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Gesetzliche GebührenDie Zusatzgebühr fällt für besonders umfangreiche Beweisaufnahmen an
| Die Gebühr nach Nr. 1010 VV RVG soll in bestimmten Ausnahmen Ausfälle kompensieren, die mit dem Wegfall der früheren Beweisgebühr nach der BRAGO durch das 2. KostRMoG entstanden sind: Der mit besonders umfangreichen Beweisaufnahmen anfallende Mehraufwand wird durch die Zusatzgebühr bzw. durch eine Anhebung der Terminsgebühr ausgeglichen. In der Praxis kommt dies zwar eher selten vor. Aktuelle Entscheidungen geben jedoch Anlass, sich mit der Zusatzgebühr näher zu befassen. |
1. Anwendungsbereich
Nr. 1010 VV RVG gilt in allen Verfahren nach Teil 3 VV RVG, auch in Familiensachen. Um welche Art Verfahren es sich dabei handelt, ist unerheblich. Sie gilt sowohl für Verfahren, in denen nach dem Gegenstandswert abgerechnet wird (§ 2 Abs. 1 RVG), als auch in Verfahren, in denen nach Betragsrahmen abzurechnen ist (§ 3 Abs. 1 RVG).
Praxistipp | Nr. 1010 VV RVG ist nicht auf Erkenntnisverfahren beschränkt, sondern kann auch in anderen Verfahren greifen, z. B. in einem selbstständigen Beweisverfahren. Sie gilt auch für einen Terminsvertreter oder einen Beweisanwalt (Nr. 3401 VV RVG). Sie kann theoretisch ebenso für den Verkehrsanwalt (Nr. 3400 VV RVG) gelten, da eine Teilnahme an den Terminen nicht Tatbestandsvoraussetzung ist (s. u. 3.). |
2. Voraussetzungen
Voraussetzungen der Zusatzgebühr bzw. der Gebührenerhöhung sind
- mindestens drei gerichtliche Termine, in denen Sachverständige oder Zeugen vernommen worden sind, und
- eine besonders umfangreiche Beweisaufnahme
Merke | Beide Voraussetzungen müssen kumulativ erfüllt sein. Die Gebühr entsteht daher nicht, wenn in weniger als drei gerichtlichen Terminen Sachverständige oder Zeugen vernommen werden. Eine entsprechende Anwendung auf andere Fälle umfangreicher Beweisaufnahmen scheidet aus (OLG München AGS 20, 374; OLG Hamburg AGS 24, 164). Strittig ist allerdings, ob drei Termine bereits zwingend eine besonders umfangreiche Beweisaufnahme indizieren (s. u. 4.). |
a) Mindestens drei gerichtliche Vernehmungstermine
Erforderlich ist, dass mindestens drei gerichtliche Termine zur Vernehmung von Zeugen oder Sachverständigen stattgefunden haben. Die Termine müssen in derselben Angelegenheit i. S. d. § 15 RVG stattgefunden haben, also in demselben Rechtszug (siehe § 17 Nr. 1 RVG).
Beachten Sie | Das selbstständige Beweisverfahren und das Hauptsacheverfahren oder ein Verfahren vor und nach Zurückverweisung stellen jeweils gesonderte Angelegenheiten dar. Es muss also in jeder Angelegenheit gesondert gezählt werden. Wird derselbe Zeuge oder derselbe Sachverständige in mehreren Terminen vernommen, zählen diese Termine gesondert. Andererseits ist es unerheblich, wie viele Zeugen oder Sachverständige in einem Termin vernommen worden sind.
Merke | Kommt es nicht mehr zur Vernehmung des geladenen Sachverständigen oder des Zeugen, reicht dies zur Entstehung der Gebühr nicht aus. Dies gilt auch, wenn der Sachverständige oder der Zeuge erschienen ist. Das ist z. B. der Fall, wenn
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Termine zur Vernehmung eines Zeugen müssen solche nach §§ 394 ff. ZPO oder nach vergleichbaren Vorschriften anderer Verfahrensordnungen sein. Schriftliche Zeugenaussagen nach § 377 Abs. 3 ZPO zählen nicht hierzu. Unerheblich ist, ob der Zeuge vor dem erkennenden Gericht, dem beauftragten oder ersuchten Richter vernommen worden ist. Erforderlich ist eine Vernehmung des Zeugen. Dazu reicht bereits die Vernehmung zur Person, auch wenn er sich zur Sache auf ein Zeugnis- oder Aussageverweigerungsrecht beruft. Die bloße Ladung genügt allerdings nicht.
Termine zur Vernehmung eines Sachverständigen müssen solche nach § 411 Abs. 3 ZPO oder nach vergleichbaren Vorschriften anderer Verfahrensordnungen sein. Schriftliche Gutachten sowie Termine, die von einem gerichtlichen Sachverständigen anberaumt worden sind (OLG München AGS 20, 374), zählen nicht hierzu, da es sich insoweit nicht um gerichtliche Termine handelt. Das ergibt sich eindeutig aus der Unterscheidung in Vorbem. 3 Abs. 3 S. 1 und S. 3 Nr. 1 VV RVG. Abgesehen davon wird der Sachverständige nicht vernommen, wenn er selbst einen Termin abhält. Die gegenteilige Auffassung (LG Ravensburg AGS 16, 393) ist nicht mit dem Gesetz zu vereinbaren.
b) Keine Voraussetzung: Terminsteilnahme
Nach dem ausdrücklichen Wortlaut der Nr. 1010 VV RVG ist die Teilnahme des Anwalts am Termin nicht erforderlich (Gerold/Schmidt/Mayer, RVG, 26. Aufl., Nr. 1010 VV Rn. 2; Hansens, RVGreport 14, 410; a. A. Enders, JurBüro 13, 449). Die Teilnahme an Terminen wird durch die Terminsgebühr abgegolten. Um eine Terminsgebühr handelt es sich aber bei Nr. 1010 VV RVG gerade nicht, sondern um eine Zusatzgebühr, die besonderen Aufwand abdecken soll. Dieser Aufwand kann sich unabhängig von der Teilnahme an Terminen ergeben. Auch der Tatbestand der Nr. 1010 VV RVG setzt nicht voraus, dass die Termine besonders umfangreich gewesen sein müssen, sondern das Verfahren als solches. So muss sich ein Anwalt mit den Beweiserhebungen auch dann auseinandersetzen und diese würdigen, wenn er nicht am Termin teilgenommen hat. Dies entspricht der Rechtslage zur früheren Beweisgebühr nach der BRAGO.
c) Besonderer Umfang
Es muss eine „besonders umfangreiche Beweisaufnahme“ stattgefunden haben. Eine bloß umfangreiche Beweisaufnahme genügt somit nicht. Strittig ist, ob es allein schon ausreicht, dass drei gerichtliche Termine zur Vernehmung von Sachverständigen oder Zeugen stattgefunden haben:
- Zum Teil wird vertreten, dass es sich bei dem Erfordernis von „mindestens drei gerichtlichen Terminen, in denen Sachverständige oder Zeugen vernommen werden“, um eine Legaldefinition des besonderen Umfangs der Beweisaufnahme handele bzw. dass der besondere Umfang durch drei Beweistermine indiziert werde (Gerold/Schmidt/Mayer, a. a. O., Nr. 1010 VV RVG Rn. 1; HK-RVG/Erik Kießling, Nr. 1010 VV RVG Rn. 4; letztlich offenlassend, aber in der Tendenz ebenso: OLG München AGS 20, 374; OLG Hamburg AGS 24, 218). Es erscheine systemwidrig, das Entstehen einer Pauschalgebühr vom Umfang der anwaltlichen Tätigkeit abhängig zu machen.
- Dagegen spricht jedoch der eindeutige Wortlaut, der neben den drei Terminen nicht nur eine umfangreiche, sondern sogar eine besonders umfangreiche Beweisaufnahme fordert. Es ist auch nicht systemwidrig, eine Gebühr vom Umfang der anwaltlichen Tätigkeit anhängig zu machen (siehe Anm. Abs. 1 zu Nr. 2300 VV RVG; Nr. 2301 VV RVG; §§ 41, 51 RVG).
Beispiel 1 |
In einem Verfahren kommt es zu drei Beweisterminen, in denen jeweils ein Zeuge für jeweils zehn Minuten vernommen wird. Lösung Von einem besonderen Umfang der Beweisaufnahme kann nicht ausgegangen werden. Eine Zusatzgebühr entsteht nicht. |
Andererseits fordert der Wortlaut nicht, dass sich der besondere Umfang gerade aus der Vernehmung von Sachverständigen oder Zeugen ergeben muss. Es genügt, dass die Beweisaufnahme insgesamt besonders umfangreich war.
Beispiel 2 |
Wie Beispiel 1. Vor der Vernehmung der Zeugen war es zu zahlreichen und umfangreichen Sachverständigenterminen und mehreren Gutachten gekommen. Lösung Jetzt kann ein besonderer Umfang vorliegen, sodass durch die drei Zeugenvernehmungstermine die Zusatzgebühr ausgelöst wird. |
3. Gebührenhöhe
Wie sich die besonders umfangreiche Beweisaufnahme auf die Vergütung auswirkt, hängt davon ab, ob sich die Gebühren gemäß § 2 Abs. 1 RVG nach dem Gegenstandswert richten oder ob gemäß § 3 Abs. 1 RVG nach Betragsrahmen abzurechnen ist.
a) Wertgebühren
Bei der Abrechnung nach Wertgebühren entsteht eine gesonderte Zusatzgebühr, die neben den anderen Gebühren (wie Verfahrens-, Termins- und ggf. Einigungsgebühr) entsteht. Die Gebühr muss daher auch in der Rechnung gesondert ausgewiesen werden (§ 10 RVG). Die Gebühr kann in jedem Rechtszug erneut anfallen (§ 17 Nr. 1 RVG), sodass sie im Verlauf eines Rechtsstreits mehrmals entstehen kann.
Die Höhe des Gebührensatzes beträgt immer 0,3. Das gilt unabhängig davon, in welcher Instanz die Gebühr anfällt. Eine Erhöhung im Rechtsmittelverfahren ist nicht vorgesehen. Auch eine Erhöhung der Zusatzgebühr bei mehreren Auftraggebern nach Nr. 1008 VV RVG findet nicht statt, da es sich nicht um eine Verfahrensgebühr handelt.
Maßgebender Gegenstandswert ist der Gesamtwert der Gegenstände, über die Beweis erhoben worden ist (§ 23 Abs. 1 S. 1, § 39 Abs. 1 GKG, § 33 Abs. 1 FamGKG). Dieser Wert kann hinter dem Wert der Hauptsache zurückbleiben und ist dann auf Antrag nach § 33 Abs. 1 RVG gesondert festzusetzen.
Beispiel 3 | |
In dem Verfahren (Wert: 200.000 EUR) kommt es zu einer umfangreichen Beweisaufnahme mit drei Terminen zur Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen. Lösung Neben der Verfahrens- und der Terminsgebühr entsteht die Zusatzgebühr der Nr. 1010 VV RVG. Abgerechnet wird wie folgt: | |
1,3-Verfahrensgebühr, Nr. 3100 VV RVG (Wert: 200.000 EUR) | 3.057,60 EUR |
1,2-Terminsgebühr, Nr. 3104 VV RVG (Wert: 200.000 EUR) | 2.822,40 EUR |
0,3-Zusatzgebühr, Nr. 1010 VV RVG (Wert: 200.000 EUR) | 705,60 EUR |
Postentgeltpauschale, Nr. 7002 VV RVG | 20,00 EUR |
19 % USt., Nr. 7008 VV RVG | 1.255,06 EUR |
7.860,66 EUR |
Beispiel 4 | |
In dem Verfahren (Wert: 200.000 EUR) kommt es wegen eines Teils der Forderungen i. H. v. 120.000 EUR zu einer umfangreichen Beweisaufnahme mit drei Terminen zur Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen. Lösung Neben der Verfahrens- und der Terminsgebühr aus dem Gesamtwert entsteht jetzt die Zusatzgebühr der Nr. 1010 VV RVG nur aus dem Wert von 120.000 EUR. | |
1,3-Verfahrensgebühr, Nr. 3100 VV RVG (Wert: 200.000 EUR) | 3.057,60 EUR |
1,2-Terminsgebühr, Nr. 3104 VV RVG (Wert: 200.000 EUR) | 2.822,40 EUR |
0,3-Zusatzgebühr, Nr. 1010 VV RVG (Wert: 120.000 EUR) | 556,35 EUR |
Postentgeltpauschale, Nr. 7002 VV RVG | 20,00 EUR |
19 % USt., Nr. 7008 VV RVG | 1.226,71 EUR |
7.683,06 EUR |
b) Betragsrahmengebühren
Bei Betragsrahmengebühren entsteht keine Zusatzgebühr. Vielmehr erhöht sich die Terminsgebühr um 30 %. Die Verfahrensgebühr bleibt unberührt. Das bedeutet, dass Mindest- und Höchstbetrag der Terminsgebühr um 30 % angehoben werden. Dadurch ergibt sich zugleich eine um 30 % erhöhte Mittelgebühr.
Beispiel 5 | |
Der Anwalt vertritt einen Auftraggeber. Es kommt zu einer umfangreichen Beweisaufnahme mit drei Terminen zur Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen. Lösung In Anbetracht des Umfangs dürfte hier zugleich auch jeweils die Höchstgebühr anzunehmen sein. Ausgehend davon ergibt sich folgende Berechnung: | |
Verfahrensgebühr, Nr. 3102 VV RVG | 719,00 EUR |
Terminsgebühr, Nrn. 3106, 1010 VV RVG | 864,50 EUR |
Postentgeltpauschale, Nr. 7002 VV RVG | 20,00 EUR |
19 % USt., Nr. 7008 VV RVG | 304,67 EUR |
1.908,17 EUR |
4. Kostenerstattung
Da es sich um eine gesetzliche Gebühr handelt, ergeben sich hinsichtlich der Kostenerstattung keine Probleme. Soweit die Kosten einer Beweisaufnahme nach § 96 ZPO ausgetrennt werden, kann die Gebühr der Nr. 1010 VV RVG getrennt festzusetzen sein.
5. Prozess- und Verfahrenskostenhilfe
Soweit einer Partei oder einem Beteiligten PKH oder VKH bewilligt ist, erstreckt sich die Beiordnung auch auf die Zusatzgebühr bzw. die Gebührenerhöhung nach Nr. 1010 VV RVG, da es sich um eine gesetzliche Gebühr handelt (§ 48 Abs. 1 RVG). Es bedarf keiner gesonderten Erstreckung.
6. Rechtsschutzversicherung
Auch im Rahmen einer Rechtsschutzversicherung ergeben sich keine Probleme. Als gesetzliche Gebühr ist die Zusatzgebühr der Nr. 1010 VV RVG mitversichert.
AUSGABE: RVGprof 10/2024, S. 176 · ID: 50146253