Sie sind auf dem neuesten Stand
Sie haben die Ausgabe Aug. 2025 abgeschlossen.
Kanzlei-HomepageBarrierefreiheit ohne Panik – was Ihre Kanzlei jetzt wirklich braucht!
| Digitale Barrierefreiheit ist derzeit eines der meistdiskutierten Themen für Unternehmen und Kanzleien – nicht zuletzt, weil im Juni 2025 das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) in Kraft getreten ist. Doch zwischen Panikmache, teuren Angeboten und rechtlichen Unsicherheiten fällt es schwer, den Überblick zu behalten: Wer ist wirklich betroffen? Was verlangt das Gesetz konkret? Und wie können Sie als Kanzlei sinnvoll und effizient vorgehen, ohne unnötig Zeit und Geld zu investieren? Dieser Beitrag zeigt, wie Sie das Thema Barrierefreiheit strategisch und gelassen angehen. |
Inhaltsverzeichnis
- Das Geschäft mit der Angst
- Barrierefreiheit ist nichts Neues – auch wenn man Ihnen das gerade weismachen will
- Wer ist betroffen – und was bedeutet das für Ihre Kanzlei?
- Sind Steuerkanzleien also grundsätzlich nicht betroffen oder gibt es Ausnahmen?
- Was ist mit Mandanten-Log-ins oder Bewerbungsformularen auf Karriereseiten?
- Warum Sie trotzdem nicht mit einem großen Audit starten sollten – und was stattdessen sinnvoll ist
- Ihre Kanzlei bekommt trotz allem eine Abmahnung – und jetzt?
- Pflichterfüllung oder Haltung zeigen? Warum Barrierefreiheit nicht nur Pflicht sein sollte
Das Geschäft mit der Angst
Seit Juni 2025 gilt das BFSG, das auf Grundlage der EU-Richtlinie 2019/882 umgesetzt wird. Und in vielen Unternehmen herrscht Unsicherheit: Bin ich betroffen? Muss ich handeln? Was ist sinnvoll – und was nicht? Agenturen werben mit „rechtssicheren“ Komplettpaketen oder bieten kostspielige Audits an. Und der Begriff „Abmahnwelle“ macht bereits die Runde, bevor es überhaupt eine gefestigte Rechtsprechung gibt. Die Folge: Es entsteht ein Markt der Angst. Ein Markt, auf dem Unsicherheit in Dienstleistungen umgemünzt wird – oft teuer, selten zielführend. Gerade jetzt lohnt es sich, einen kühlen Kopf zu bewahren und zu prüfen:
- Was verlangt das Gesetz tatsächlich?
- Was ist Panikmache – und was ist wirklich sinnvoll?
- Wie gehen Sie als Kanzlei strategisch klug vor, wenn Sie betroffen sind?
Genau diese Fragen möchte ich hier beleuchten. Nicht mit erhobenem Zeigefinger, sondern mit dem Ziel, Ihnen Klarheit zu geben. Damit Sie informierte Entscheidungen treffen, Ihre Kanzlei zukunftsfähig gestalten – und bei Panik-Angeboten nur noch müde lächeln.
Barrierefreiheit ist nichts Neues – auch wenn man Ihnen das gerade weismachen will
Die Diskussion um digitale Barrierefreiheit wirkt derzeit, als sei sie über Nacht entstanden. Doch Barrierefreiheit im Web ist kein neues Konzept. Die Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) – die „Richtlinien für barrierefreie Webinhalte“ – gibt es bereits seit 1999. Sie wurden seither kontinuierlich weiterentwickelt, zuletzt mit WCAG 2.2. Und bevor Sie sich von wohlklingenden Werbeversprechen in Sicherheit wiegen lassen: Eine 100 % barrierefreie Website im Sinne absoluter Rechtssicherheit gibt es nicht; denn:
- Digitale Barrierefreiheit ist ein Prozess und kein fester Zustand.
- Die Vorgaben sind teilweise Auslegungssache und die Rechtsprechung beginnt gerade erst, sich mit den Details zu beschäftigen.
- Menschen mit Behinderungen haben höchst unterschiedliche Bedürfnisse, die nie alle gleichzeitig und vollständig erfüllt werden können.
- Jedes Audit, jeder Test zur Barrierefreiheit kann immer nur eine Momentaufnahme sein: Er bewertet den Stand Ihrer Website zu einem bestimmten Zeitpunkt und meist nur anhand ausgewählter Seiten und Funktionen.
Deshalb spricht man zutreffender von „barrierearm“ statt „barrierefrei“.
Wer ist betroffen – und was bedeutet das für Ihre Kanzlei?
Das BFSG verpflichtet Unternehmen zur digitalen Barrierefreiheit, wenn sie Produkte oder Dienstleistungen im elektronischen Geschäftsverkehr für Endverbraucher anbieten. Das Gesetz zielt auf Fälle ab, in denen ein Vertrag mit einem Verbraucher direkt digital abgeschlossen wird – etwa über eine Website oder App.
Wer ist typischerweise betroffen, wer nicht? | |
Betroffen | Nicht betroffen |
|
|
Sind Steuerkanzleien also grundsätzlich nicht betroffen oder gibt es Ausnahmen?
Für die meisten Steuerkanzleien bedeutet das: aufatmen! Solange Ihre Website keine Möglichkeit bietet, Verträge direkt digital abzuschließen, besteht (bisher) keine Pflicht zur Barrierefreiheit nach dem BFSG. Das ändert sich aber, wenn Ihre Kanzlei z. B.
- eine Online-Terminbuchung für ein kostenpflichtiges Erst- oder Beratungsgespräch mit integriertem Zahlungsanbieter zur Verfügung stellt, bei der ein Vertrag sofort elektronisch zustande kommt und vorab gezahlt wird,
- oder digitale Services wie Online-Steuererklärungen oder Beratungen direkt buch- und bezahlbar macht.
In solchen Fällen wird die Website zur Plattform für digitale Dienstleistungen – und damit gilt das BFSG.
Was ist mit Mandanten-Log-ins oder Bewerbungsformularen auf Karriereseiten?
Ein Mandanten-Log-in, das lediglich der Abwicklung bestehender Mandate dient (etwa zum Upload von Unterlagen oder zum sicheren Austausch von Dokumenten), führt nicht zur BFSG-Pflicht. Erst wenn darüber neue Verträge direkt digital abgeschlossen werden können, wird es relevant. Auch eine Karriereseite mit Bewerbungsformular fällt nicht unter das BFSG. Bewerbungen gelten nicht als Verbraucherverträge i. S. d. Gesetzes. Was Sie jedoch bedenken sollten: Barrierearme Bewerbungsprozesse sind ein starkes Signal an potenzielle Mitarbeitende und i. S. d. AGG (Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz) klar empfehlenswert.
Praxistipp | Auch wenn Ihre Kanzlei formal nicht betroffen ist: Eine barrierearme Website und eine transparente Barrierefreiheitserklärung schaffen Vertrauen, sorgen für ein angenehmes Surferlebnis (User Experience) und sind ein starkes Zeichen für digitale Teilhabe. |
Warum Sie trotzdem nicht mit einem großen Audit starten sollten – und was stattdessen sinnvoll ist
Viele Kanzleien starten beim Thema Barrierefreiheit mit einem naheliegenden Gedanken: „Wir brauchen ein Audit. Das zeigt uns, wo die Fehler sind – dann können wir sie beheben und sind auf der sicheren Seite.“ Das klingt nachvollziehbar. Schließlich wünschen wir uns bei einem komplexen Thema wie Barrierefreiheit eine gewisse Orientierung und klare Handlungsempfehlungen. Doch die Realität sieht anders aus. Ein Audit bietet keine absolute Sicherheit. Es deckt in der Regel nur einen Teil der bestehenden Barrieren auf, oft gerade einmal 20 %.
Hinzu kommt: Externe Audits schaffen keine Rechtssicherheit. Es gibt bislang weder eine offizielle Prüfstelle noch eine gefestigte Rechtsprechung zur digitalen Barrierefreiheit i. S. d. BFSG. Zertifikate, die im Rahmen solcher Audits ausgestellt werden, haben zudem häufig nur eine begrenzte Gültigkeit – in der Regel ein Jahr. Danach müsste ohnehin erneut geprüft werden. Die Folge: Es werden teure Einzelmaßnahmen umgesetzt, die das Grundproblem nicht lösen und keinen nachhaltigen Effekt haben.
Karl Groves, Accessibility-Experte, spricht in diesem Zusammenhang von der Audit-Fix-Audit-Fix-Schleife. Ein Audit wird gemacht, Fehler werden festgestellt und behoben. Es gibt ein Re-Audit, das weniger Fehler anzeigt, die wieder behoben werden. Ein weiteres Re-Audit überprüft die Ausbesserung dieser Barrieren, findet wieder neue Fehler usw. Auf diese Weise kann Barrierefreiheit vor allem teuer und frustrierend werden.
Alternative zum kostspieligen Audit |
1. Website-Check Zum Beispiel mit Tools als Browser-Erweiterung Besser ist es, mit einem kurzen Website-Check zu beginnen. Er bietet einen guten Einstieg. Dabei handelt es sich um eine erste Bestandsaufnahme, die meist schon mit kostenlosen Tools wie dem Accessibility Checker von Silktide oder dem WAVE Evaluation Tool möglich ist. Beide sind als Chrome-Browsererweiterung kostenlos verfügbar und lenken den Blick auf die größten Barrieren – solche, die oft intern oder mit überschaubarem Aufwand behoben werden können. |
Wenn es die Zeit zulässt, ist es im Folgeschritt natürlich immer sinnvoll, das eigene Team zu schulen, beispielsweise in Form von Workshops. Wer intern Wissen aufbaut, kann Barrierefreiheit in der täglichen Arbeit mitdenken – bei jeder neuen Seite, jedem Update, jeder Anpassung. So entsteht eine nachhaltige Kompetenz im Unternehmen, die auch vor fragwürdigen Angeboten zur Website-Optimierung schützt. 2. Maßnahmenplan Maßnahmenplan aufsetzen Ist ein erster Check gemacht, braucht es einen Maßnahmenplan. Er hilft dabei, Prioritäten zu setzen und gezielt vorzugehen: Welche Barrieren haben den größten Hebel? Was ist dringend? Was kann mittelfristig umgesetzt werden? So lassen sich Barrieren Schritt für Schritt abbauen – ohne dass ein Flickenteppich aus Ad-hoc-Maßnahmen entsteht, die später nicht zusammenpassen. 3. Barrierefreiheitserklärung Ein guter Weg, diesen Prozess zu dokumentieren und die Bereitschaft zur Barrierefreiheit sichtbar zu machen, ist die Barrierefreiheitserklärung. Sie zeigt: Wir nehmen digitale Teilhabe ernst und handeln bereits. In dieser Erklärung wird offengelegt, wo die Website aktuell steht, welche Barrieren bekannt sind und wie bzw. bis wann diese abgebaut werden sollen. Sie bietet außerdem die Möglichkeit zur Kontaktaufnahme, um digitale Barrieren zu melden, was das Risiko fragwürdiger Abmahnungen reduzieren kann. Eine Barrierefreiheitserklärung setzt ein starkes Signal: Wir übernehmen Verantwortung – was in der Praxis bereits oft positiv bewertet wird. Die Erklärung sollte gut sichtbar auf der Website platziert werden – z. B. in der Fußzeile, in unmittelbarer Nähe zu Impressum oder Datenschutzerklärung. Dort wird sie intuitiv erwartet. Es gibt zahlreiche kostenlose Vorlagen von offiziellen Stellen, die individuell angepasst werden können (z. B. von eRecht 24). Gerade im Zusammenhang mit dem BFSG ist die Barrierefreiheitserklärung ein wichtiger erster Schritt – auch für Unternehmen, die formal nicht betroffen sind. Sie schafft Transparenz, zeigt Haltung und gibt Ihrer Kanzlei Zeit, Barrieren planvoll abzubauen, statt später hektisch auf Forderungen reagieren zu müssen. |
Ihre Kanzlei bekommt trotz allem eine Abmahnung – und jetzt?
Vielleicht erinnern Sie sich noch an die Einführung der DSGVO? Damals wurde versucht, aus der Unsicherheit von Unternehmen Profit zu schlagen. Ein besonders bekanntes Beispiel: Im Jahr 2022/2023 deckten Gerichte die Praxis eines Berliner Anwalts auf, der gemeinsam mit einem Verein massenhaft Abmahnungen verschickte – wegen der unzulässigen Einbindung von Google Fonts. Mithilfe eines automatisierten Programms wurden Webseiten systematisch durchsucht. Die Folge: Hunderte von Abmahnungen und Zahlungsaufforderungen – meist über rund 170 EUR pro Fall. Das LG München wertete dieses Vorgehen später zum Glück als rechtsmissbräuchlich. Die Forderungen dienten nicht dem Datenschutz, sondern dem Ziel, Gelder ohne berechtigten Anspruch zu erzwingen.
Mit Blick auf das Barrierefreiheitsgesetz ist davon auszugehen, dass findige Akteure versuchen werden, aus dem neuen Gesetz mit fragwürdigen Abmahnungen oder pauschalen „Rettungspaketen“ Kapital zu schlagen – auch wenn Kanzleien vorrangig nicht betroffen sind. Lassen Sie sich davon also nicht täuschen! Sollten Sie ein Schreiben bekommen, reagieren Sie nicht auf Zahlungsaufforderungen, sondern lassen Sie das Schreiben anwaltlich prüfen – auch mit Blick auf die geforderte Anpassung digitaler Barrieren auf Ihrer Website, für die Sie spätestens dann eine Barrierefreiheitserklärung verfassen können.
Pflichterfüllung oder Haltung zeigen? Warum Barrierefreiheit nicht nur Pflicht sein sollte
Zeit für einen Perspektivwechsel: Natürlich fühlt es sich für viele Unternehmen nach noch einer Aufgabe obendrauf an, wenn die eigene Website angepasst werden muss – vor allem dann, wenn sie gerade neu gestaltet oder überarbeitet wurde. Aber hinter Barrierefreiheit steht weit mehr als eine gesetzliche Pflicht oder eine lästige Aufgabe: Barrierefreiheit ist ein Menschenrecht, erschließt neue Märkte und stärkt das Arbeitgeberimage.
Über 80 % der Menschen mit Behinderung in Deutschland nutzen das Internet. 55 % stoßen dabei nach eigenen Angaben auf Barrieren. Dabei bedeutet Behinderung nicht immer gleich Schwerbehinderung. Nur 3 % der Menschen sind von Geburt an behindert. 97 % der Behinderungen entstehen erst im Laufe des Lebens – durch Krankheiten, Unfälle oder altersbedingte Veränderungen. Vom gebrochenen Arm über Autismus, Mutismus (nonverbal sein), grauem Star oder Schwerhörigkeit bis hin zu Lähmungserscheinungen durch einen Schlaganfall: Die Wahrscheinlichkeit, im Laufe seines Lebens selbst einmal auf Barrierefreiheit angewiesen zu sein oder jemanden zu kennen, der darauf angewiesen ist, ist hoch. Fragen Sie sich deshalb nicht: „Ist meine Kanzlei-Website betroffen?“, sondern: „Was kann ich tun, um mit meiner Online-Präsenz zu einer inklusiven Gesellschaft beizutragen?“
Zur Autorin | Yvonne Homann von Nova & Bow ist Brand- und Webdesignerin mit Sitz in Isernhagen bei Hannover. Sie begleitet Unternehmen und Selbstständige dabei, ihre Marke von innen nach außen zu entwickeln und für die richtigen Menschen sichtbar zu machen (https://nova-and-bow.com)
AUSGABE: KP 8/2025, S. 140 · ID: 50463922