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DirektionsrechtIst eine 30-Minuten-Vorgabe zur Rufbereitschaft erlaubt?
| Frage: „Als Chefarzt habe ich mit großem Interesse Ihre Beiträge zur Rufbereitschaft gelesen (CB 03/2022, Seite 10 und CB 05/2022, Seite 3). Das Thema holt gerade unsere Klinik ein. Aus Ihren Artikeln bleibt für mich aber dennoch einiges unklar. In unserem Krankenhaus hat die Geschäftsführung eine Dienstanweisung zur Rufbereitschaft eingeführt (s. u.). Darin wird eine Zeitvorgabe von 30 min gemacht. Wie sehen Sie diesen Sachverhalt aus juristischer Sicht (Zeitvorgabe vs. freie Wahl des Aufenthaltsorts bei Rufbereitschaft)? Wie sollen wir am besten damit umgehen, wenn der Wohnort des diensthabenden Facharztes ca. 30 bis 40 min von der Klinik entfernt ist und im Arbeitsvertrag keine Wohnortbegrenzung (bspw. 100 km) besteht?“ |
Dienstanweisung des Krankenhausträgers an die Fachärzte (Auszug) |
„Die diensthabenden Fachärzte der Fachabteilungen der nachfolgend aufgeführten Fachabteilungen haben ihren Aufenthaltsort im Rahmen des fachärztlichen Ruf- bzw. Hintergrunddienstes so zu wählen, dass die Arbeitsaufnahme am Patienten innerhalb von 30 Minuten nach Information sichergestellt ist.“ |
Antwort: Ein einseitiges Bestimmungsrecht kann dem Arbeitgeber grundsätzlich durch Arbeitsvertrag, Tarifvertrag oder in Bezug genommene AVR eingeräumt werden (siehe Ende dieses Beitrags). Um die vorliegende Leserfrage für den konkreten Einzelfall beantworten zu können, wäre daher eine tiefergehende Prüfung der arbeitsvertraglichen Vereinbarungen notwendig. Die o. g. Dienstanweisung dürfte einer arbeitsgerichtlichen Prüfung nicht standhalten, wenn der Arbeitsvertrag bzw. die anzuwendenden Kollektivverträge nichts anderes regeln. Eine unbillige Weisung kann vorerst – zur Vermeidung einer (außerordentlichen oder ordentlichen) Kündigung unter dem Vorbehalt einer arbeitsgerichtlichen Prüfung befolgt werden (CB 11/2020, Seite 3).
Im Grunde gilt das Direktionsrecht des Arbeitgebers, aber …
Grundsätzlich gilt das sog. „Direktions- bzw. Weisungsrecht des Arbeitgebers“ nach § 106 S. 1 Gewerbeordnung (GewO). Danach kann der Arbeitgeber „Inhalt, Ort und Zeit der Arbeitsleistung nach billigem Ermessen näher bestimmen, soweit diese Arbeitsbedingungen nicht durch den Arbeitsvertrag, Bestimmungen einer Betriebsvereinbarung, eines anwendbaren Tarifvertrages oder gesetzliche Vorschriften festgelegt sind.“
… entspricht die Dienstanweisung auch „billigem Ermessen“?
In Ihrem Fall wird die o. g. Dienstanweisung erlassen, wonach eine Zeitvorgabe von 30 min angewiesen wird. Eine solche Dienstanweisung wäre also durch ein Arbeitsgericht am Maßstab des § 106 GewO i. V. m. § 315 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) zu messen. Mit anderen Worten: Eine Arbeitsrichterin / ein Arbeitsrichter würde prüfen, ob diese Dienstanweisung dem Grundsatz des „billigen Ermessens“ i. S. d. § 315 Abs. 3 BGB entspricht. Ferner würde das Arbeitsgericht prüfen, ob der jeweilige Arbeitsvertrag, anwendbare Tarifvertrag oder kirchliche Richtlinien (AVR) Regelungen zu Bereitschafts- und Rufbereitschaftsdiensten enthalten.
BAG erlaubt keine einseitige Festlegung des Begriffs „kurzfristig“ durch den Arbeitgeber
Schon im Jahr 2002 hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) eine einseitige Vorgabe des Arbeitgebers, bei Rufbereitschaft innerhalb von 20 min die Arbeit aufnehmen zu können, eine Absage erteilt und der Klage eines Krankenpflegers gegen einen Arbeitgeber, ein kirchliches Krankenhaus, stattgegeben. Streitig war, ob der Kläger verpflichtet ist, bei Rufbereitschaft innerhalb von 20 min nach Abruf die Arbeit aufzunehmen. Das BAG verneinte eine solche Verpflichtung: Der Kläger sei nicht verpflichtet, bei Rufbereitschaft die Arbeit innerhalb von 20 min nach Abruf aufzunehmen. Entgegen der Auffassung der Vorinstanz sei der beklagte Krankenhausträger nicht berechtigt, eine genaue Zeitspanne festzulegen, in welcher die Arbeit nach Abruf längstens aufzunehmen ist (BAG, Urteil vom 31.01.2002, Az. 6 AZR 214/00, Abruf-Nr. 200034).
Aus den Entscheidungsgründen |
Nach Anlage 5 § 7 Abs. 1 Unterabs. 1 AVR haben die Mitarbeiter auf Anordnung des Dienstgebers außerhalb der regelmäßigen Arbeitszeit Dienstleistungen in Form des Bereitschaftsdienstes oder der Rufbereitschaft zu erbringen. Für die Rufbereitschaft bestimmt Anlage 5 § 7 Abs. 3 AVR, dass sich der Mitarbeiter außerhalb der regelmäßigen Arbeitszeit an einem von ihm selbst gewählten, dem Dienstgeber oder dessen Bevollmächtigten anzuzeigenden Ort aufhält, um bei Abruf kurzfristig die Arbeit aufzunehmen. Dies bedeutet nicht, dass die Zeit zwischen dem Abruf und der Aufnahme der Arbeit 20 min nicht überschreiten darf. Der Begriff „kurzfristig“ in Anlage 5 § 7 Abs. 3 Unterabs. 1 AVR eröffnet dem Arbeitgeber entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts [Anm. d. Red.: Vorinstanz] nicht die Möglichkeit, die Zeit zwischen dem Abruf und der Arbeitsaufnahme zu konkretisieren und diese unter Beachtung der Grundsätze billigen Ermessens (§ 315 BGB) festzulegen. Ein solches Bestimmungsrecht, das grundsätzlich einer Arbeitsvertragspartei durch Tarifvertrag, einzelvertragliche Vereinbarung oder, wie hier, durch die arbeitsvertraglich in Bezug genommenen AVR, eingeräumt werden kann, sieht Anlage 5 § 7 Abs. 3 AVR nicht vor. Dazu wäre erforderlich, dass in der Vorschrift die Rufbereitschaft nicht abschließend geregelt wäre, sondern der Richtliniengeber nur Rahmenbedingungen aufgestellt und deren Konkretisierung Dritten – hier: dem Arbeitgeber – überlassen hätte (vgl. BAG, Urteil vom 28.11.1984, Az. 5 AZR 123/83, Bundesarbeitsgerichtsentscheidung [BAGE] 47, 238 und Az. 5 AZR 195/83, AP TVG § 4 Bestimmungsrecht Nr. 2 = EzA TVG § 4 Rundfunk Nr. 12; 05.08.1999, Az. 6 AZR 22/98, BAGE 92, 175 zu tariflichen Bestimmungsnormen). Dies ist jedoch hier nicht der Fall. Die Voraussetzungen der Rufbereitschaft sind in Anlage 5 § 7 Abs. 3 AVR abschließend geregelt. Die Bestimmung weist dem Arbeitgeber keine Konkretisierungsbefugnis zu. Der Arbeitgeber kann daher außerhalb der regelmäßigen Arbeitszeit Rufbereitschaft nur mit dem in Anlage 5 § 7 Abs. 3 AVR vorgegebenen Inhalt anordnen. |
- Ärzte in Rufbereitschaft: Sind Vorgaben zur Wegzeit erlaubt? (CB 03/2022, Seite 10 ff.)
- Sind Wegzeiten länger als 20 Minuten mit Rufbereitschaft vereinbar? (CB 05/2022, Seite 3)
- Unbillige Weisungen eines Trägers muss der Chefarzt nicht befolgen! (CB 11/2020, Seite 3)
AUSGABE: CB 11/2024, S. 14 · ID: 50183666