Sie sind auf dem neuesten Stand
Sie haben die Ausgabe Juni 2023 abgeschlossen.
Interview„Patienten nicht mehr zu behandeln, weil sie gebrechlich sind, finde ich unanständig!“
| Obwohl Templin (die Heimatstadt von Ehrenbürgerin Angela Merkel) in der Uckermark nur 15.540 Einwohner (Stand 31.12.2021) hat, ist es der Fläche nach die achtgrößte Stadt Deutschlands. Auf einem Quadratkilometer leben 41 Menschen (in Berlin sind es 4.123), die sich für die zahnmedizinische Versorgung zum Teil auf einen weiten Weg machen müssen. Es sei denn, die Zahnärztin kommt zu ihnen. Dr. med. dent. Kerstin Finger hat ihre Praxis im Zentrum von Templin, fährt jedoch einmal pro Woche zu Hausbesuchen. Seit dem Jahr 2010 ist sie als mobile Zahnärztin unterwegs, fuhr seitdem etwa 60.000 Kilometer. Im Gespräch mit Ursula Katthöfer (textwiese.com) schildert sie ihre Motivation. |
Frage: Wen behandeln Sie in den eigenen vier Wänden?
Antwort: Ich besuche mobilitätseingeschränkte Menschen. Das sind in erster Linie pflegebedürftige ältere Personen, aber auch Menschen mit Behinderungen, beatmete Patienten und neuerdings immer öfter Menschen mit Fatigue-Syndrom. Die Patienten kämen vielleicht noch aus dem Bett, doch eine Behandlung in der Praxis könnte zu einem Zusammenbruch führen. Diese Patientengruppe erhält mittlerweile wegen der Ähnlichkeit zu Long-Covid mehr Aufmerksamkeit.
Frage: Wen und was bringen Sie zu den Hausbesuchen mit?
Antwort: In der Regel fahre ich mit zwei ZFA. Während eine Mitarbeiterin beim Abdruck assistiert, dokumentiert die andere. Im Auto haben wir einen Koffer mit einer mobilen Einheit, die ich in der Küche oder im Wohnzimmer aufbaue. Dazu gehören ein Schnellläuferhandstück mit Absaugung und CTG sowie eine Spritze mit Luft und Wasser. Das Wasserreservoir befüllen wir vor Ort und fangen das Wasser beim Absaugen wieder auf. Zangen, Tupfer, Anästhesie, Becher, Besteck, Abform- und Füllungsmaterial – wir haben alles dabei. Sobald wir etwas aus dem Auto verwenden, ersetzen wir es sofort, sodass wir jederzeit zu einem Patienten aufbrechen könnten.
Frage: Was behandeln Sie und was ersetzt den Behandlungsstuhl?
Antwort: Wir erweitern Prothesen, ziehen Zähne, machen Füllungen, reinigen die Zähne – was immer in der Praxis auch geschieht. Ich habe auch schon für eine Einzelkrone präpariert. Viele Patienten sitzen im Rollstuhl oder in ihrem Fernsehsessel. Dann muss ich auf die Knie. Ganz schlimm ist ein Küchenstuhl. Etwa zehn Prozent sind bettlägerig, zu ihnen komme ich ans Bett.
Frage: Stellen Sie manchmal fest, dass der Patient doch in die Praxis kommen müsste, z. B. zum Röntgen?
Antwort: Sehr selten. Häufiger als wegen eines fehlenden Röntgengeräts können wir wegen einer eingeschränkten Behandlungsbereitschaft bzw. Anästhesiemöglichkeit nicht behandeln. Etwa wenn bei einem Tremor-Patienten im Unterkiefer eine Spritze gesetzt werden muss und er den Mund nicht lang genug aufhalten kann. Dann nicht zu behandeln, ist ein großes Problem, denn unser Gesundheitssystem ist auf diese Personengruppe überhaupt nicht vorbereitet. Sie wurde im SGB V vergessen. Für ambulante Anästhesisten ist der Besuch bei einem multimorbiden Patienten nicht wirtschaftlich. Und stationäre Möglichkeiten fehlen.
Frage: Wie viel haben Sie in die mobile Praxis investiert? Gab es Fördermittel?
Antwort: Wir haben ca. 50.000 Euro investiert. Ein Drittel davon haben wir als Fördermittel aus den Fonds der EU und des Landes Brandenburg erhalten. Kurios ist, dass wir unter dem Aspekt der Demografie und Entwicklung im ländlichen Raum gefördert wurden. Die Mittel kamen nicht vom Gesundheitsministerium.
Frage: Rechnet sich die mobile Praxis?
Antwort: Als Kassenzahnärztin muss ich meine Präsenzsprechstunden in einer Praxis mit festem Standort leisten. Die mobile Behandlung ist ein Add-on. Als ich 2010 anfing, schrieb ich rote Zahlen. Es gab nur einen minimalen Zuschlag und das Wegegeld. Das hat sich deutlich verbessert. Da ich auch mit Heimen Kooperationsverträge schließen und mit Pflegediensten Pflegeanweisungen vereinbaren kann, ist das mobile Arbeiten wirtschaftlicher. Doch die Zeit, die ich auf der Straße verbringe, honoriert niemand.
Frage: Warum tun Sie das? Was ist Ihr Antrieb?
Antwort: Auf Kosten der Gesellschaft durfte ich einen der teuersten Studiengänge absolvieren. Ich finde es daher völlig in Ordnung, dieser Gesellschaft etwas zurückzugeben. Mit welchem Recht soll ich langjährigen Patienten die Behandlung verweigern, wenn sie gebrechlich werden? Das fände ich unanständig.
Frage: Was empfehlen Sie Kollegen, die es Ihnen gleichtun möchten?
Antwort: Entscheidend sind die eigene Einstellung und der gemeinsame Wille des Teams, pflegebedürftige Menschen zu Hause zu behandeln. Wenn Patienten zu mir in die Praxis kommen, haben sie eine gewisse Ehrfurcht vor der „Frau Doktor“ und der fremden Umgebung. In den eigenen vier Wänden kehren sich die Rollen um. Dort bin ich Gast, ich nehme eine dienende Haltung ein. Wenn diese Rollenumkehr gelingt, entsteht eine besondere Beziehung, die in keinem Lehrbuch beschrieben werden kann. Dann können z. B. bei demenziell erkrankten Menschen Dinge behandelt werden, die in der Praxis nicht gingen. Die Ausbildung in der Deutschen Gesellschaft für Alterszahnmedizin (DGAZ) ist dringend zu empfehlen. Dort lernt man, wie man die Patienten lagert, um sie sicher zu behandeln oder wie man mit demenziell Erkrankten spricht. Die DGAZ unterstützt auch bei der Umsetzung (dgaz.org).
AUSGABE: ZP 6/2023, S. 18 · ID: 49040267