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EinkommensteuerWann gelten der Veräußerungsfreibetrag und der ermäßigte Steuersatz als „verbraucht“?
| Der Freibetrag nach § 16 Abs. 4 EStG ist auch dann vollständig verbraucht, wenn er vom FA ohne Antrag des Steuerpflichtigen berücksichtigt wird und er dagegen nicht vorgeht. Kann der Steuerpflichtige indes die Berücksichtigung des nicht beantragten Freibetrags erst gar nicht erkennen, tritt keine Verbrauchswirkung ein (FG Köln 20.3.24, 9 K 926/22). Dieses Urteil ist von Bedeutung, weil es einerseits rein steuerlich und verfahrensrechtlich vorteilhaft sein, andererseits einen steuerlichen Berater aber vor Haftungsgefahren bewahren kann. |
1. Antragslose Gewährung durch das FA
Wer seinen Betrieb, Teilbetrieb oder Mitunternehmeranteil veräußert, kann für den Veräußerungsgewinn unter bestimmten Voraussetzungen einen Freibetrag und einen ermäßigten Steuersatz beantragen (§§ 16, 18, 34 Abs. 3 EStG). Der ermäßigte Steuersatz beträgt 56 % des durchschnittlichen Steuersatzes, mindestens 14 %. Diese Vergünstigungen sind für Personen ab 55 Jahren oder bei dauernder Berufsunfähigkeit verfügbar und müssen beantragt werden. Sie können nur einmal ab 2001 und nur auf Antrag genutzt werden.
Der BFH hat im Jahre 2021 entschieden, dass die antragsgebundene Steuervergünstigung des § 34 Abs. 3 EStG, die der Steuerpflichtige nur einmal im Leben in Anspruch nehmen kann, auch dann verbraucht ist, wenn das FA die Vergünstigung zu Unrecht gewährt hat. Dies gilt selbst dann, wenn dies ohne Antrag des Steuerpflichtigen geschieht und selbst wenn ein Betrag begünstigt besteuert wird, bei dem es sich tatsächlich nicht um einen Veräußerungsgewinn handelt. Etwas anderes gelte nach den Grundsätzen von Treu und Glauben nur dann, wenn die rechtsirrige Gewährung der Vergünstigung in dem früheren Bescheid für den Steuerpflichtigen angesichts der geringen Höhe der Vergünstigung und wegen des Fehlens eines Hinweises des FA nicht erkennbar gewesen sei (BFH 28.9.21, VIII R 2/19).
Beachten Sie | Das BFH-Urteil wird damit sowohl für die Steuerpflichtigen als auch für ihre Berater zu einer riesigen Gefahr. Um es deutlich zu sagen: Auch wenn die Steuervergünstigung gar nicht beantragt, aber dennoch vom FA gewährt wird, gilt sie als „verbraucht“ und steht für einen späteren – vielleicht viel höheren Veräußerungsgewinn – nicht mehr zur Verfügung.
2. Die Haftung des steuerlichen Beraters
Das LG Lübeck hatte zur Freude eines Mandanten, aber zum Leidwesen seines Steuerberaters entschieden, dass Letzterer quasi hellseherische Fähigkeiten hätte haben und das oben genannte BFH-Urteil hätte vorausahnen müssen (LG Lübeck 11.1.24, 15 O 72/23). Zwischenzeitlich hat das OLG Schleswig-Holstein (11.10.24, 17 U 4/24) das Urteil bestätigt.
Sachverhalt |
Ein Steuerberater prüfte 2006 einen Steuerbescheid für einen Arzt, bei dem das FA fälschlicherweise einen ermäßigten Steuersatz für einen vermeintlichen „Veräußerungsgewinn“ anwandte. Der Mandant hatte diesen Steuersatz nicht beantragt und es handelte sich lediglich um eine Nachzahlung der KV. Der Steuerberater riet, den Bescheid nicht anzufechten, um höhere Steuern zu vermeiden. Zehn Jahre später beantragte der Arzt den ermäßigten Steuersatz für den tatsächlichen Gewinn aus einer Praxisveräußerung, doch das FA lehnte ab, da der Steuersatz nur einmal im Leben genutzt werden könne. Der Arzt forderte Schadenersatz vom Steuerberater, der argumentierte, er habe nicht wissen können, dass der Steuersatz als verbraucht gilt, auch ohne Antrag. Es gab dazu noch keine Gerichtsurteile. |
Das LG und das OLG entschieden zugunsten des Mandanten, da der Steuerberater ihn darauf hätte hinweisen müssen, dass der vergünstigte Steuersatz gemäß § 34 Abs. 3 S. 4 EStG nur einmal im Leben genutzt werden kann. Obwohl es vor dem BFH-Urteil vom 28.9.21 keine spezifische Rechtsprechung gab, hätte der Steuerberater erkennen müssen, dass die Handhabung des FA dazu führen könnte, dass der Kläger den Steuersatz später nicht mehr nutzen kann. Dies war besonders relevant angesichts der beruflichen Umstände des Klägers. Dies hätte sich dem Steuerberater aufdrängen müssen. Ihm waren die beruflichen Umstände des Klägers, insbesondere dessen freiberufliche ärztliche Tätigkeit, bekannt.
Dem Steuerberater werde damit nicht etwa „eine abstrakte Warnung davor, dass die Rechtsprechung auch einmal anders gesehen werden könnte“, abverlangt. Auch werde dem Steuerberater damit nicht jedes auch entfernte Risiko einer möglichen künftigen Änderung der Rechtsprechung aufgebürdet. Denn hier wäre kein abstrakter Hinweis auf mögliche Änderungen der Rechtsprechung notwendig gewesen, sondern ein Hinweis darauf, dass das FA auf die Nachzahlung der KV einen ermäßigten Steuersatz angewendet hatte, der nach dem Gesetz nur einmal im Leben des Steuerpflichtigen in Anspruch genommen werden darf. Dieser Hinweis hätte den Klägern das mögliche Problem vor Augen geführt, dass die Steuerermäßigung unter Umständen später von den Finanzbehörden nicht nochmals gewährt werden würde. Erst aufgrund dieses Hinweises hätte sich die Folgefrage gestellt, wie die Rechtsprechung derartige Konstellationen handhaben werde, wobei in die Risikobetrachtung die genannten Entscheidungen des BFH zum sog. „Objektverbrauch“ hätten einfließen müssen.
Merke | Man mag das Urteil kritisieren. Doch es hilft nichts: Wer sich die Möglichkeit vorbehalten will, die Steuervergünstigung für einen Veräußerungsgewinn in einem späteren Jahr in Anspruch zu nehmen, muss den Steuerbescheid anfechten, in dem ihm die Vergünstigung zu Unrecht gewährt worden ist. Eigentlich wäre ein Einspruch, der auf eine Steuererhöhung gerichtet ist, unzulässig. In diesem Ausnahmefall ist er aber doch zulässig. |
3. Zum Umfang des „hätte erkennen können“
Wie eingangs erwähnt hat das FG Köln entschieden, dass die Verbrauchswirkung des nicht beantragten Veräußerungsfreibetrags nicht eintritt, wenn der Steuerpflichtige dessen Berücksichtigung nicht erkennen konnte. Das Urteil kann als Rettungsanker dienen. Die nachfolgenden Aussagen zu §§ 16, 17 EStG sind auf § 34 Abs. 3 EStG übertragbar.
Beispiel |
Der Kläger führte bis Ende 2019 eine freiberufliche Praxis und erzielte durch deren Aufgabe einen Gewinn, für den er den Freibetrag nach §§ 18 Abs. 3, 16 Abs. 4 EStG geltend machte. Das FA lehnte dies ab, da der Freibetrag bereits 2011 in Anspruch genommen worden war. Damals wurde die Berücksichtigung des Freibetrags nicht beantragt, und im Steuerbescheid war dies nicht klar erkennbar. Die Entscheidung über die Gewährung erfolgte durch das FA eigenmächtig im Rahmen der Einkommensteuer-Veranlagung, jedoch ohne entsprechenden Hinweis im Steuerbescheid oder den zugehörigen Anlagen. |
Das FA hat dem Kläger zu Unrecht den im Jahr 2011 eingetretenen Verbrauch des Freibetrags gemäß § 16 Abs. 4 EStG entgegengehalten, da dieser den mangels vorherigen Antrags rechtswidrigen Verbrauch des Freibetrags nicht erkannt hat und auch nicht erkennen musste. Nach den Grundsätzen von Treu und Glauben muss sich der Steuerpflichtige ein Unterlassen rechtswahrender Maßnahmen wie die Einlegung von Rechtsbehelfen dann nicht entgegenhalten lassen, wenn der Verwaltungsakt deshalb keinen Anlass dazu gibt, weil belastende Wirkungen weder durch den Bescheid selbst noch durch die Korrespondenz im Verwaltungsverfahren (hier: Einspruchsverfahren) erkennbar waren. Dies gilt insbesondere dann, wenn – wie bei der Gewährung des Freibetrags nach § 16 Abs. 4 EStG – neben einer steuermindernden und damit begünstigenden Wirkung auch eine Verbrauchswirkung und damit belastende Folge verbunden ist, und umso mehr, wenn die (steuer-)begünstigende Wirkung deutlich hinter der (im Verbrauch zu sehenden) belastenden Wirkung zurückbleiben kann.
Da auch der Erläuterungstext des Bescheids weder einen Hinweis auf die Verwendung des Freibetrags noch auf die damit verbundene Verbrauchswirkung enthielt, war der Kläger nicht gehalten, den Berechnungsteil des Bescheids daraufhin zu überprüfen, ob der Beklagte entgegen dem Gesetzeswortlaut ohne Antrag des Klägers den Freibetrag mit der Folge des Verbrauchs des weit überwiegenden Teils des Freibetrags für etwaige künftige Veräußerungsgewinne gewährt hatte.
Interessanterweise sieht das FG Köln nicht einmal Gründe für die Zulassung der Revision. Die Entscheidung beruhe auf der Anwendung der vom BFH für entsprechende Fälle aufgestellten Grundsätze auf den konkreten Einzelfall durch das Tatsachengericht.
AUSGABE: PFB 7/2025, S. 185 · ID: 50326598