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Internationales Ehe- und KindschaftsrechtDie Brüssel IIb-VO: Teil 1: Anwendungsbereich und Ehesachen

Abo-Inhalt26.12.2022954 Min. LesedauerVon RiAG Martina Erb-Klünemann, Hamm

| Zum 1.8.22 sind für Eheverfahren und Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung Änderungen betreffend die internationale Zuständigkeit sowie der Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Titel aus anderen EU-Mitgliedstaaten eingetreten. Auch für Rückführungsverfahren nach dem Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführungen (HKÜ), soweit die Rückführung in einen anderen EU-Mitgliedstaat außer Dänemark begehrt wird, hat sich einiges geändert. Grenzüberschreitende Kooperationsmöglichkeiten sind verstärkt worden: |

1. Anwendungsbereich der Brüssel IIb-VO

Grund für die neue Rechtslage ist das Inkrafttreten der VO (EU) 2019/1111 des Rates vom 25.6.19 über die Zuständigkeit, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und über internationale Kindesentführungen (Brüssel IIb-VO), die die VO (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27.11.03 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der VO (EG) Nr. 1347/2000 (besser bekannt als Brüssel IIa-VO) nach über 15 Jahren neu fasst. Zum 1.8.22 ist auch das Gesetz zur Aus- und Durchführung bestimmter Rechtsinstrumente auf dem Gebiet des internationalen Familienrechts (IntFamRVG) als deutsches Durchführungsgesetz umfassend geändert worden.

a) Zeitlicher Anwendungsbereich

Mit Wirkung ab 1.8.22 wurde die Brüssel IIa-VO durch die Brüssel IIb-VO aufgehoben, gem. Art. 104 Abs. 1 Brüssel IIb-VO gilt dies aber vorbehaltlich des Art. 100 Abs. 2 Brüssel IIb-VO. Dieser regelt, dass die Brüssel IIa-VO weiter gilt für Entscheidungen in vor dem 1.8.22 eingeleiteten gerichtlichen Verfahren, für vor dem 1.8.22 förmlich errichtete und eingetragene öffentliche Urkunden und für vor dem 1.8.22 vollstreckbar gewordene Vereinbarungen.

Merke | Die Zuständigkeitsregeln der Brüssel IIb-VO gelten nur für gerichtliche Verfahren in Ehesachen, in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und in Rückführungsverfahren nach dem HKÜ, die ab dem 1.8.22 eingeleitet werden. Ihre Anerkennungs- und Vollstreckungsregeln gelten nur für Entscheidungen aus Verfahren, die ab dem 1.8.22 eingeleitet worden sind, für öffentliche Urkunden, die ab dem 1.8.22 förmlich errichtet oder eingetragen worden sind und für Vereinbarungen, die ab dem 1.8.22 eingetragen worden sind, Art. 100 Abs. 1 Brüssel IIb-VO.

Die EuGH-Rechtsprechung zur Brüssel IIa-VO ist auch für die Brüssel IIb-VO als Folge-VO bindend, außer die neue VO regelt etwas anderes als die Brüssel IIa-VO. In Deutschland wird die Brüssel IIb-VO durch das IntFamRVG als deutschem Durchführungsgesetz in seiner Gültigkeit vom 1.8.22 ergänzt, § 55 IntFamRVG.

Merke | Die Entsprechungstabelle im Anhang X der Brüssel IIb-VO verschafft einen schnellen Überblick über die Rechtsänderungen.

b) Örtlicher Anwendungsbereich

An die Brüssel IIb-VO sind alle EU-Mitgliedstaaten außer Dänemark gebunden. Auch wenn im Erwägungsgrund 95 das Vereinigte Königreich aufgeführt ist, ist die Brüssel IIb-VO dort wegen des Brexits nicht in Kraft getreten.

Merke | Die Brüssel IIb-VO gilt in den an sie gebundenen EU-Mitgliedstaat universell, d. h. bei Auslandsbezug egal zu welchem Staat. Einzelne Regelungen der VO verlangen dagegen einen Bezug zu einem anderen an die VO gebundenen EU-Mitgliedstaat. Dies wird deutlich durch das Wort „Mitgliedstaat“ in der einzelnen Vorschrift. So gelten die Regelungen der Anerkennung und Vollstreckung nur für Titel aus einem anderen an die VO gebundenen EU-Mitgliedstaat.

2. Ehesachen

In Ehesachen werden ausländische Titel vermehrt anerkannt.

a) Internationale Zuständigkeit, Art. 3 ff. Brüssel IIb-VO

Bei den Regelungen zur internationalen Zuständigkeit in Ehesachen (Scheidung, Trennung ohne Auflösung des Ehebandes und Ungültigerklärung einer Ehe) haben sich im Vergleich zu Art. 3 ff. Brüssel IIa-VO nur die Nummerierungen geändert. Art. 3 Brüssel IIb-VO enthält in lit. a) sechs Zuständigkeitsgründe, die an den gewöhnlichen Aufenthalt eines bzw. beider Ehegatten anknüpfen und in lit. b) einen an die Staatsangehörigkeit anknüpfenden Grund. Die Gründe sind alternativ, sodass zwischen verschiedenen Mitgliedstaaten gewählt werden kann. Sonderregelungen für einen Gegenantrag finden sich in Art. 4, für die Umwandlung einer Trennung in eine Scheidung in Art. 5 Brüssel IIb-VO.

Klarer als Art. 6 und 7 Brüssel IIa-VO regelt Art. 6 Brüssel IIb-VO die Restzuständigkeit, wenn sich aus Art. 3 bis 5 Brüssel IIb-VO keine internationale Zuständigkeit ergibt. Nach Art. 6 Abs. 1 Brüssel IIb-VO kann auf nationales Zuständigkeitsrecht, in Deutschland also § 98 FamFG, nur subsidiär zurückgegriffen werden, wenn kein Gericht eines anderen an die Brüssel IIb-VO gebundenen EU-Mitgliedstaats fiktiv zuständig ist. Außerdem sperrt Art. 6 Abs. 2 Brüssel IIb-VO den Rückgriff auf nationales Zuständigkeitsrecht, wenn gegen einen Ehegatten, der seinen gewöhnlichen Aufenthalt in einem Mitgliedstaat hat oder der Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist, ein Verfahren vor den Gerichten eines anderen Mitgliedstaats geführt wird. Für den Fall, dass nationales Recht herangezogen werden darf und dieses auf die eigene Staatsangehörigkeit abstellt, erweitert Art. 6 Abs. 3 Brüssel IIb-VO den Anwendungsbereich des nationalen Rechts in bestimmten Fällen für Staatsangehörige eines anderen Mitgliedstaats.

Beispiel

Die F ist französische Staatsangehörige, der M türkischer Staatsangehöriger. Nach der Trennung in der Türkei, wo sie zusammen gelebt haben und der M weiterhin lebt, zieht die F nach Deutschland, wo sie sieben Monate später die Scheidung beantragt.

Lösung: Die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte nach Art. 3 bis 5 Brüssel IIb-VO ist nicht gegeben. Insbesondere greift Art. 3 lit. a) Nr. VI) Brüssel IIb-VO nicht, da die Frau sich zwar mehr als sechs Monate in Deutschland aufhält, sie aber nicht die deutsche Staatsangehörigkeit hat. Auch Art. 3 lit. a) Nr. V) Brüssel IIb-VO begründet keine internationale Zuständigkeit, da die Frau sich zum Zeitpunkt der Antragstellung noch nicht ein Jahr in Deutschland aufgehalten hat.

Die Zuständigkeit könnte sich aus § 98 Abs. 1 Nr. 1 FamFG ergeben. Dieser stellt zwar auf die deutsche Staatsangehörigkeit ab, die die Frau nicht hat, wird aber über Art. 6 Abs. 3 Brüssel IIb-VO unter bestimmten Umständen erweitert auf Staatsangehörige eines anderen an die Brüssel IIb-VO gebundenen EU-Mitgliedstaats. Zu prüfen ist, ob Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 Brüssel IIb-VO den Rückgriff auf nationales Recht sperren. Hier ist fiktiv keine internationale Zuständigkeit eines anderen an die VO gebundenen EU-Mitgliedstaats gegeben, da der einzige Auslandsbezug zur Türkei besteht. Auch hat der M als Antragsgegner weder seinen gewöhnlichen Aufenthalt in einem an die VO gebundenen EU-Mitgliedstaat noch ist er Staatsangehöriger eines dieser Staaten. Der Rückgriff auf § 98 FamFG ist also erlaubt. Der Anwendungsbereich des § 98 Abs. 1 Nr. 1 FamFG wird unter den Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 3 Brüssel IIb-VO erweitert, die hier gegeben sind: Die F, die als Staatsangehörige eines anderen an die Brüssel IIb-VO gebundenen EU-Mitgliedstaats ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland als einem an die VO gebundenen EU-Mitgliedstaat hat, kann § 98 Abs. 1 Nr. 1 FamFG wie ein deutscher Staatsangehöriger gegenüber dem M geltend machen, der weder den Bezug des gewöhnlichen Aufenthalts noch der Staatsangehörigkeit zu einem anderen an die VO gebundenen EU-Mitgliedstaat hat. Somit sind deutsche Gerichte international zuständig.

Merke | § 98 FamFG darf nur angewendet werden, wenn aus der Brüssel IIb-VO keine Zuständigkeit folgt und wenn diese den Rückgriff auf nationales Recht erlaubt. Ist dies der Fall, erweitert sie unter bestimmten Voraussetzungen den Anwendungsbereich des nationalen Rechts.

b) Anerkennung von Entscheidungen, öffentlichen Urkunden, Vereinbarungen

Für diesem Bereich enthält die Brüssel IIb-VO wichtige Neuerungen:

aa) Entscheidungen

Für Entscheidungen, die in Art. 2 Abs. 1 Brüssel IIb-VO näher definiert sind, gilt weiterhin der Grundsatz der automatischen Anerkennung, Art. 30 Abs. 1 Brüssel IIb-VO. Eine interessierte Partei kann nach Art. 30 Abs. 3 Brüssel IIb-VO fakultativ die verbindliche Feststellung beantragen, dass keiner der in Art. 38 Brüssel IIb-VO genannten Versagungsgründe gegeben ist. Dies entspricht dem Verfahren auf Feststellung der (Nicht-)Anerkennung nach Art. 21 Abs. 3 Brüssel IIa-VO. In diesem Verfahren ist nach Art. 31 Brüssel IIb-VO neben der Ausfertigung der Entscheidung die Bescheinigung nach Art. 36 Brüssel IIb-VO (Formblatt Anhang II) vorzulegen, die das Gericht, das die Entscheidung erlassen hat, auf Antrag ausstellt. Inhaltlich unverändert im Vergleich zur Vorgänger-VO sind die in Art. 38 Brüssel abschließend aufgeführten Anerkennungsversagungsgründe und die Nachprüfungsverbote in Art. 69 bis 71 Brüssel IIb-VO.

Beispiel

Der Ehemann M möchte, nachdem er bei deutschen Behörden Anerkennungsprobleme hatte, verbindlich festgestellt haben, dass die in Polen ausgesprochene Scheidung in Deutschland anerkannt wird.

Lösung: Das polnische Gericht stellt dem M auf Antrag die Bescheinigung nach Anhang II der Brüssel IIb-VO aus. Unter Vorlage der Ausfertigung der polnischen Entscheidung und der Bescheinigung beantragt er in Deutschland beim AG am Sitz des OLG als Spezialgericht nach § 10 S. 1 Nr. 1, S. 2, S. 3, § 12 IntFamRVG die Feststellung, dass keiner der in Art. 38 Brüssel IIb-VO genannten Gründe für eine Versagung der Anerkennung gegeben ist.

bb) Öffentliche Urkunden und Vereinbarungen

Außergerichtliche Scheidungen sind in Deutschland unbekannt, werden aber in anderen EU-Mitgliedstaaten verstärkt möglich. Als Reaktion auf diese Entwicklung erschien die Brüssel IIa-VO unzureichend, da diese in Art. 46 Brüssel IIa-VO für öffentliche Urkunden und Vereinbarungen alleine auf die Regelungen für Entscheidungen verweist, wobei unklar ist, ob diese Vorschrift auf Ehesachen anzuwenden ist. Denn sie verlangt Vollstreckbarkeit, die in Ehesachen nicht gegeben ist. Art. 64 ff. Brüssel IIb-VO enthalten nun gesonderte Regelungen für die Anerkennung öffentlicher Urkunden und Vereinbarungen aus EU-Mitgliedstaaten, die an die VO gebunden sind. Schwierig zu entscheiden ist die Frage, wann eine außergerichtliche Scheidung, also eine solche, die nicht von einem Gericht im klassischen Sinn ausgesprochen worden ist, eine Entscheidung i. S. d. Art. 2 Brüssel IIb-VO darstellt. Abgrenzungskriterium ist, ob eine Prüfung in der Sache stattfindet oder ob die Behörde alleine förmlich tätig wird (Erwägungsgrund 14 Brüssel IIb-VO), sodass die neuen Regelungen für öffentliche Urkunden und Vereinbarungen Anwendung finden. Insoweit hat der EuGH aktuell in der Rechtssache C-646/20 wichtige Ausführungen gemacht.

Beispiel

Anwaltlich vertretene Eheleute lassen in Griechenland von einem Notar eine einvernehmliche Scheidungsvereinbarung beurkunden. Das griechische Standesamt, an den der Notar die Vereinbarung weiterleitet, beurkundet die Scheidung.

Lösung: Es handelt sich um eine Scheidung nach Art. 4441 Abs. 1 griechisches ZGB. Eine Billigung nach Prüfung der Sache, die die Scheidung als Entscheidung qualifizieren würde, erfolgt nicht. Es handelt sich um eine eingetragene Vereinbarung, für die Art. 64 ff. Brüssel IIb-VO gelten. Die Vereinbarung ist anzuerkennen, wenn Griechenland international zuständig war nach Art. 3 ff. Brüssel IIb-VO, Art. 64 Brüssel IIb-VO. Für diese Vereinbarungen wird die Bescheinigung nach Art. 66 Abs. 1 lit. a) Brüssel IIb-VO (Formblatt Anhang VIII) ausgestellt.

Merke | Eine Scheidung, an der eine Behörde mitwirkt (dies kann auch ein Notar sein), kann aufgrund der weiten Definition in Art. 2 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 Brüssel IIb-VO eine Entscheidung i. S. d. Brüssel IIb-VO sein. Handelt es sich dagegen um eine Vereinbarung, gilt die Brüssel IIb-VO nur, wenn eine staatliche Mitwirkung erfolgt und die internationale Zuständigkeit gegeben war. Hierauf sollte anwaltlicherseits hingewiesen werden, wenn Eheleute beabsichtigen, den oft kostengünstigeren Weg der Scheidung in einem anderen EU-Staat zu gehen.

Weiterführender Hinweis
  • Niethammer-Jürgens/Erb-Klünemann, Internationales Familienrecht in der Praxis, 3. Aufl.

AUSGABE: FK 2/2023, S. 33 · ID: 48684627

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