Sie sind auf dem neuesten Stand
Sie haben die Ausgabe Nov. 2024 abgeschlossen.
ZR-Fachgespräch„Ein KI-Tool sollte zum eigenen Workflow passen!“
| Die Anwendung von KI in der Zahnarztpraxis verspricht Fortschritte in der Diagnostik, Behandlung und Therapie von Zahnerkrankungen, aber auch Unterstützung in allen Prozessen der Patientenkommunikation. Warum der Einsatz von KI wegweisend für die Zukunft ist, erläutert Prof. Dr. Falk Schwendicke, Direktor der Poliklinik für Zahnerhaltung und Parodontologie am LMU-Klinikum in München (lmu-klinikum.de/zep) und KI-Experte sowie Entwickler eines KI-Tools zur Röntgenbildanalyse, im ZR-Fachgespräch mit Dr. med. dent. Ulrike Oßwald-Dame. Schwendicke erläutert z. B. auch, warum und anhand welcher Kriterien Zahnärztinnen und Zahnärzte ein KI-System zur diagnostischen Bildgebung auswählen sollten. |
Redaktion: Herr Prof. Schwendicke, wie viele Praxen in Deutschland nutzen bereits KI-gestützte Bilddiagnostik?
Schwendicke: Leider gibt es dazu keine belastbaren Zahlen. Ich gehe von zwei- bis dreitausend aus.
Redaktion: Mit der KI-gestützten Analyse von Röntgenbildern ist heute eine sichere und automatisierte Auswertung möglich. Wie viel sicherer ist diese insbesondere bei approximalen Läsionen im Verhältnis zur Detektion mittels Bissflügelaufnahmen durch Zahnärzte und Zahnärztinnen?
Schwendicke: Mit dem Röntgen als Kariesdetektionsmethode, vor allem unter Einsatz von Bissflügelbildern, werden ca. 50 Prozent der Läsionen gefunden, 50 Prozent werden übersehen. Man spricht hier auch von der Sensitivität, die die Detektionsrate beschreibt. Im Vergleich dazu finden wir bei KI-Systemen eine Sensitivität von 70 bis 80 Prozent. Diese Angabe schwankt in Abhängigkeit u. a. des verwendeten Systems, der Lokalisation der Läsionsflächen und den zugrunde liegenden Studien. Tatsächlich kann man von einer mindestens um die Hälfte höheren, vielleicht sogar einer doppelten Sensitivität ausgehen. Das entspricht in etwa auch den Daten der ersten Studien aus den Jahren 2020 und 2021 und wird auch immer wieder in größeren neuen Metaanalysen zu diesem Thema bestätigt.
Redaktion: Als die ersten Systeme zur KI-gestützten Bilddiagnostik auf den Markt kamen, spielte es eine Rolle, wer womit (wie viel) die KI „gefüttert“ hat. Ist die Qualität der heute angebotenen Systeme inzwischen so gut und „gleich“, dass der Zahnarzt bedenkenlos dazwischen aussuchen kann?
Schwendicke: Ich glaube nicht, dass die erhältlichen Systeme gleich sind. Es gibt mittlerweile auch amerikanische Hersteller, die ihre Bilddiagnostiksysteme auf dem deutschen Markt anbieten. Wo diese ihre Trainingsdaten generieren, weiß weder ich noch jemand anders, weil die Hersteller diese Daten nicht preisgeben. Den Nutzern werden oft selektive Zahlen vorgelegt und selbst die Zahlen, auf deren Grundlage die Zertifizierung durch die regulatorischen Behörden erfolgt, basieren auf herstellereigenen Datensätzen.
Das heißt im Umkehrschluss, dass wir Systeme vorliegen haben, die unterschiedlich sind und wir nicht sagen können, welches Produkt das Bessere und welches das Schlechtere ist bzw. welches besser oder schlechter funktioniert. Weil die Angaben auf Datensätzen beruhen, die nicht vergleichbar sind. Genau deshalb fand Anfang August eine von uns organisierte Tagung in München im Rahmen der WHO-Initiative statt, die sich für einheitliche Qualitätsstandards für KI-Systeme einsetzt. Unser Ziel ist es, dass Bilddiagnostiksysteme an einheitlichen repräsentativen Datensätzen evaluiert werden. Nur dann können wir beurteilen, welches das Bessere ist.
Anders als dentalXrai publizieren die meisten Hersteller auch nicht in Studien, sodass wir auch keine Möglichkeiten haben, die Qualität eines Tools zumindest auf einem wissenschaftlichen Setting einmal zu bewerten.
Redaktion: Wie können Praxen dann das für sie richtige System finden?
Schwendicke: Zunächst empfehle ich, das Tool auszuprobieren und dabei für sich zu klären, ob es zum eigenen Workflow passt, ob es das macht, was sich der Kollege bzw. die Kollegin wünscht, ob es die entsprechenden Funktionalitäten hat etc. Das sind normale Entscheidungen, die er oder sie bei anderen Anschaffungen auch treffen wird. Darüber hinaus muss man natürlich den Vertreter des jeweiligen Produktes fragen, an welchen Daten das Produkt trainiert und getestet worden ist.
Wir wissen mittlerweile, dass die Herkunft der Daten eine große Rolle spielt, handelt es sich z. B. nur um südkoreanische oder mexikanische Daten oder zumindest um europäische Daten. Auch die Vielfalt der Daten ist eine relevante Größe: Handelt es sich nur um einen Datensatz aus einem Zentrum, dann ist es meistens auch nur ein Röntgengerät. Auch das ist ein Problem, weil natürlich auch die Geräte unterschiedliche Bilder generieren. Alles das sollte der Hersteller oder sein Vertreter erklären können.
Redaktion: Arbeiten Sie selbst mit einer KI-gestützten Spracherkennungssoftware?
Schwendicke: Nicht mit einer dafür eigens entwickelten Software. Wenn ich Texte diktiere, nutze ich dafür die Diktierfunktion von Word, das funktioniert zumindest ausreichend.
Im medizinischen Bereich gibt es noch gar nicht so viele, im zahnmedizinischen Bereich so gut wie gar keine Software, die die Fachsprache funktionieren lässt. Darüber hinaus nutzen die meisten der Produkte, die sich in der Entwicklung befinden, vortrainierte Chatbots oder Sprachmodelle. Da dieses Training aber weitestgehend auf Englisch erfolgt, muss ich die Software noch mal auf Deutsch nachtrainieren. Leider gibt es nicht so sehr viele Sprachbibliotheken. Deshalb müssen wir in einer großen Initiative deutsche medizinische Sprachbibliotheken generieren, damit diese Modelle daran nachtrainiert werden können und dann auch genauso gut in der deutschen Medizinsprache funktionieren, wie sie vielleicht im Englischen über Autos oder Flugzeuge sprechen können.
Redaktion: Mir berichtete ein in der MKG Beschäftigter, dass er mit der externen, aber kompatiblen Spracherkennungssoftware Dragon gut arbeitet und keine Sprachsteuerung benötigt, die direkt in die Praxissoftware integriert ist.
Schwendicke: Ja, es gibt beide Möglichkeiten, Integration oder Stand-alone-Produkt. Dragon ist allerdings auch nur ein Diktiertool, das normale Wörter kennt – lateinische Anatomiebegriffe oder Fachwörter aus der Pathologie wird es von sich aus nicht kennen.
Redaktion: In der Tat müssen und können dem Programm in der Anwendung zahnmedizinische Begriffe beigebracht werden. Wechseln wir zu einem anderen Produkt: Was halten Sie von einem System wie DentalMonitoring, bei dem mithilfe eines Scan-Aufsatzes und dem Handy kieferorthopädische Patienten mit der entsprechenden App Bilder ihrer intraoralen Situation dem Behandler übermitteln können, um nächste Termine und Behandlungen abzustimmen. Ist das ein gutes Modell der Zukunft?
Schwendicke: Nicht nur DentalMonitoring, auch Invisalign hat so etwas, möglicherweise haben auch andere Aligner-Hersteller nachgezogen, das weiß ich nicht. Aus medizinischer Sicht betrachtet, kann dieses Modell gerade für Gruppen, die aus verschiedenen Gründen gar nicht so oft in die Zahnarztpraxis gehen können, durchaus sehr sinnvoll sein. In diesem Zusammenhang denke ich z. B. an Länder, in denen die aufsuchende Betreuung ein Problem ist oder wo die Distanzen zu groß sind. Das wird im ländlichen Raum sicherlich auf Deutschland eines Tages auch zutreffen. Insofern stehe ich solchen Systemen sehr positiv und aufgeschlossen gegenüber.
Redaktion: Welche KI-gestützten Anwendungen erwarten Sie, die in naher Zukunft in der Zahnarztpraxis Bedeutung haben werden? Ich denke da z. B. an sprachgesteuerte Chairside-Assistance-Systeme, KI zur Früherkennung von oralen Tumorerkrankungen oder natürlich alles, was im Bereich Praxismanagement automatisiert werden kann.
Schwendicke: Ja, Sie haben es gesagt, der komplette Bereich der Sprachbearbeitung wird für das Assistenzpersonal wichtig werden wie die Abrechnung und Dokumentation, das Erstellen von Arztbriefen, Überweisungen oder das Eintragen des Befundes. Dafür brauche ich nicht mehr die ganze Zeit eine Helferin neben mir zu haben. Gerade in Zeiten des zunehmenden Fachkräftemangels könnte es notwendig werden, dass das künftig eine KI übernehmen kann.
Außerdem werden wir mittelfristig mehr mit Virtual/Augmented Reality Dentistry in unseren Praxen arbeiten, meiner Einschätzung nach insbesondere in der Therapieunterstützung.
Ein weiteres mittelfristiges Thema ist die Robotik, die ja gerade sehr intensiv in den USA diskutiert wird. Ich habe mir den Anfang August vorgestellten Dentalroboter, bei dem u. a. Zahnarzt Dr. Edward Zuckerberg, Vater des Meta-Chefs Mark Zuckerberg, als einer der Hauptinvestoren auftritt, etwas genauer angeschaut. Sehr viel bekommt man dazu leider nicht heraus, aber es ist interessant. Dieser Roboter soll eines Tages auch Kavitäten für restaurative Versorgungen präparieren können.
Der nächste große Trend, der noch in den Kinderschuhen steckt, ist die Prädiktionszahnmedizin. Darunter verstehen wir eine Zahnmedizin aufgrund Vorhersagen, d. h., aufgrund einer Datenlage wissen wir, was mit einem Zahn in den nächsten fünf oder zehn Jahren passieren wird, um ihn dann individualisiert behandeln zu können.
Redaktion: Kommt die Praxis der Zukunft in fünf Jahren noch ohne KI aus?
Schwendicke: Ja, das glaube ich schon. Die Prozesse sind noch nicht so schnell, als dass KI in fünf Jahren zwingend erforderlich ist. Mittelfristig gesehen, können sich diese KI-Tools zu einem gewissen Standard entwickeln. Das hat man in anderen Bereichen schon gesehen – wenn man wirklich nachweisen kann, dass etwas besser ist, warum sollte man nicht sagen: Das ist jetzt State of the Art, bitte benutzt das. Aber wie gesagt, es wird eine lange Zeit noch einen Mix aus analog und digital und KI-Unterstützung und nicht KI-Unterstützung geben.
Redaktion: Noch sind nicht alle Behandler und Behandlerinnen von KI begeistert. Wie können solche Hürden abgebaut werden?
Schwendicke: Eine Veränderung von Prozessen verändert Arbeitsweisen, was mit Skepsis verbunden sein kann. Meiner Erfahrung nach sind die Skills, die für die Nutzung dieser neuen Assistenzsysteme gerade bspw. im Bereich des Praxismanagements benötigt werden, keine große Herausforderung, vieles geht intuitiv, ähnlich der Bedienung eines Smartphones, weil diese Tools im Geiste moderner Software entwickelt wurden.
Zum einen müssen wir die Nützlichkeit von KI-Tools hervorheben, denn wir wollen KI ja nicht staatlich verordnen wie die Telematik-Infrastruktur und andere Dinge, die nur bedingt nützlich sind, sondern wir wollen, dass Praxen KI freiwillig nutzen.
Zum anderen müssen wir die Tools durch Regulatorik, entsprechende Rahmenbedingungen und Flankierungen wirklich sicher machen. Und wir müssen u. a. sicherstellen, dass die Tools für jeden Patienten funktionieren und Patienten nicht die Verzerrungen aus den Daten mittragen.
- Bereits im ZR 02/2022, Seite 9 sprachen wir mit Prof. Schwendicke über das Thema „KI in der Zahnmedizin“, u. a. über die Möglichkeiten der KI-Software dentalXrai Pro.
- Eine Übersicht zum Thema lesen Sie im Beitrag „KI in der Zahnmedizin“, ebenfalls im ZR 02/2022, Seite 7.
- MIH: mehr Diagnosesicherheit mit Künstlicher Intelligenz (KI)(ZR 03/2023, Seite 1)
- Placeboeffekt: KI-Nutzer sind risikobereiter (ZR 09/2023, Seite 2)
- KI-Diagnostik: Früherkennung von Mundhöhlenkrebs via Speicheltest (ZR 09/2023, Seite 3)
- Digitale Prozesskette: Das Internet of Things (ZR 02/2022, Seite 19)
AUSGABE: ZR 11/2024, S. 6 · ID: 50132084