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SachverständigengutachtenSachverständigengutachten im Erbprozess: Das Gutachten zur Testierfähigkeit (Teil 1)
| Ein Sachverständigengutachten kann im Erbprozess vor dem Zivilgericht (Prozessgericht) oder auch im Erbscheinsverfahren vor dem Nachlassgericht zur Klärung tatsächlicher Fragen notwendig werden. Umso wichtiger ist es aus Beratersicht, mit geeigneten prozessualen Mitteln auf Feststellungen im Gutachten bzw. des Gutachters hinzuwirken, die für den eigenen Mandanten günstig sind. Hierfür erläutert dieser zweiteilige Beitrag die Grundsätze und Besonderheiten des Gutachtens zur Testierfähigkeit. Dazu erhalten Sie in Teil 2 des Beitrages in der nächsten Ausgabe verschiedene Musteranträge, Musterformulierungen sowie eine Checkliste. |
Inhaltsverzeichnis
1. Allgemeines
Sachverständigengutachten können im erbrechtlichen Kontext in verschiedenen Konstellationen benötigt werden. Im Mittelpunkt der forensischen Praxis stehen dabei folgende zu klärende Fragen:
a) Begutachtung von medizinischen und psychologischen Fragen
Wenn es um die Testierfähigkeit des Erblassers geht, kann ein medizinisches oder psychologisches Gutachten erforderlich sein, um zu beurteilen, ob der Erblasser zum Zeitpunkt der Errichtung eines Testamentes oder eines Erbvertrages in der Lage war, seine Entscheidungen frei und unbeeinflusst zu treffen, § 2229 Abs. 4 BGB.
b) Untersuchung und Analyse von Schriftstücken
Wenn es darum geht, eine Schriftuntersuchung durch einen Schriftsachverständigen zur Prüfung der Echtheit eines Testaments vorzunehmen. In diesen Fällen kann eine Analyse von Handschriften sowie Unterschriften (§§ 2247, 2267 BGB) auf Herkunft und Entstehungszeitraum stattfinden. Der Vergleich von Schriftproben dient der Feststellung von Übereinstimmungen oder Abweichungen.
c) Bestimmung der Höhe von Pflichtteilsansprüchen
Befinden sich im Nachlass Immobilien, Unternehmen, Kunstwerke oder sonstige wertvolle Gegenstände, kann ein Sachverständigengutachten notwendig sein, um deren Wert zum Zeitpunkt des Erbfalls zu bestimmen, §§ 2303, 2317, 2314 Abs. 1 S. 2 BGB.
d) Bestimmung der Höhe von Pflichtteilsergänzungsansprüchen
Bei der Berechnung von Pflichtteilsergänzungsansprüchen kann ein Gutachten notwendig sein, um den Wert von Schenkungen oder sonstigen Zuwendungen zu ermitteln, die der Erblasser zu Lebzeiten gemacht hat, § 2325 Abs. 1 und 2 BGB.
2. Das Gutachten zur Klärung der Testier(un-)fähigkeit
a) Allgemeines
Sowohl im Zivilprozess vor dem Prozessgericht (z. B. Feststellungklage zur Erbenstellung) als auch im Erbscheinsverfahren (Erbscheinsantrag) vor dem Nachlassgericht (Gericht der freiwilligen Gerichtsbarkeit) kommt es in der Praxis häufig zum Streit über die Frage der Testierfähigkeit des Erblassers bei Errichtung des Testaments oder Erbvertrages.
Merke | Nach den §§ 29, 30 FamFG sind für die förmliche Beweisaufnahme vor dem Gericht der freiwilligen Gerichtsbarkeit (z. B. das Nachlassgericht) die Bestimmungen der Zivilprozessordnung entsprechend anzuwenden. |
Die Bestimmung des § 2229 Abs. 4 BGB unterscheidet drei Arten der Testierunfähigkeit: die krankhafte Störung der Geistestätigkeit, Geistesschwäche oder Bewusstseinsstörung.
Eine krankhafte Störung der Geistestätigkeit ist dann anzunehmen, wenn bestimmte Hirnfunktionen „krankheitsbedingt beeinträchtigt“ sind (z. B. aufgrund von Durchblutungsstörungen, OLG Hamm 16.5.14, 10 W 96/13). Unter Geistestätigkeit sind alle psychischen und neurologischen Vorgänge und Abläufe eines Menschen zu verstehen (Staudinger/Baumann, BGB, [2022], § 2229 Rn. 65). Die Rechtsprechung subsumiert unter krankhafter Störung der Geistestätigkeit die folgenden medizinischen Diagnosen (vgl. Staudinger/Baumann, a. a. O. Rn. 66):
- Hirnleistungsstörungen (sämtliche Formen der Demenz, z. B. demenzielles Syndrom, degenerative Demenz [Demenz vom Alzheimer Typ], arteriosklerotische Demenz, mittelschwere Demenz sowie vaskuläre Demenz);
- globale Hirnatrophie, Hirninfarkt bzw. Schlaganfälle;
- Demenz beim Parkinson-Syndrom;
- amnestisches Syndrom = Gedächtnisstörungen;
- altersbedingt organische Wesensveränderungen bei Demenz;
- wahnhafte Störungen wie Schizophrenie sowie paranoide Wahnvorstellungen und
- wahnhafte Depressionen (eingehend Wetterling ErbR 22, 285).
Unter Geistesschwäche werden folgende medizinischen Diagnosen subsumiert (Staudinger/Baumann, a. a. O. Rn. 67):
- angeborene Intelligenzschwäche (Intelligenzquotient unter 70),
- Minderbegabung sowie
- Residualzustände nach Psychosen oder Unfällen.
Unter Bewusstseinsstörung werden folgende medizinischen Diagnosen subsumiert (vgl. Staudinger/Baumann, a. a. O. Rn. 68):
- Delir, Koma und Intoxikation (OLG Koblenz ErbR 19, 584);
- Multimedikation, Drogenrausch, Trunkenheit, Hypnose, Suggestion und Erschöpfungszustände;
- Kreislaufschwäche, epileptische Anfälle sowie hohes Fieber.
Das Vorliegen einer der bezeichneten Krankheiten führt aber nur dann zur Testierunfähigkeit, wenn der Testierende nicht in der Lage ist, aufgrund der Schwäche oder Störung die Bedeutung einer von ihm abgegebenen Willenserklärung einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln (OLG Rostock FamRZ 09, 2039). Demgegenüber setzt die Testierfähigkeit voraus, dass der Testierende eine Vorstellung von der Tatsache und von dem Inhalt seiner letztwilligen Verfügung hat. Er muss deren Bedeutung erkennen sowie deren Tragweite und Auswirkungen auf die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Betroffenen. Dabei muss sich der Testierende in der Lage befinden, die Gründe für und gegen seine Anordnungen vernünftig abzuwägen und frei von Einflüssen interessierter Dritter zu entscheiden (KG ErbR 21, 854).
Ob Testierunfähigkeit bei Testamentserrichtung gegeben war, ist deshalb regelmäßig in einem zweistufigen Beurteilungssystem zu ermitteln (KG, a. a. O.):
- 1. Zunächst ist zu prüfen, ob eine geistige Störung (diagnostische Ebene) i. S. d. aufgezählten Krankheiten vorlag;
- 2. sodann ist zu prüfen, ob eine festgestellte geistige Störung den Ausschluss der erforderlichen Einsichts- und Handlungsfähigkeit zur Folge hatte (psychopathologische Ebene).
Dabei ist entscheidend, ob die psychischen Funktionen des Auffassens, des Urteilens und des kritischen Stellungnehmens durch die Geisteskrankheit oder -schwäche oder die Bewusstseinsstörung so sehr beeinträchtigt sind, dass der Erblasser nicht mehr fähig ist, die Bedeutung seiner letztwilligen Verfügung einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln (KG, a. a. O.).
b) Darlegungs-, Beweis- und Feststellungslast
Da der Erblasser so lange als testierfähig gilt, bis das Gegenteil (Testierunfähigkeit) feststeht (allg. M. BGH ZEV 12, 100), liegt die Darlegungs-, Beweis- und Feststellungslast bei demjenigen, der durch den Einwand der Testierunfähigkeit die Unwirksamkeit der Verfügung von Todes wegen geltend macht (OLG Rostock ZEV 24, 100). Deshalb hat die den Einwand geltend machende Partei im Zivilprozess die Tatsachen zur Voraussetzung der Testierunfähigkeit darzulegen und u. a. Beweis durch die Einholung eines Sachverständigengutachtens anzutreten (§§ 415 ff. ZPO).
Im Erbscheinsverfahren ist durch den Beteiligten die Darlegung dieser Tatsachen erforderlich. Denn Art und Umfang der Ermittlungen richten sich im Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit nach Lage des Einzelfalls. Der Grundsatz der Amtsermittlung (§ 26 FamFG) verpflichtet das Gericht nur, die zur Aufklärung des Sachverhalts dienlichen Beweise zu erheben. Das bedeutet nicht, dass allen denkbaren Möglichkeiten zur Erforschung des Sachverhalts nachgegangen werden müsste. Eine Aufklärungspflicht besteht nur insoweit, als das Vorbringen der Beteiligten und der festgestellte Sachverhalt bei sorgfältiger Überlegung dazu Anlass geben (BayObLG FamRZ 98, 1242). Führt das Nachlassgericht eine förmliche Beweisaufnahme durch, gelten nach § 30 Abs. 1 FamFG die Regeln der ZPO entsprechend, soweit das FamFG keine besonderen Regelungen enthält. Derjenige Beteiligte, der die Testierunfähigkeit des Erblassers zu seinen Gunsten geltend macht, muss diejenigen Tatsachen darlegen, deren Folge die Testierunfähigkeit sein kann. Der bloße Vortrag z. B., der Erblasser sei zum Zeitpunkt der Errichtung der Verfügung von Todes wegen aufgrund des Vorliegens einer Demenz vom Alzheimertyp testierunfähig gewesen, genügt nicht.
Beachten Sie | Allein vom Vorliegen einer Demenzerkrankung auch mittleren Grades darf nicht ohne Weiteres auf eine Testierunfähigkeit geschlossen werden (OLG Frankfurt ErbR 18, 516; OLG Düsseldorf 11.11.10, 3 Wx 40/10).
Beispiel für hinreichenden Vortrag |
Der Erblasser war zum Zeitpunkt der Errichtung der letztwilligen Verfügung testierunfähig i. S. d. § 2229 Abs. 4 BGB. Bei ihm wurde eine Demenz vom Alzheimertyp diagnostiziert. Schon Wochen vor der Errichtung des Testaments erkannte er seinen Sohn nicht mehr und konnte ersichtlich keine klaren Gedanken fassen. Er lebte in der Vergangenheit und sein Kurzzeitgedächtnis war nicht mehr vorhanden. Gegenüber seiner Tochter wurde er bei Besuchen im Altenheim übergriffig und beschimpfte sie grundlos. Stets warf er bei Besuchen seinen Kindern vor, dass diese Geldbeträge und Schmuck beiseitegeschafft hätten, was natürlich nicht zutraf. Seine Schrift war kaum noch lesbar, zittrig und enthielt Rechtschreib- und Grammatikfehler ohne Ende (vgl. AG Bamberg 2.8.22, RV 56 VI 1518/21). Beweis: Einholung eines Sachverständigengutachtens Vorlage der Originalschreiben vom […] und […] Über seinen Zustand können die behandelnden Ärzte und Pflegekräfte des Altenheims Auskunft erteilen. |
Das Gericht hat dann aufgrund des Amtsermittlungsgrundsatzes gemäß §§ 26, 30 Abs. 3 FamFG eine förmliche Beweisaufnahme über die Richtigkeit einer Tatsachenbehauptung durch Einholung eines Sachverständigengutachtens anzuordnen, wenn es seine Entscheidung maßgeblich auf die Feststellung der Tatsache stützen will und deren Richtigkeit in Bezug auf die Frage der Testierfähigkeit bestritten ist (KG FamRZ 21, 1754). Ob bei einer an Altersdemenz leidenden Person die Voraussetzungen der Testierfähigkeit vorliegen, kann nicht anhand einzelner Erklärungen und Angaben festgestellt werden, sondern nur aufgrund des Gesamtverhaltens und des Gesamtbildes der Persönlichkeit in der fraglichen Zeit (OLG Düsseldorf, a. a. O.).
Die Klärung der im Wesentlichen auf dem Gebiet des Tatsächlichen angesiedelten Frage, ob die Voraussetzungen der Testierunfähigkeit beim Erblasser gegeben waren, verlangt vom Gericht, die konkreten auffälligen Verhaltensweisen des Erblassers aufzuklären, sodann Klarheit über den medizinischen Befund zu schaffen und hieraus die zu ziehenden Schlüsse zu prüfen (vgl. KG ErbR 21, 854). Allein maßgebender Zeitpunkt für die Beurteilung der Testierfähigkeit ist dabei der Zeitpunkt der Errichtung des Testaments (BGH NJW 59, 1822). Verlangt wird dabei nicht eine absolute persönliche Gewissheit des Gerichts. Es reicht vielmehr für die Überzeugung des Gerichts ein für das praktische Leben brauchbarer Grad an Gewissheit, der Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen (KG, a. a. O.).
- Teil 2 des Beitrags in der nächsten Ausgabe zeigt anhand von Musteranträgen und einer Checkliste, wie Sie auf das Gutachten einwirken können.
AUSGABE: EE 10/2024, S. 172 · ID: 50148666