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ArbeitsunfähigkeitStreit mit Vorgesetzten über AU führt nicht stets zur Auflösung des Arbeitsverhältnisses

Abo-Inhalt24.03.20233844 Min. LesedauerVon Einsender der Entscheidung | RA Jochen Link, Anwaltskanzlei Brugger & Schießle, Villingen-Schwenningen

| Für einen Auflösungsantrag des ArbN nach § 9 Abs. 1 S. 1 KSchG müssen substanziierte und konkrete Tatsachen für die Umstände vorgetragen werden, aus denen sich nach Auffassung des ArbN die Unzumutbarkeit der Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses ergeben soll. |

Sachverhalt

Der 1973 geborene ArbN ist beim ArbG seit dem 1.9.20 als Lackierer gegen ein Bruttomonatsentgelt in Höhe von 3.342,13 EUR brutto tätig.

Im Juni 2021 erkrankte der ArbN für zehn Tage. Die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (AUB) übermittelte er an seinen Vorgesetzten am 15.6.21 per WhatsApp. Zudem meldete er sich am selben Tag telefonisch bei Herrn K, worauf dieser mitteilte: „Was ist das für ein Kindergarten. Wenn sich da nichts ändert, ändere ich was.“ Anschließend beendete Herr K das Telefonat. Nach Übermittlung der Krankmeldung sendete Herr K dem ArbN über WhatsApp folgende Mitteilung:

„Viel sag ich nicht dazu. Entweder du bist morgen da, und heutiger Vorfall wird geklärt, dann gehts weiter. Ansonsten – ist es erledigt. Diese Art und Weise wird nicht akzeptiert keinesfalls. Du hast alle Freiheiten, die du nie wieder wo hast! Aber auch für dich gibts Grenzen. Wenn dir der Job wichtig ist bist du morgen da – dann reden wir kein Problem. Und wenn mir in meiner Bude was nicht passt, sag ich dir das. Ob du danach eingeschnappt bist oder nicht ist dein Problem. Ihr kassiert hierfür schließlich Geld.“ Am 16.6.21 schrieb der ArbN: „Ich schaffe es heute gesundheit nicht vorbei zu kommen.“

Mit Schreiben vom 15.6.21 kündigte der ArbG das Arbeitsverhältnis fristgerecht ordentlich zum 13.7.21. Im Termin zur Güteverhandlung im August 2021 erklärte der ArbG die Rücknahme der Kündigung.

Mit Schriftsatz vom 3.9.21 erweiterte der ArbN seine Kündigungsschutzklage hinsichtlich eines Auflösungsantrags. Er trägt vor, Anlass der streitgegenständlichen Kündigung sei seine Krankmeldung gewesen. Ihm könne jedoch nicht zugemutet werden, im Falle künftiger Erkrankungen trotz Krankschreibung zur Arbeit zu erscheinen, solche Drohungen hinzunehmen und jedes Mal aufs Neue um seinen Arbeitsplatz bangen zu müssen. Zudem werde er an seinem Arbeitsplatz schikaniert. Deshalb würde die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses zu unerträglichen Bedingungen führen. Zudem habe er im Juli 2021 kein Arbeitsverhältnis begründet.

Der ArbG ist der Ansicht, dem ArbN sei die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses zumutbar. Greifbare Tatsachen für eine Unzumutbarkeit seien nicht vorgetragen worden. Zu keinem Zeitpunkt habe es Schikanen, Drohungen etc. gegenüber dem ArbN gegeben.

Zur Kündigung vom 15.6.21 sei es gekommen, weil der ArbG den Eindruck gehabt habe, der ArbN habe an dem Erhalt des Arbeitsplatzes kein Interesse mehr. Er sei unmotiviert, täglich unpünktlich und nachlässig gewesen. Deshalb habe es ständig Beschwerden der Kollegen gegeben. Mit seiner angedrohten und später auch nachgewiesenen Arbeitsunfähigkeit habe dies überhaupt nichts zu tun gehabt. Auch wenn er in der Nachschau erhebliche Bedenken an der Arbeitsunfähigkeit habe, sei der ArbN über den gesamten Zeitraum seiner „Arbeitsunfähigkeit“ entlohnt worden.

Der ArbN handele unredlich und rechtsmissbräuchlich, möglicherweise sogar strafrechtlich relevant, weil er neben seiner Lohnfortzahlung über 6 Wochen auch Lohn von seinem neuen ArbG oder von anderen Stellen erhalten habe. Das Arbeitsgericht hat am 14.12.21 unter Stattgabe der Kündigungsschutzklage den Auflösungsantrag des ArbN abgewiesen.

Entscheidungsgründe

Das LAG Baden-Württemberg (30.12.22, 17 Sa 11/22, Abruf-Nr. 234285) bestätigte das erstinstanzliche Urteil. Der Auflösungsantrag sei zulässig, jedoch unbegründet. Eine Auflösung des Arbeitsverhältnisses aufgrund eines gerichtlichen Urteils könne nur im Kündigungsschutzprozess erfolgen. Das KSchG sei anwendbar und die Kündigungsschutzklage unter Beachtung der Frist des § 4 Abs. 1 S. 1 KSchG rechtzeitig erhoben worden. Nach § 9 Abs. 1 S. 1 KSchG habe das Gericht auf Antrag des ArbN das Arbeitsverhältnis aufzulösen und den ArbG zur Zahlung einer angemessenen Abfindung zu verurteilen, wenn es feststelle, dass das Arbeitsverhältnis durch eine Kündigung nicht aufgelöst, dem ArbN jedoch die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses nicht zuzumuten sei.

Die Darlegungs- und Beweislast für die Tatsachen, aus denen sich die Unzumutbarkeit der Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses ergebe, trage der ArbN. Dazu müsse er konkrete, einer Beweiserhebung zugängliche Tatsachen darlegen. Pauschale Behauptungen und schlagwortartige Wendungen genügten nicht. Aus dem im Verfahren geltenden zivilprozessualen Verhandlungsgrundsatz folge, dass nur solche unstreitigen oder erwiesenen Tatsachen berücksichtigt werden dürften, die vom ArbN zur Begründung seines Auflösungsantrags vorgebracht worden seien. Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze könne das Arbeitsverhältnis nicht aufgelöst werden. Der ArbN habe die Gründe, die eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses nicht zumutbar erscheinen lassen, nicht hinreichend dargelegt.

Die vom ArbN dargelegte Äußerung seines Vorgesetzten Herrn K auf die telefonisch mitgeteilte Arbeitsunfähigkeit lasse zwar erkennen, dass dieser wenig bzw. kein Verständnis für die Erkrankung aufbringen könne. Diese Aussage müsse aber im Gesamtzusammenhang der Geschehnisse an diesem und dem Tag zuvor gesehen und bewertet werden. Solche Spannungsfelder träten im Arbeitsalltag in jedem Arbeitsverhältnis auf, könnten und müssten aber zwischen den Vertragspartnern angesprochen und geklärt werden können. Wie sich aus dem nachfolgenden WhatsApp-Verlauf ergebe, habe der ArbG diese Situation mit dem ArbN in einem Gespräch klären wollen, zu dem es letztlich nicht gekommen sei. Es zeige jedoch entgegen der Annahme des ArbN ein Interesse des ArbG an der Klärung der aufgekommenen Störung, weshalb hier ein schikanöses Verhalten nicht erkannt werden könne.

Vergleichbares gelte für die Erwiderung des Vorgesetzten nach Übersendung einer Ablichtung der AUB über WhatsApp. Die Kammer könne in der Nachricht von Herrn K keine Aufforderung dahingehend erkennen, der ArbN solle trotz bestehender Arbeitsunfähigkeit zur Arbeit erscheinen. Zwar fordere Herr K den ArbN in der Nachricht auf, am nächsten Tag im Betrieb zu erscheinen. Allerdings sollte dies ausdrücklich zum Zwecke der Klärung des Vorfalls vom Vortag geschehen. Es sei gerade nicht erkennbar, dass Herr K vom ArbN die Erbringung der Hauptleistungspflichten verlangte.

Auch könne die Kammer im Nachrichtentext keine Drohung mit dem Verlust des Arbeitsplatzes erkennen. Zwar verweise Herr K in der WhatsApp-Nachricht darauf, dass er das Verhalten des ArbN nicht akzeptieren werde. Allerdings führt er hierbei nicht aus, welche Konsequenzen ein Nichterscheinen zu dem erbetenen Gespräch haben werde. Aus den gewählten Formulierungen könne allenfalls die Ernsthaftigkeit, die Herr K der Situation beimesse, entnommen werden, nicht jedoch die Ankündigung eines konkreten Übels in der Form des Arbeitsplatzverlusts.

Soweit der ArbN behaupte, er sei bereits zuvor im Arbeitsverhältnis unter Druck gesetzt worden, um Mehrarbeitsleistung zu erreichen und habe sich abfälligen Bemerkungen ausgesetzt gesehen, habe das Arbeitsgericht bereits zutreffend ausgeführt, es sei nicht nachvollziehbar dargelegt worden, in welcher Art und Weise dies geschehen sei.

Dass der ArbG im Verlauf des gerichtlichen Verfahrens trotz Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung Bedenken am Vorliegen einer AU geäußert und auf strafrechtliche Konsequenzen hingewiesen habe, lasse die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses ebenfalls nicht als unzumutbar erscheinen. Das Äußern der Zweifel und der Hinweis auf strafrechtliche Konsequenzen sei insoweit sicherlich nicht geeignet, das Vertrauensverhältnis zwischen ArbG und ArbN zu verbessern. Es lasse jedoch umgekehrt auch nicht den Schluss zu, durch solche Zweifel sei eine vertrauensvolle Zusammenarbeit nicht mehr möglich bzw. dem ArbN nicht zumutbar. Der ArbG habe hier die Zweifel ja offen angesprochen und damit zu erkennen gegeben, dass er an der Aufklärung der Angelegenheit interessiert sei. Ebenso könne der ArbN hier offen auf diese Zweifel reagieren und sie mit geeignetem Vortrag aus der Welt schaffen. Eine nachhaltige Störung des Vertrauensverhältnisses müsse dadurch nicht entstehen, jedenfalls seien hier keine weiteren Anhaltspunkte für eine solche Störung ersichtlich.

Der ArbG habe den Vortrag des ArbN als „falsch, widersprüchlich, rechtsmissbräuchlich, unredlich und geradezu abenteuerlich und ohne Substanz“ bezeichnet. Er habe so mit eindringlichen und dabei scharfen Worten zum Ausdruck gebracht, dass er den Wahrheitsgehalt, insbesondere bezogen auf die behaupteten unerträglichen Bedingungen an seinem Arbeitsplatz, die Schikane und die Drohungen, bestreite. Einen Vortrag als „falsch“ zu bezeichnen, stelle eine sachliche Bemerkung zu der jeweiligen Rechtsposition dar – es liege in der Natur der Sache, dass bei einem Rechtsstreit zweier Parteien diese jeweils unterschiedliche Ansichten verträten und jeweils den eigenen Vortrag für richtig – und den des anderen für falsch – hielten. Für die Kammer sei in dieser Gesamtschau nicht festzustellen, dass der ArbG hier leichtfertig Tatsachenbehauptungen aufgestellt habe, deren Unhaltbarkeit auf der Hand liege. Seine rechtliche Bewertung der aufgestellten Behauptungen konnte insoweit ebenfalls nicht als leichtfertig angesehen werden.

Dies gelte auch für die Behauptung, der ArbN habe bereits seit Anfang Juli eine neue Beschäftigung aufgenommen. Unstreitig stehe er im Kontakt mit einem neuen ArbG, der ihn bereits bei der Sozialversicherung angemeldet habe. Ein gewisser äußerer Schein für den Wahrheitsgehalt dieser Behauptung sei damit gesetzt.

Relevanz für die Praxis

Nicht jede sozial ungerechtfertigte oder sonst unwirksame Kündigung trägt den Keim für einen wirksamen Auflösungsantrag nach § 9 Abs. 1 KSchG und damit die „Vergoldung“ des Abschieds durch Abfindung automatisch in sich.

Vielmehr muss ein konkreter und substanziierter Tatsachenvortrag dazu vorliegen, warum, nachdem der Streit über die Kündigung gerichtlich aus der Welt geschafft wurde, die weitere Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses „unzumutbar“ für den ArbN ist. Hier stellt das LAG Baden-Württemberg relativ hohe Hürden für den ArbN auf.

Checkliste / Der Auflösungsantrag

  • Der Auflösungsantrag ist eine Möglichkeit, das Arbeitsverhältnis im arbeitsgerichtlichen Verfahren trotz einer unwirksamen Kündigung gegen Zahlung einer Abfindung zu beenden.
  • Bei einer ordentlichen Kündigung können sowohl der ArbN als auch der ArbG einen Auflösungsantrag stellen.
  • Bei einer außerordentlichen Kündigung kann dies nur der ArbN.
  • § 9 Abs. 1 KSchG: Es müssen besondere Auflösungsgründe vorliegen
    • Auflösungsgründe für den ArbN: Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses ist nicht zuzumuten.
    • Auflösungsgründe für den ArbG: Eine den Betriebszwecken dienliche weitere Zusammenarbeit ist nicht mehr zu erwarten.
  • Der Antrag kann bis zum Schluss der letzten mündlichen Verhandlung in der Berufungsinstanz gestellt werden (§ 9 Abs. 1 S. 3 KSchG).
  • Nach einer Änderungskündigung kann ein Auflösungsantrag nur gestellt werden, wenn der ArbN das Änderungsangebot abgelehnt hat und damit faktisch eine Beendigungskündigung vorliegt.
  • Der Auflösungsantrag des ArbG = sogenannter echter Hilfsantrag.

AUSGABE: AA 4/2023, S. 57 · ID: 49252652

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