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VerfahrensrechtÄnderungsmöglichkeiten für den Steuerpflichtigen nach Ablauf der Einspruchsfrist
| Mit Ablauf der Einspruchsfrist werden Steuerbescheide zwar formell rechtskräftig, jedoch nicht unbedingt auch materiell bestandskräftig. Denn sofern eine Änderungsnorm der AO greift (§§ 129, 164, 172 ff. AO), kann der Steuerpflichtige innerhalb der Festsetzungs-/Feststellungsfrist einen Änderungsantrag zu seinen Gunsten stellen. Der Beitrag gibt hierzu einen Überblick. |
Inhaltsverzeichnis
- 1. Vorbemerkung
- 2. Vorbehaltsbescheide
- 3. Offenbare Unrichtigkeiten (§ 129 AO)
- 4. Änderung wegen neuer Tatsachen (§ 173 AO)
- 5. Änderung wegen Grundlagenbescheide (§ 175 Abs. 1 Nr. 1 AO)
- 6. Rückwirkende Ereignisse (§ 175 Abs. 1 Nr. 2 AO)
- 7. Schreib- oder Rechenfehler nach § 173a AO
- 8. Änderung von Steuerbescheiden bei Datenübermittlung durch Dritte (§ 175b AO)
1. Vorbemerkung
Basieren Änderungsanträge auf einer Änderungsnorm der AO (außerhalb eines Einspruchs- oder Klageverfahrens), dann bewirken sie eine Ablaufhemmung. Das bedeutet: Die Festsetzungs-/Feststellungsfrist läuft insoweit nicht ab, bevor über den Antrag unanfechtbar entschieden ist (§ 171 Abs. 3 AO).
2. Vorbehaltsbescheide
Ist ein Steuer- oder Feststellungsbescheid unter dem Vorbehalt der Nachprüfung (§ 164 Abs. 1 AO) ergangen, kann der Steuerpflichtige bis zum Ablauf der Festsetzungs-/Feststellungsfrist jederzeit einen Änderungsantrag stellen. Denn der Steuerfall ist in vollem Umfang offen (§ 164 Abs. 2 S. 2 AO).
3. Offenbare Unrichtigkeiten (§ 129 AO)
§ 129 AO ermöglicht die Berichtigung von Schreibfehlern, Rechenfehlern und ähnlichen offenbaren Unrichtigkeiten auch zugunsten des Steuerpflichtigen. Obwohl die Durchführung der Berichtigung im Ermessen des FA steht, besteht bei berechtigtem Interesse des Steuerpflichtigen Berichtigungszwang. Dies ergibt sich aus dem Vorrang der materiellen Gerechtigkeit vor der Rechtssicherheit (BFH 4.3.15, X B 39/14).
Hat sich der Steuerpflichtige zu seinen Ungunsten vertan, kann ein Änderungsantrag nach § 129 AO Erfolg haben, wenn ihm der Fehler in einer Selbstberechnungserklärung (Umsatzsteuer-Voranmeldung, Lohnsteuer-Anmeldung oder Umsatzsteuer-Jahreserklärung) unterlaufen ist oder das FA eine aus der Steuererklärung bzw. den dazugehörigen Unterlagen ohne Weiteres erkennbare offenbare Unrichtigkeit des Steuerpflichtigen (z. B. einen Übertragungsfehler) übernimmt (BFH 17.6.04, IV R 9/02; BFH 12.2.20, X R 27/18).
Merke | „Offenbar“ i. S. des § 129 AO ist auch ein Fehler, wenn das FA bei der Einkommensteuerveranlagung übersieht, dass der Steuerpflichtige in seiner vorgelegten Gewinnermittlung (§ 4 Abs. 3 EStG) die bei der Umsatzsteuererklärung für denselben Veranlagungszeitraum erklärten und im Umsatzsteuerbescheid erklärungsgemäß berücksichtigten Umsatzsteuerzahlungen nicht als Betriebsausgabe erfasst hat (BFH 27.8.13, VIII R 9/11). |
4. Änderung wegen neuer Tatsachen (§ 173 AO)
Die Änderung von formell rechtskräftigen Bescheiden wegen neuer Tatsachen (§ 173 AO) ist auch zugunsten des Steuerpflichtigen möglich. Steuerpflichtige, die z. B. einen für sie günstigen Sachverhalt in ihrer Steuererklärung nicht angegeben haben (z. B. Werbungskosten), können einen Änderungsantrag wegen nachträglich bekannt gewordener neuer Tatsachen oder Beweismittel stellen. Dieser wird jedoch nur dann Erfolg haben, wenn den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden am nachträglichen Bekanntwerden trifft (§ 173 Abs. 1 Nr. 2 AO).
Grobes Verschulden liegt vor, wenn der Steuerpflichtige vorsätzlich (wissentlich und willentlich in Kenntnis des Erfolgs) oder grob fahrlässig, d. h., unter Verletzung der ihm persönlich zuzumutenden Sorgfalt in ungewöhnlichem Maße und in nicht entschuldbarer Weise handelt. Fehler eines beauftragten Steuerberaters sind dem Steuerpflichtigen zuzurechnen (BFH 3.2.83, IV R 153/80). Bei der Beurteilung des groben Verschuldens werden bei einem Steuerberater jedoch strengere Maßstäbe angelegt als bei einem steuerlich unversierten Laien (BFH 26.8.87, I R 144/86).
Merke | Nicht grob schuldhaft handelt, wer sich in einem entschuldbaren Rechtsirrtum befindet (BFH 21.7.89, III R 303/84) oder Vorgänge aus Rechtsunkenntnis unbeachtet lässt (BFH 21.9.93, IX R 63/90). Daher spricht das Unterlassen von Angaben zu einem im Erklärungsvordruck nicht vorgesehenen Punkt insbesondere dann gegen ein grob schuldhaftes Verhalten, wenn der Erklärungsvordruck den Eindruck erweckt, diese Angaben seien steuerlich nicht relevant (BFH 9.11.11, X R 53/09). |
Werden Einnahmen eines angestellten Chefarztes aus der Erbringung wahlärztlicher Leistungen im Rahmen der Einkommensteuererklärung irrtümlich sowohl bei den Einkünften aus selbstständiger Arbeit als auch bei den Einkünften aus nichtselbstständiger Arbeit erklärt, liegt in folgendem Fall kein grobes Verschulden i. S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO vor: Weder der Chefarzt noch sein Steuerberater haben erkannt bzw. mussten nach den Umständen des Streitfalls auch nicht erkennen, dass diese Einnahmen bereits dem Lohnsteuerabzug unterlegen haben (BFH 18.4.23, VIII R 9/20).
Eine Besonderheit beinhaltet § 173 Abs. 1 Nr. 2 S. 2 AO. Danach ist das grobe Verschulden des Steuerpflichtigen unbeachtlich, wenn die neuen Tatsachen und Beweismittel zugunsten des Steuerpflichtigen in einem unmittelbaren oder mittelbaren Zusammenhang mit Tatsachen oder Beweismitteln zuungunsten des Steuerpflichtigen stehen. Die Vorschrift ist gemäß § 181 Abs. 1 S. 1 AO sinngemäß auf einen Gewinnfeststellungsbescheid für eine Personengesellschaft auch dann anzuwenden, wenn sich eine gegenläufige Änderung (§ 173 Abs. 1 Nr. 1 AO) aus einem anderen Bescheid (z. B. dem Einkommensteuerbescheid für einen feststellungsbeteiligten Gesellschafter) ergibt (BFH 10.9.20, IV R 6/18).
5. Änderung wegen Grundlagenbescheide (§ 175 Abs. 1 Nr. 1 AO)
§ 175 Abs. 1 Nr. 1 AO stellt die steuerliche Berücksichtigung von Grundlagenbescheiden in den entsprechenden Folgebescheiden sicher, indem das FA ggf. zur Anpassung durch Bescheidänderung verpflichtet ist. Da das FA somit von Amts wegen tätig werden muss, ist ein Antrag auf Änderung (z. B. bisher nicht angesetzte Verlustbeträge) grundsätzlich nicht erforderlich.
Allerdings sollte die zutreffende Berücksichtigung des Grundlagenbescheids im Folgebescheid genau geprüft werden. Denn es kommt immer wieder vor, dass das FA die erforderliche Anpassung des Folgebescheids (z. B. Einkommensteuerbescheid) an den Grundlagenbescheid (z. B. Gewinnfeststellungsbescheid) versäumt bzw. die vorliegende Mitteilung über die festgestellten Besteuerungsgrundlagen nicht oder nur unzutreffend auswertet. Ist dies der Fall, sollte umgehend ein Änderungsantrag gestellt werden, denn nach Ablauf der Festsetzungsfrist (unter Berücksichtigung der Ablaufhemmung nach § 171 Abs. 10 AO) ist eine Bescheidänderung nicht mehr möglich.
Beachten Sie | Wird ein Grundlagenbescheid bei einer erstmaligen Steuerfestsetzung oder einer Folgeänderung nicht beachtet, ist das Änderungsrecht gleichwohl nicht verbraucht. Vielmehr ist der Grundlagenbescheid nach wie vor geeignet, eine spätere nochmalige Änderung des Folgebescheids zu rechtfertigen (BFH 9.8.16, VIII R 27/14).
6. Rückwirkende Ereignisse (§ 175 Abs. 1 Nr. 2 AO)
Bei rückwirkenden Ereignissen (§ 175 Abs. 1 Nr. 2 AO) ist ein Steuerbescheid zu erlassen, aufzuheben oder zu ändern, soweit ein Ereignis eintritt, das steuerliche Wirkung für die Vergangenheit hat. Liegen die Voraussetzungen vor, ist das FA zur Änderung verpflichtet. Ein Änderungsantrag ist aber insbesondere dann angezeigt, wenn das FA von dem Ereignis keine Kenntnis hat.
Fälle aus der aktuellen Rechtsprechung:
- Die Erteilung der Restschuldbefreiung im Rahmen eines Insolvenzverfahrens stellt für die Ermittlung des Gewinns aus einer Betriebsaufgabe auch dann ein rückwirkendes Ereignis dar, wenn der Betrieb erst nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens aufgegeben worden ist (BFH 6.4.22, X R 28/19).
- Die Rückabwicklung oder Anpassung eines Ehevertrags führt zu einem rückwirkenden Ereignis, wenn sich aus den Gesamtumständen ergibt, dass bestimmte Steuerfolgen, die von den Beteiligten zur Geschäftsgrundlage des Vertrags gemacht worden sind, auch für Dritte erkennbar im ursprünglichen Ehevertrag angelegt waren (FG Niedersachsen 5.1.23, 9 K 162/21, Rev. BFH: IX R 4/23).
7. Schreib- oder Rechenfehler nach § 173a AO
Steuerbescheide sind aufzuheben oder zu ändern, soweit dem Steuerpflichtigen bei Erstellung seiner Steuererklärung Schreib- oder Rechenfehler unterlaufen sind und er deshalb der Finanzbehörde bestimmte, nach den Verhältnissen zum Zeitpunkt des Erlasses des Steuerbescheids rechtserhebliche Tatsachen unzutreffend mitgeteilt hat (§ 173a AO).
Liegen die Voraussetzungen nach § 173a AO vor, ist der Steuerbescheid oder der ihm gleichgestellte Bescheid von Amts wegen aufzuheben oder zu ändern, ohne dass es eines Antrags bedarf. Denn das Gesetz verpflichtet die Finanzbehörde zur Änderung, d. h., hier kann die Bescheidänderung/-aufhebung nicht aus Ermessenserwägungen abgelehnt werden.
Merke | Gleichwohl sollten bei Erstellung der Steuererklärung unterlaufene Schreib- oder Rechenfehler, die sich zulasten des Steuerpflichtigen ausgewirkt haben, im Wege des Änderungsantrags geltend gemacht und eine Bescheidänderung nach § 173a AO zugunsten des Steuerpflichtigen beantragt werden. Denn häufig wird das FA den in der Steuererklärung enthaltenen Schreib- oder Rechenfehler nicht erkennen und kann daher auch nicht von Amts wegen tätig werden. |
8. Änderung von Steuerbescheiden bei Datenübermittlung durch Dritte (§ 175b AO)
Ein Steuerbescheid oder ihm gleichgestellter Bescheid ist aufzuheben oder zu ändern, soweit von der mitteilungspflichtigen Stelle an die Finanzbehörde übermittelte Daten i. S. des § 93c AO nicht oder nicht zutreffend berücksichtigt wurden (§ 175b Abs. 1 AO). Zu beachten ist, dass durch die Nichtberücksichtigung oder die unzutreffende Berücksichtigung in der Steuerfestsetzung die Besteuerungsgrundlagen unzutreffend ermittelt wurden und der Steuerbescheid deshalb fehlerhaft und damit rechtswidrig ist. Bei richtiger Berücksichtigung der Daten würde die Steuer mithin höher oder niedriger ausfallen.
Liegen die Änderungsvoraussetzungen vor, ist der Steuerbescheid in dem Umfang von Amts wegen (ohne Antrag des Steuerpflichtigen) aufzuheben oder zu ändern, soweit der Steuerbescheid durch die Nichtberücksichtigung oder durch die unzutreffende Berücksichtigung der Daten fehlerhaft und damit rechtswidrig ist. Sofern sich die unzutreffende Berücksichtigung zulasten des Steuerpflichtigen auswirkt, sollte das FA ggf. darauf hingewiesen werden und eine Bescheidänderung nach § 175b AO beantragt werden.
Nach § 150 Abs. 7 S. 2 AO gelten Daten, die von mitteilungspflichtigen Stellen nach Maßgabe des § 93c AO an die Finanzverwaltung übermittelt wurden, als Angaben des Steuerpflichtigen, soweit er nicht in einem dafür vorzusehenden Abschnitt oder Datenfeld der Steuererklärung abweichende Angaben macht. In diesen Fällen legt die Finanzbehörde diese Daten der Ermittlung der Besteuerungsgrundlagen zugrunde, ohne dass der Steuerpflichtige sie auf ihre Richtigkeit überprüft hat.
Merke | Stellt sich nun nach dem Erlass des Steuerbescheids heraus, dass diese Daten ohne abweichende Angaben inhaltlich zuungunsten des Steuerpflichtigen falsch sind, muss der Bescheid aufgehoben oder geändert werden (§ 175b Abs. 2 AO). Dabei ist es unerheblich, ob der Steuerpflichtige ein Verschulden an der Unrichtigkeit der Daten trägt. Auch hier sollte ein entsprechender Änderungsantrag gestellt werden. |
AUSGABE: MBP 10/2024, S. 170 · ID: 50074515