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AGGKündigung ohne Zustimmung des Integrationsamts = Benachteiligung wegen Behinderung?

Abo-Inhalt25.01.20232045 Min. LesedauerVon RA Prof. Dr. Tim Jesgarzewski, FOM Hochschule Bremen

| Der Verstoß des ArbG gegen Vorschriften, die Verfahrens- oder Förderpflichten zugunsten schwerbehinderter Menschen enthalten, kann die vom ArbG widerlegbare Vermutung begründen, dass die Benachteiligung wegen der Schwerbehinderung erfolgte. Dies kann der Fall sein, wenn die Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines schwerbehinderten Menschen durch den ArbG der vorherigen Zustimmung des Integrationsamts bedarf. |

Sachverhalt

Die Parteien streiten über eine entschädigungspflichtige Benachteiligung wegen der Behinderung. Der ArbN war als Hausmeister beschäftigt und im Wege der Personalgestellung an einer städtischen Grundschule tätig. Dann erkrankte er arbeitsunfähig. Hierüber wurden Mitarbeiter des ArbG durch die spätere vorläufige Betreuerin des ArbN in Kenntnis gesetzt. Am nächsten Tag kündigte die Stadt den Personalgestellungsvertrag. Rund zwei Monate später kündigte der ArbG das mit dem ArbN bestehende Arbeitsverhältnis unter Hinweis darauf, dass der Gestellungsvertrag ende. Nachdem der ArbN Kündigungsschutzklage erhoben hatte, wurde das Verfahren durch einen arbeitsgerichtlichen Vergleich erledigt.

Nun begehrt der ArbN eine Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG. Er ist der Ansicht, der ArbG habe ihn wegen seiner (Schwer-)Behinderung benachteiligt. Dies ergebe sich daraus, dass der ArbG bei der Kündigung des Arbeitsverhältnisses gegen Vorschriften verstoßen habe, die Verfahrens- bzw. Förderpflichten zugunsten schwerbehinderter Menschen enthielten. Insbesondere habe er nicht ohne vorherige Zustimmung des Integrationsamts kündigen dürfen. Seine Schwerbehinderung sei zum Zeitpunkt der Kündigung offenkundig gewesen. Er habe im Februar des Jahres einen Schlaganfall erlitten und mit halbseitiger Lähmung auf der Intensivstation gelegen. Dies sei dem ArbG entsprechend mitgeteilt worden. Es sei daher unschädlich, dass die Eigenschaft als Schwerbehinderter zu diesem Zeitpunkt weder festgestellt, noch beantragt war. Die Vorinstanzen wiesen die Klage ab (LAG Sachsen-Anhalt, 26.1.21, 6 Sa 29/19, Abruf-Nr. 232772).

Entscheidungsgründe

Auch die dagegen gerichtete Revision des ArbN vor dem BAG (2.6.22, 8 AZR 191/21, Abruf-Nr. 231858) war erfolglos. Er könne vom ArbG keine Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG verlangen. Zwar habe der ArbN durch die Kündigung seines Arbeitsverhältnisses eine unmittelbare Benachteiligung erfahren. Er habe aber nicht dargelegt, dass die Benachteiligung wegen seiner (Schwer-)Behinderung erfolgte.

Zwar könne der Verstoß des ArbG gegen § 168 SGB IX im Einzelfall die vom ArbG widerlegbare Vermutung im Sinne von § 22 AGG begründen, dass die Schwerbehinderung zumindest mitursächlich für die Benachteiligung gewesen sei. Allerdings habe der ArbN einen Verstoß des ArbG gegen diese Bestimmung nicht schlüssig dargetan.

Der Umstand, dass der ArbN rund zwei Monate vor der Kündigung einen Schlaganfall erlitten und mit halbseitiger Lähmung auf der Intensivstation behandelt worden sei, sei kein Umstand, nach dem im Zeitpunkt der Kündigung durch den ArbG von einer offenkundigen Schwerbehinderung auszugehen gewesen wäre.

Relevanz für die Praxis

Die Entscheidung ist nicht wegen ihres Ergebnisses, sondern aufgrund der Entscheidungsgründe von hoher Praxisrelevanz. Vorliegend konnte der ArbN keine Entschädigung nach dem AGG beanspruchen, weil bereits seine Schwerbehinderung nicht feststand bzw. offenkundig war. Es bedurfte daher keiner weiterführenden Feststellungen zu einer möglichen Benachteiligung nach dem AGG.

Dennoch nutzte der 8. Senat die Gelegenheit und nahm ausführlich zur Frage einer möglichen Benachteiligung wegen der Behinderung Stellung. Wenn unter Verstoß gegen den Sonderkündigungsschutz für schwerbehinderte ArbN gekündigt wird, kann dies eine solche Benachteiligung indizieren. Es wäre dann nach der Beweislastregelung des § 22 AGG Sache des ArbG, dieser Vermutung entgegenzutreten. Gelingt dem ArbN die Darlegung eines Indizes für eine Benachteiligung nach dem AGG, muss der ArbG dem entgegentreten und die gesetzliche Vermutung widerlegen. Dem AGG kommt daher im Verhältnis zum Sonderkündigungsschutz für schwerbehinderte ArbN eine eigenständige Bedeutung zu. Die Möglichkeit einer verschuldensunabhängigen Entschädigung und eines bezifferbaren Schadenersatzes kann allein durch eine Missachtung des Sonderkündigungsschutzes bestehen.

AA-Grafik_Kündigung ohne Zustimmung des Integrationsamts.eps (© IWW Institut)
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© IWW Institut

AUSGABE: AA 2/2023, S. 23 · ID: 49016679

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