiten zwischen 9 und 16 Minuten – als obligaten Leistungsinhalt lediglich den (kurativen) APK vor (sei es persönlich oder per Videosprechstunde) und enthalten als fakultativen Leistungsinhalt einen bunten Strauß ärztlicher Leistungen, angefangen von der „allgemeinen und fortgesetzten ärztlichen Betreuung eines Patienten in Diagnostik und Therapie bei Kenntnis seines häuslichen und familiären Umfelds“ bis hin zu den weit über hundert in Anhang 1 des EBM aufgezählten und in der Versichertenpauschale versenkten Einzelleistungen. Wie bei den neurologisch-psychiatrischen Grundpauschalen stellt sich deshalb die Frage, ob die EBM-Prüfzeit tatsächlich als „typische durchschnittliche Mindestzeit“ angesehen werden kann. Lässt sich dies in einem Gerichtsprozess nicht bestätigten, verliert – folgt man dem SG Dresden – nicht der Hausarzt, sondern die KV.
Fazit | Das Urteil des SG Dresden ist noch nicht rechtskräftig. Insofern bleibt zwar abzuwarten, wie das Landessozialgericht Chemnitz die Sache sieht und ob das Ganze dann noch vom BSG überprüft wird. Aber dass erstmals ein Gericht die in Fachkreisen schon lange erhobene Kritik hat durchschlagen lassen, dürfte zahlreichen Ärzten in ähnlicher Lage neue Hoffnung geben. |
Feedback | Haben Sie in Ihrer Praxis bereits Erfahrungen mit Pausibiltätsprüfungen und Prüfzeiten gemacht? Schildern Sie uns gerne Ihren Fall und erläutern Sie, welche Strategie hilfreich war. Senden Sie Ihre Nachricht an aaa@iww.de.
AUSGABE: AAA 1/2023, S. 12 · ID: 48960986