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VerzögerungsrügeEntschädigung für überlange Verfahrensdauer?
| Verzögert sich ein Gerichtsverfahren, weil der zuständige Richter länger erkrankt ist und nicht für eine ausreichende Vertretung gesorgt wird, kann das nach dem BSG eine Entschädigungspflicht des Staates begründen. |
Sachverhalt und Entscheidungsgründe
Abruf-Nr. 229844
Der Kläger begehrte zu Recht eine Entschädigung von 4.700 EUR für immaterielle Nachteile wegen eines vor dem SG Berlin über viereinhalb Jahre geführten Klageverfahrens gegen die Bundesagentur für Arbeit (BSG 24.3.22, B 10 ÜG 2/20 R, Abruf-Nr. 229844). Die lange Verfahrensdauer beruhte u. a. auf erheblichen Krankheitszeiten des zuständigen Kammervorsitzenden.
Relevanz für die Praxis
Das BSG hat über einen geradezu typischen Fall der überlangen Verfahrensdauer und den Entschädigungsanspruch nach § 198 GVG entschieden. Trotzdem kennen viele Rechtsanwälte diese Vorschrift nicht. Im Grundsatz erhält der betroffene Mandant aber bei einer überlangen Verfahrensdauer eine Entschädigung von 100 EUR für jeden Monat der Verzögerung. Es kann also sinnvoll sein, die Verzögerungsrüge nach § 198 Abs. 3 GVG als Voraussetzung für den Entschädigungsanspruch zu erheben, auch wenn man sich damit beim Gericht nicht beliebt macht.
Erkrankt ein Richter, ist der durch den Geschäftsverteilungsplan des Gerichts zur Vertretung bestimmte Richter für die Förderung des Verfahrens zuständig. Im Übrigen sind trotz oder wegen der Vertretung entstehende Verzögerungen ebenso wie andere Ausfallzeiten von Richtern grundsätzlich mit der von der Rechtsprechung angenommenen zwölfmonatigen Vorbereitungs- und Bedenkzeit abgegolten. Zwölf Monate Verfahrensdauer sind immer hinzunehmen – egal, wie schnell ein Verfahren entscheidungsreif ist –, auch wenn dies in der Praxis oft ärgerlich ist. Denn viele Verfahren sind nach dem Austausch von Klagebegründung und Klageerwiderung entscheidungsreif, schmoren aber bei den Gerichten vor sich hin, und es tut sich nichts.
Erzwingt eine längere Erkrankung die Umverteilung der Geschäfte durch das Präsidium, fallen dadurch entstehende Verzögerungen in den Verantwortungsbereich des Gerichts. Rechtsuchende brauchen sie wegen der gebotenen verfahrensfördernden Vertretung nicht entschädigungslos hinzunehmen.
Die staatliche Verantwortung mag für kurzfristige Verschiebungen anders zu bewerten sein, wenn sich der geschäftsplanmäßige Vertreter in der Kürze der verbleibenden Vorbereitungszeit nicht in die Sache einarbeiten kann. Dies hat nichts mit einer unzureichenden Ausstattung der Justiz im Allgemeinen zu tun. Vielmehr verlängert sich in dieser Konstellation die Verfahrenslaufzeit durch eine unvermeidbare Störung des Verfahrensablaufs, was keine Entschädigungspflicht begründet.
AUSGABE: AK 10/2022, S. 166 · ID: 48127327