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Testamentsauslegung„Nahestehende Person“ in der Auslegungsregel des § 2270 Abs. 2 BGB

Abo-Inhalt01.01.202466 Min. LesedauerVon RA Uwe Gottwald, VorsRiLG a. D., Vallendar

| Das OLG Köln hatte sich mit der Auslegungsregel des § 2270 Abs. 2 BGB und insbesondere mit dem Personenkreis der „nahestehenden Personen“ zu beschäftigen. |

Sachverhalt

Der Erblasser hat mit seiner vorverstorbenen Ehefrau im Jahr 2005 ein eigenhändiges gemeinschaftliches Testament errichtet. Darin heißt es u. a. wie folgt: „Wir, die Eheleute R. P. und H. P. geb. M., setzen uns hiermit gegenseitig zu alleinigen Erben unseres gesamten Nachlasses ein. Erbe des Letztversterbenden sollen B. und I. P. (Ehefrau des B.) sein.“ In dem Testament haben sie weiter erklärt, dass sie ihre Tochter, die sich von ihrer Familie losgesagt habe, nicht bedacht haben und auch, dass sie die beiden eingesetzten Schlusserben deshalb bedacht hätten, „weil sie bei der Pflege meiner Frau uns sehr stark unterstützt haben. Dies solle der Dank dafür sein.“

Kurz vor seinem Tod hat der Erblasser im Jahr 2022 ein eigenhändiges Testament errichtet und die Beteiligte zu 1 zu seiner Alleinerbin eingesetzt. In diesem hat er u. a. ausgeführt, dass die Einsetzung seines Bruders und seiner Schwägerin von seiner Ehefrau und ihm vorgenommen worden sei, um einerseits die gesetzliche Erbfolge seiner Tochter auszuschließen und andererseits überhaupt eine Erbfolge sicherzustellen. Die Einsetzung des Schlusserben sei nie die Bedingung für die gegenseitige Erbeinsetzung der Ehegatten gewesen.

Nach dem Tod des Erblassers hat die Beteiligte zu 1 beim zuständigen Nachlassgericht einen Alleinerbschein beantragt. Zur Begründung hat sie vorgetragen, dass die letztwillige Verfügung aus dem Jahr 2005 keine eindeutige Regelung im Hinblick auf eine mögliche testamentarische Bindungswirkung des Letztversterbenden enthalte. Ein Widerruf der Einsetzung der Schlusserben, der durch das Testament aus dem Jahr 2022 erfolgt sei, sei daher möglich gewesen. Dem stehe § 2271 Abs. 2 BGB nicht entgegen.

Die Beteiligte zu 3 und Ehefrau des vorverstorbenen im gemeinschaftlichen Testament eingesetzten Schlusserben ist dem Antrag entgegengetreten. Sie hat u. a. vorgetragen, dass die Schlusserbeneinsetzungen in dem gemeinschaftlichen Testament wechselbezüglich seien. Hierfür spreche, dass die Eheleute jeweils in ein und demselben Satz gleichlautende Verfügungen getroffen hätten.

Leitsatz: OLG Köln 29.3.23, 2 Wx 39/23

„Nahestehen“ i. S. d. § 2270 Abs. 2 BGB ist nach den konkreten Umständen des Einzelfalls zu entscheiden, wobei an den Begriff hohe Anforderungen zu stellen sind. Eine bindende Schlusserbeneinsetzung des Bruders des Erblassers kann vorliegen, wenn in der gemeinschaftlichen testamentarischen Anordnung ein besonderer Grund für die Erbeneinsetzung aufgenommen worden ist.“

(Abruf-Nr. 238700)

Entscheidungsgründe

Das Nachlassgericht hat den Antrag der Beteiligten zu 1 auf Erteilung eines Alleinerbscheins zurückgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, dass gem. § 2270 Abs. 2 BGB von der Wechselbezüglichkeit der Einsetzung des Erblassers durch die Ehefrau und der Einsetzung der Schlusserben durch den Erblasser auszugehen sei (wird ausgeführt). Über einen Erbscheinsantrag der Beteiligten zu 3 hat das Nachlassgericht noch nicht entschieden. Gegen diesen Beschluss hat die Beteiligte zu 1 Beschwerde eingelegt, der das Nachlassgericht nicht abgeholfen hat, und es dem OLG Köln zur Entscheidung vorgelegt. Das OLG Köln hat die Beschwerde zurückgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt:

Der Erblasser habe nach dem Tode seiner Ehefrau die Schlusserbeneinsetzung im gemeinschaftlichen Testament nicht mehr widerrufen können, § 2271 Abs. 2 S. 1 BGB, weil die Einsetzung des Bruders des Erblassers und der Beteiligten zu 3 wechselbezüglich i. S. d. 2270 BGB erfolgt sei. Das widerrufende Testament sei deshalb nicht wirksam.

Eine Wechselbezüglichkeit der Verfügung in einem gemeinschaftlichen Testament setze gemäß § 2270 Abs. 1 BGB voraus, dass aus dem Zusammenhang des Motivs heraus die Verfügung des einen Ehegatten nicht ohne die Verfügung des anderen getroffen worden wäre, also nach dem Willen der Eheleute die eine Verfügung mit der anderen stehen und fallen solle. Enthalte das Testament – wie hier – keine ausdrückliche Bestimmung über die Wechselbezüglichkeit, sei diese durch Auslegung zu bestimmen. Dabei müsse der Inhalt der Erklärungen als Ganzes gewürdigt werden, einschließlich der Nebenumstände, und zwar auch solcher außerhalb der Testamentsurkunde, soweit sie im Testament angedeutet wurden. Auch die allgemeine Lebenserfahrung sei zu berücksichtigen. Es könne indes offenbleiben, ob hier aufgrund der vorliegenden Tatsachen eine solche Feststellung getroffen werden könne.

Denn es greife die Auslegungsregel des § 2270 Abs. 2 BGB ein. Die Ehefrau des Erblassers habe den Erblasser zu ihrem Alleinerben eingesetzt. Für den Fall seines Überlebens habe der Erblasser seinen Bruder und dessen Ehefrau als Schlusserben eingesetzt. Der Bruder des Erblassers und die Beteiligte zu 3 seien zwar nicht verwandt mit der vorverstorbenen Ehefrau des Erblassers, sie hätten ihr jedoch sonst nahegestanden. „Nahestehen“ sei nach den konkreten Umständen des Einzelfalls zu entscheiden. An den Begriff seien hohe Anforderungen zu stellen. Diese Anforderungen seien erfüllt. Der Erblasser und seine Ehefrau hätten in dem gemeinschaftlichen Testament als Grund für die Einsetzung des Bruders des Erblassers und der Beteiligten zu 3 ausdrücklich aufgenommen, dass die Einsetzungen wegen der Unterstützung bei der Pflege der Ehefrau des Erblassers erfolgt seien. Im Hinblick auf diese Unterstützung bei der Pflege sei ein Näheverhältnis des Bruders des Erblassers und der Beteiligten zu 3 zur Ehefrau des Erblassers anzunehmen. Die Umstände sprächen dafür, dass die Ehefrau auf nicht unerhebliche Pflegeleistungen angewiesen war, die wiederum auf ein Näheverhältnis zwischen der gepflegten Person und den pflegenden Personen schließen lasse, zumal es sich bei den pflegenden Personen nicht um Fremde, sondern um den Bruder des Erblassers und dessen Ehefrau handelte.

Relevanz für die Praxis

Der Entscheidung des OLG Köln kann in der Sache, insbesondere in der Auslegung des Begriffs der „nahestehenden Person“ gefolgt werden. Mit dem Satz: „Es kann indes offenbleiben, ob hier aufgrund der vorliegenden Tatsachen eine solche Feststellung getroffen werden kann“, hat das Gericht allerdings gegen die Grundsätze der Auslegung von Testamenten verstoßen. Die Auslegungsregel nach § 2270 Abs. 2 BGB greift nach allgemeiner Meinung, was sich bereits aus dem Gesetzestext ergibt, nur „im Zweifel“ Platz, also nur dann, wenn die Auslegung durch Willenserforschung weder die gegenseitige Abhängigkeit noch die gegenseitige Unabhängigkeit der beiderseitigen Verfügungen ergibt. Nicht nur die erläuternde Auslegung, sondern auch die ergänzende Testamentsauslegung geht der Auslegungsregel vor. Auf diese darf also erst zurückgegriffen werden, wenn keine von beiden zu einem eindeutigen Ergebnis führen. Für die Auslegung gelten die allgemeinen Regeln; alle Gesichtspunkte – innerhalb und außerhalb des Testaments – sind heranzuziehen; mehrere Indizien können zusammengenommen die Auslegung fehlender Wechselbezüglichkeit begründen (OLG Zweibrücken, ZEV 04, 153).

Ob und wie die Auslegungsregel des § 2270 Abs. 2 BGB im konkreten Fall zur Anwendung kommt, lässt sich mit folgender Checkliste klären:

Checkliste / Auslegung nach § 2270 Abs. 2 BGB

  • Vor Anwendung der Auslegungsregel ist zu prüfen, ob die
    • Wortauslegung,
    • die erläuternde Auslegung oder die
    • ergänzende Auslegung
  • zu einem eindeutigen Ergebnis führt.
  • Ist das nicht der Fall, ist nach der Auslegungsregel zu prüfen, ob eine wechselbezügliche (bindende) Verfügung im gemeinschaftlichen Testament anzunehmen ist.
  • Dies ist der Fall,
    • wenn sich die Ehegatten gegenseitig bedenken,
    • Verwandte des anderen Ehegatten bedenken oder
    • dem anderen Ehegatte nahestehende Personen bedenken.
  • Ob der Begriff der „nahestehenden Person“ in § 2270 Abs 2 BGB erfüllt wird, ist unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls zu entscheiden, wobei ein strenger Maßstab anzulegen ist (OLG Koblenz FamRZ 07, 1917).
  • Nahestehende Personen können sein
    • natürliche Personen und
    • juristische Personen (str. h. M. OLG München ZEV 00, 104).
  • Natürliche Personen, die dem anderen Ehegatten nahestehen, können sein
    • gute Freunde und langjährige Hausgenossen,
    • Personen, zu denen der andere Ehegatte eine enge persönliche und innere Bindung hatte,
    • Personen, deren Beziehungen zu dem anderen Ehegatten mindestens so eng gewesen sein müssen, wie es dem üblichen Verhältnis zu Verwandten entspricht.
  • Nicht ausreichend sind deshalb
    • gutnachbarliche Beziehungen (BayObLG FamRZ 91, 1232),
    • Verschwägerte (BayObLG FamRZ 94, 191),
    • Patenschaft (OLG Hamm FamRZ 10, 1201).

AUSGABE: EE 1/2024, S. 4 · ID: 49696592

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