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BerufskrankheitBeruflich bedingte Polyneuropathie einer ZFA durch Intoxikation mit Quecksilber/Amalgam?
| Eine ehemalige ZFA versuchte erfolglos, die bei ihr bestehende Polyneuropathie als Berufskrankheit anerkennen zu lassen. Bis zur endgültigen Ablehnung ihres Ansinnens durch das Landessozialgericht (LSG) Berlin-Brandenburg (Urteil vom 21.01.2022, Az. L 21 U 69/16) vergingen 10 Jahre. Interessant ist das Urteil, weil sich das LSG hierin ausführlich mit den Voraussetzungen befasst, die zur Anerkennung einer Berufskrankheit bei einer Zahnmedizinischen Fachangestellten (ZFA) wegen des Umgangs mit Amalgam gegeben sein müssen. |
Der Fall
Die Klägerin, Jahrgang 1948, wurde in den Jahren 1965 bis 1967 zur Zahnarzthelferin ausgebildet. Von 1967 bis ins Jahr 1995 war sie – mit kurzer Unterbrechung – als Zahnarzthelferin beschäftigt. Seit Dezember 2010 bezieht sie eine Altersrente für Schwerbehinderte. Eine Fachärztin für Allgemeinmedizin diagnostizierte in einem Gutachten für die Deutsche Rentenversicherung ein chronisches lumbales Schmerzsyndrom, eine angeborene Sehminderung des linken Auges, arterielle Hypertonie, angegebenen Drehschwindel, Zustand nach Operation eines Borderline-Phylloid-Tumors der rechten Brust sowie eine Tricuspidalklappeninsuffizienz. Zudem diagnostizierte ein Facharzt für Neurologie eine Polyneuropathie unklarer Genese.
Im August 2012 zeigte die Klägerin den Verdacht auf Vorliegen einer Berufskrankheit bei der beklagten Umfallversicherung an. Zur Begründung gab sie an, dass sie langjährigen Kontakt mit Quecksilber und Amalgam gehabt habe und dies die Ursache ihrer Beschwerden sein könnte. Sie esse keine Meeresfrüchte und habe noch nie in ihrem Leben eine Amalgamfüllung erhalten. Es sei früher üblich gewesen, das Amalgam mit bloßen Fingern bzw. den Händen durchzuziehen und den Überschuss an Quecksilber auszuquetschen, dann in Form zu bringen und es auf einen Träger einzureichen. Sogenannte Amalgampistolen seien erst später benutzt worden, ebenso Einmalhandschuhe.
In einer beratungsärztlichen Stellungnahme kam ein Facharzt für Neurologie zu dem Ergebnis, dass sich kein begründeter Verdacht einer beruflich bedingten Polyneuropathie durch Intoxikation mit Quecksilber ergebe. Die Polyneuropathie bei der Klägerin sei gering ausgeprägt. Sie bedinge keinesfalls eine rentenberechtigende Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE), zumal das Gangbild und die erschwerten Gangproben unauffällig gewesen seien und keine manifesten Paresen vorlägen. Eine Quecksilberintoxikation sei nicht nachvollziehbar. Der Gewerbearzt (Arbeitsmediziner) des Landesamtes für Arbeitsschutz, Gesundheitsschutz und technische Sicherheit Berlin stimmte dieser Einschätzung zu.
Die beklagte Unfallversicherung lehnte daher die Feststellung einer Berufskrankheit nach Nr. 1102 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (sog. Berufskrankheitenliste, BK-Liste) im Wesentlichen mit der Begründung ab, dass sich kein begründeter Verdacht einer beruflich bedingten Polyneuropathie durch Intoxikation mit Quecksilber ergebe.
Gefahr einer Quecksilber-Exposition (Merkblatt BK 1102) |
Nach dem Merkblatt zur BK Nr. 1102 (Erkrankungen durch Quecksilber oder seine Verbindungen; Volltext unter voge.ly/vglZtCJ/) besteht die Gefahr einer Quecksilber-Exposition bei der Verwendung insbesondere dann, wenn Quecksilber verschüttet oder der farb- und geruchslose Quecksilberdampf oder quecksilberhaltige Staub eingeatmet wird. In geringem Umfang sei auch die Aufnahme über die Haut oder den Magen-Darm-Trakt möglich. Die hier allenfalls in Betracht kommende chronische Form der Erkrankung entstehe in der Regel durch langzeitige Aufnahme kleinster Quecksilber-Mengen. Das Krankheitsbild sei uncharakteristisch und unspezifisch, überwiegend jedoch durch Symptome seitens des zentralen Nervensystems gekennzeichnet. |
Nach erfolglosem Widerspruchsverfahren zog die ZFA Ende April 2015 vor das Sozialgericht Potsdam, um ihr Begehren gerichtlich durchzusetzen. Es wurden weitere Gutachten eingeholt, die allesamt nicht zu eindeutigen Ergebnissen hinsichtlich einer Ursächlichkeit kamen. Das Sozialgericht wies die Klage ab, worauf die Klägerin in Berufung ging.
Die Entscheidung des LSG
Das LSG führt in seiner Entscheidung aus, dass vorliegend nicht nachgewiesen sei, dass die Klägerin schädigenden Einwirkungen im Sinne der BK Nr. 1102 ausgesetzt war, die geeignet waren, eine Erkrankung hervorzurufen.
Die Aufnahme einer Krankheit in die Liste der Berufskrankheiten (BKV) erkenne nur die mögliche Ursächlichkeit einer beruflichen Schädigung an. Die Erkrankung als solche werde damit für entschädigungswürdig befunden. Im Einzelfall setze die Feststellung einer Berufskrankheit aber voraus, dass der Betroffene im Rahmen einer grundsätzlich versicherten Tätigkeit schädigenden Einwirkungen im Sinne der Berufskrankheit ausgesetzt war. Diese müssen geeignet sein, einen entsprechenden Gesundheitsschaden zu bewirken und eine Krankheit tatsächlich verursacht haben.
Dem Wortlaut der Berufskrankheit Nr. 1102 sei eine Quecksilber-Mindestbelastungsdosis nicht zu entnehmen. Aus dem Fehlen einer Angabe zum Grad der erforderlichen Einwirkungen könne aber nicht gefolgert werden, dass der Kontakt mit Quecksilber schlechthin ausreicht. Vielmehr habe der Verordnungsgeber bei der Formulierung der Berufskrankheiten-Tatbestände vielfach bewusst auf die Angabe konkreter Belastungsarten und Belastungsgrenzwerte verzichtet und stattdessen auslegungsbedürftige unbestimmte Rechtsbegriffe verwendet, um bei der späteren Rechtsanwendung Raum für die Berücksichtigung neuer, nach Erlass der Verordnung gewonnener und bekannt gewordener wissenschaftlicher Erkenntnisse zu lassen.
Zwar stehe für den Senat fest, dass die Klägerin im Rahmen ihrer Tätigkeit als Zahnarzthelferin ab 1965 inhalativen und dermalen Kontakt mit Quecksilber bei ihrem Umgang mit Amalgam hatte. Jedoch sei eine inhalative Belastung im Umfange des Arbeitsplatzgrenzwertes (AGW) von 20 µg/m³ als Schichtmittelwert nicht erreicht worden. Auch die zu erwartenden Kurzzeitbelastungen seien unterhalb des entsprechenden Kurzzeitwertes der Technischen Regel für Gefahrstoffe (TRGS) 900 mit 16 µg/m³ geblieben.
Quecksilber in Zahnarztpraxen vor und nach 1970
Aufgrund der Toxizität von Quecksilber wurden bereits sehr früh Untersuchungen zur Raumluftbelastung in Zahnarztpraxen durchgeführt und veröffentlicht. Diese belegten, dass in Praxen mit in den 1960er-Jahren üblichen Arbeitstechniken, wie Anmischen von Amalgam im Mörser und das Arbeiten ohne Trockenabsaugung und ohne Handschuhe, mittlere Raumluftkonzentrationen im Bereich von 10-50 µg Quecksilber/m³ auftraten.
Auf der Grundlage der wissenschaftlichen Diskussion zur Frage der Gefährdung von Mitarbeitern in Zahnarztpraxen durch Quecksilber sei laut LSG insofern davon auszugehen, dass in den Zahnarztpraxen in den alten Bundesländern bis ins Jahr 1970 eine Quecksilberbelastung für das Personal aufgetreten sein kann, die den seit 2012 durch die TRGS 900 festgelegten Arbeitsplatzgrenzwert (AGW) von 20 µg/m³ überschreitet.
Für die Jahre ab 1970 sei grundsätzlich davon auszugehen, dass durch verbesserte Arbeitstechniken, insbesondere der ausschließlichen Verwendung von Silberamalgam, von vordosierten Kapseln sowie des Einsatzes einer Trockenabsaugung beim Bearbeiten des Amalgams, der heutige AGW von 20 µg/m³, der eine tägliche Belastungsdauer von acht Stunden berücksichtigt, eingehalten wurde und damit eine Gesundheitsgefahr auszuschließen sei. Dies auch, weil das LSG keine Anhaltspunkte dafür gefunden hat, dass in den Zahnarztpraxen, in denen die Klägerin von 1970 an tätig war, Arbeitsbedingungen vorherrschten, die nicht den damals üblichen Arbeitsbedingungen in Zahnarztpraxen entsprachen und insofern Anhaltspunkte für ein Überschreiten des Grenzwertes vermitteln.
Auch der Sachverständige habe darauf hingewiesen, dass sich die Arbeitsbedingungen seit 1970 zunehmend veränderten durch z. B. die Verwendung von Mischapparaturen, die Verbesserung der Feilungszusammensetzung sowie den Einsatz von Trockenabsaugung. Die Messdaten zur Quecksilberbelastung in Zahnarztpraxen (BGW-Forschung) berücksichtigten dabei auch die Aufnahme über die Haut.
Das abschließende Ergebnis des Gerichts
Nach alledem gelangte das LSG nicht zu der Gewissheit, dass die Klägerin während ihrer Tätigkeit als Zahnarzthelferin schädigenden Quecksilberkonzentrationen ausgesetzt war. Aufgrund des fehlenden Nachweises beruflich relevanter Einwirkungen hat das LSG daher offengelassen, ob die Klägerin an Erkrankungen leidet, die durch Quecksilber hervorgerufen werden können.
AUSGABE: ZP 2/2023, S. 3 · ID: 48871399