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Digitalisierung„Beim digitalen MS-Zwilling hat der Patient die Hoheit über seine Daten!“
| Das Konzept des „Digitalen MS-Zwillings“ stammt von Univ.-Prof. Dr. med. Tjalf Ziemssen, Direktor des Zentrums für klinische Neurowissenschaften des Universitätsklinikums Carl Gustav Carus in Dresden sowie Leiter des Multiple Sklerose Zentrums Dresden. Ziel des virtuellen Modells ist eine bessere Behandlungs- und Versorgungsqualität von Patienten mit Multipler Sklerose. Ursula Katthöfer (www.textwiese.com) fragte, was der Digitale MS-Zwilling kann (Videoaufzeichnung online unter iww.de/s10401). |
Frage: Herr Professor Ziemssen, was ist ein digitaler MS-Zwilling?
Antwort: Ein digitaler MS-Zwilling ist nichts anderes als eine versuchte digitale Kopie eines Patienten hinsichtlich möglichst vieler Daten, die den Patienten mit seiner Krankheit charakterisieren. Die Entwicklung stammt aus der Industrie, in der Medizin ist sie revolutionär. Im Gegensatz zur elektronischen Patientenakte (ePA) werden keine PDFs, sondern die Rohdaten der Patienten gespeichert. Wenn der Patient oder einer seiner Behandler auf ein MRT oder auf einen Laborbericht zugreifen möchte, werden die Daten auf einem Dashboard grafisch dargestellt. Von dieser Ausbaustruktur sind wir zwar noch ein Stück weit entfernt, doch zurzeit sammeln wir Daten. Sie müssen eine sehr hohe Qualität haben. Anschließend geht es darum, die Daten zu analysieren und so zusammenbringen, dass sie den Patienten visualisieren, um die Erkrankung zu managen. Auf Textdokumente wollen wir verzichten.
Frage: Also keine Arztbriefe und Textbefunde mehr?
Antwort: Der Ordner, in dem der Patient seine Dokumente aus Papier chronologisch abgeheftet hat, ist für behandelnde Ärzte möglicherweise hilfreicher als die ePA mit ihrer unübersichtlichen Sammlung von PDF-Dokumenten. Digitalisierte Freitexte wie Arztbriefe hingegen über ein Tool laufen zu lassen, um daraus Informationen zu generieren und sie anschließend wieder zu einem Freitext zu machen, kommt mir vor wie ein Schildbürgerstreich. Das würde in der Industrie niemand tun, dort sind Grafiken das Mittel zur Visualisierung. Stellen sie sich vor, dass in einem Kraftwerk aus den multimodalen Daten, die von überall herkommen und verarbeitet werden, ein 120-seitiger Bericht entstünde. Das wäre doch absurd.
Frage: Bleiben wir bei den Daten eines MS-Patienten. Können Sie an einem Beispiel erläutern, wie die erhoben werden?
Antwort: Wir sind sehr froh, mit der Multiplen Sklerose als Modellerkrankung zu arbeiten, da es die sogenannte Erkrankung mit den 1.000 Gesichtern ist. Die Patienten können sehr unterschiedliche Defizite haben, denen wir gerecht werden müssen, es aber im Moment nicht tun. Außer einer neurologischen Untersuchung und vielleicht einer Anamnese machen wir nicht viel. Deshalb arbeiten wir daran, Defizite speziell zu analysieren. Gehfähigkeit ist ein wichtiger Punkt. Wir haben ein Programm entwickelt, um zur Ganganalyse bei uns im MS-Zentrum hochqualitative Daten in Supervision zu erheben. Doch weil das nicht in allen Praxen möglich sein wird, trägt der Patient zu Hause Wearables. Beide Datensätze werden durch moderne Analysealgorithmen für Machine Learning oder künstliche Intelligenz aufbereitet.
Frage: Wie integrieren Sie Daten aus anderen Fachdisziplinen oder von Gesundheitsdienstleistern wie Physiotherapeuten?
Antwort: Das ist noch schwierig, da wir für viele Daten erst einen Standard schaffen müssen, um sie sammeln zu können. In vielen Settings scheint das Fax noch Standard zu sein. Klassische Schnittstellen zu nutzen, funktioniert bei Bildgebungs- und Labordaten sowie bei digitalen Fragebögen, die der Patient auf einem Tablet ausfüllt, schon ganz gut. Es stellt sich auch immer die Frage der Datensicherheit und -hoheit. Nach unserem Konzept ist der digitale MS-Zwilling sehr patientenzentriert, der Patient hat die Hoheit über seine Daten.
Frage: Der Patient hat also den Hut auf. Warum?
Antwort: So kann er seine Erkrankung managen und z. B. seine Ganganalyse dem Physiotherapeuten zur Verfügung stellen. Oder er zeigt dem Hausarzt auf dem Dashboard, wo der Fokus der symptomatischen Therapie liegt. Die Rohdaten liegen hinter dem Dashboard. Es passt sich dem jeweiligen Nutzer an, denn der Neurologe schaut anders darauf als der Patient. Unsere Patienten sind vielfach jung und engagiert. Deshalb ist es eine sehr gute Patientengruppe, um partizipative Ansätze auszuprobieren. Unter einem Zwilling können sich viele Patienten etwas vorstellen.
Frage: Wo sieht der Patient seine Daten?
Antwort: Das kann in einer App sein. Doch heutzutage haben browserbasierte Internetseiten mit den neuen HTML-Standards den großen Vorteil, dass nicht immer aktualisiert werden muss.
Frage: Sie haben PDF und Fax erwähnt. Ist unser Gesundheitssystem reif für den digitalen Zwilling?
Antwort: Das ist eine gute Frage. Andererseits brauchen wir eine Änderung des Mindsets. Im Zuge der Digitalisierung sehe ich viele Strohfeuer. Das E-Rezept hat z. B. nette Gimmicks, doch letztlich brauchen wir einen größeren Wurf, um gerade beim Management chronischer Erkrankungen wie MS weiterzukommen. Wir haben zwar hervorragende Medikamente, behandeln unsere Patienten aber aufgrund unzulänglich verfügbarer Daten nicht ausreichend gut. Der Patient wird völlig im Dunkeln gelassen, sofern er sich nicht selbst etwas anliest oder bei Google recherchiert. Ohne Eigenrecherche sieht er nicht, was eigentlich zu einer guten Behandlung gehört. Hinter der Idee des digitalen Zwillings steckt hingegen ein Patientenpfad. Der Patient wählt über die Navigationsstruktur in seinem Dashboard aus, was er sehen möchte und kann die Qualität des Behandlungsprozesses messen.
Frage: Könnten Sie auch dazu bitte ein Beispiel geben?
Antwort: Jeder MS-Patient sollte einmal jährlich eine kernspintomographische Kontrolle des Gehirns bekommen. Neue entzündliche Läsionen zu erkennen, ist für das therapeutische Management der Erkrankung sehr wichtig. Hat das MRT nicht stattgefunden und ist nicht im digitalen Pfad, würde der Patient über den digitalen Zwilling alarmiert. Das hört sich trivial an. Doch zum Management einer Erkrankung gehören nun einmal Dinge wie regelmäßige Blutabnahmen. Deshalb sind in unseren Checklist-Systemen ganz unterschiedliche Elemente integriert.
Frage: Weckt so ein Alarm nicht unnötige Ängste?
Antwort: Mit dem digitalen Zwilling wollen wir eine Möglichkeit schaffen, dass betreuende Ärzte sich wieder mehr mit den konkreten Problemen des Patienten als mit dessen Administration beschäftigen können. Die Dokumentation soll in den digitalen Zwilling ausgelagert werden. So bleibt mehr Zeit, um die Daten aus dem Dashboard wirklich ärztlich mit dem Patienten zu besprechen. Wir möchten nicht den menschlichen Arzt durch einen Roboter ersetzen, sondern Entscheidungen aufgrund von Daten besser fundieren.
Frage: Für welche medizinischen Fachdisziplinen bietet sich der digitale Zwilling noch an?
Antwort: Er täte uns allen gut. Grundsätzlich wäre der digitale Zwilling auch eine ideale Struktur für die Prävention. Wir sammeln im Laufe unseres Lebens so viele Daten, z. B. bei Sport und Ernährung. Es wäre doch schön, diese Daten zu nutzen, um gesünder zu leben. Der digitale Zwilling könnte jemandem, der sich mehr bewegt oder aufhört zu rauchen, sagen: Das hat du gut gemacht. Natürlich ist das der Idealzustand, doch könnte ich mir vorstellen, dass das relativ schnell losgeht. Viele Menschen möchten gesund leben.
Frage: Ist die Regelversorgung auch ein Teil dieser Vision?
Antwort: Die Digitalisierung im Gesundheitswesen hat an Geschwindigkeit gewonnen, die Pandemie hat manches verbessert. Patienten profitieren z. B. von den DiGAs, den digitalen Gesundheitsanwendungen. Leider versanden die DiGA-Daten. Sie wären ideal, um auf einer Plattform mit anderen Daten kombiniert zu werden und den Erfolg einer Behandlung zu messen. Mit der Struktur des digitalen Zwillings könnte eine Krankenversicherung theoretisch sehen, wie viel eine Maßnahme finanziell ausmacht und was sie gesundheitsökonomisch bedeutet. Wir haben dazu ein Forschungsprojekt mit einer großen Krankenversicherung. Die Ethikkommission und der Datenschutz haben uns erlaubt, dass ein externer Partner unseren digitalen Zwilling mit den Kostendaten der Krankenkassen verheiraten kann. So können wir Kosten beurteilen. Das kann uns sehr helfen, bei den Ausgaben gegenzusteuern.
Herr Professor Ziemssen, vielen Dank für das Gespräch!
AUSGABE: CB 3/2024, S. 3 · ID: 49913200