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CBChefärzteBrief

Digitalisierung„Menschen sind dadurch in Gefahr, dass ihnen KI in der Medizin vorenthalten wird!“

Abo-Inhalt16.01.2024807 Min. Lesedauer

| Auch in der Medizin werden die Möglichkeiten Künstlicher Intelligenz (KI) zunehmend erkannt und genutzt. Doch während z. B. in den USA bereits Hunderte KI-Anwendungen in der Medizin zugelassen sind, beschränkt sich die Nutzung hierzulande noch auf einige wenige Projekte. Prof. Thomas J. Fuchs ist Direktor des Hasso Plattner Institute for Digital Health at Mount Sinai und in dieser Eigenschaft in New York City tätig. Er sieht als Hauptursache der zögerlichen Nutzung Künstlicher Intelligenz in Europa einen Mentalitätsunterschied zu den USA. Mit ihm sprach Wirtschaftsjournalistin Alexandra Buba (medientext.com). |

Frage: Herr Professor Fuchs, Sie kommen ursprünglich aus Graz, arbeiten aber in den USA – weshalb?

Antwort: Tatsächlich bin ich schon beinahe zwei Jahrzehnte hier. Zum ersten Mal kam ich für meine Diplomarbeit in die USA, die ich bei Siemens Princeton über Machine Learning – Deep Learning ist das, was heute 99 Prozent der KI ausmacht – geschrieben habe. Für meine Doktorarbeit bin ich dann noch einmal kurz zurück nach Europa, an die ETH in Zürich, gegangen und kam darüber zur Pathologie.

Frage: Seit wann ist KI in der Medizin in den USA ein Thema?

Antwort: Tatsächlich schon vergleichsweise lang, wenngleich auch nicht in allen Disziplinen gleich stark. So gibt es in der Radiologie etwa bereits über 500 Tools, die eine Zulassung der Medizinproduktbehörde FDA haben, in der Pathologie aber bislang nur eine einzige, nämlich die meiner Firma „Paige“. Wir haben die Zulassung 2021 nach zwei Jahren Vorbereitung erhalten. Nötig war dafür eine Studie, deren Dokumentation am Ende 8.000 Seiten umfasste.

Frage: Was leistet die KI in der Pathologie genau?

Antwort: Wir konnten zeigen, dass sich mit ihrer Hilfe die Fehlerrate von nicht erkannten bösartigen Tumoren um 70 Prozent senken lässt. 12.000 Krebspatientinnen und -patienten sind mittlerweile weltweit schon mithilfe dieser KI behandelt worden. Dabei besteht die Leistung zum einen in einer weitaus zuverlässigeren Erkennung der Krebszellen im Vergleich zum nur menschlichen Auge und zum anderen in einer viel individuelleren Möglichkeit der Behandlung, da auch die spezifische Krebsart identifiziert und mit der jeweils dafür wirksamsten Therapie behandelt werden kann. Man muss ganz klar sagen: Die Pathologie hat sich bis zur Integration von KI seit ihrer Erfindung durch Virchow vor 150 Jahren an der Berliner Charité nicht verändert: Diagnostiziert wird durch das Mikroskop per Augenschein. Wesentlich ist dabei die Erfahrung des Pathologen – und jener wird vielleicht 10.000 Schnitte gesehen haben, die KI aber bald 4.000.000.

Frage: Sind also die Datenmengen der Schlüssel zum Erfolg?

Antwort: Ja, denn je mehr Schnitte wir haben, desto schneller sind wir in der Lage, auch die sogenannten seltenen Krebsarten zu diagnostizieren – immerhin 50 Prozent aller Fälle. Sie dürfen nicht vergessen, dass allein in den USA jährlich 800.000 Menschen durch falsche Behandlung entweder sterben oder dauerhaft behindert sind. Dies zu verändern, steckt als Potenzial in den Werkzeugen der KI. Menschen sind also nicht dadurch in Gefahr, dass AI in die Medizin einzieht, sondern dadurch, dass sie ihnen vorenthalten wird.

Frage: Jenseits der Diagnose – wo spielt KI noch eine Rolle in der amerikanischen Medizin?

Antwort: Abgesehen von der wirklich massiv verbesserten Diagnose gibt es zum Beispiel Anwendungsmöglichkeiten, die Ärztinnen und Ärzte entlasten. Diese verbringen viel zu viel Zeit mit dem Erfassen von Befunden. Dabei lässt sich dies inzwischen etwa für den Besuch beim Primary care physician, also quasi dem Hausarzt, automatisiert aus der Aufzeichnung des Patientengesprächs erledigen.

Frage: Das Mount Sinai Hospital ist das erste Krankenhaus in den USA mit einem AI Departement, das Sie leiten. Ist es ein anders gestalteter Rechtsrahmen, der AI in der Medizin in den USA eher möglich macht als in Europa, oder sehen Sie andere Unterschiede?

Antwort: Rechtlich sind die Unterschiede so groß nicht – auch hier sind die Hürden für eine Zulassung hoch, und die Einführung von AI-Tools wird etwa bei uns am Mount Sinai durch eine Ethikkommission vor Ort begleitet. Das Problem liegt eher woanders: So ist die universitäre Grundausbildung in Europa hervorragend, besser als etwa in den USA. Aber danach wird es schwierig: Wer zu disruptiv denkt und forschen will, wird ausgebremst. Außerdem fehlt in Europa auch das Funding. Zwar gibt es auch dort eine ganze Menge an Kapital, aber die Philanthropie ist nicht so ausgeprägt wie in den USA. Und Gründungsfinanzierung ist ein unerlässlicher Schritt, wenn es darum geht, tatsächlich Produkte zu entwickeln.

Frage: Was kann auch für Europa – in absehbarer Zeit – eine Perspektive bieten?

Antwort: Ich sehe tatsächlich die Mentalität als größte Hürde. Denn es gibt Tausende topqualifizierte Absolventinnen und Absolventen, die loslegen wollen – und es aus beschriebenen Gründen nicht können. Wenn sich dies nicht ändert, ist ganz Europa auch bei medizinischen AI-Anwendungen bald nur noch Kunde der USA.

Herr Professor Fuchs, vielen Dank für das Gespräch.

Weiterführender Hinweis
  • Schreiben lassen statt selbst schreiben: auf dem Weg zum KI-gestützten Arztbriefgenerator (CB 10/2023, Seite 16)
  • „Digital aufgezeichnete Bewegungsmuster der Patienten können viele Fächer unterstützen!“ (CB 10/2023, Seite 18)
  • „Drüberhalten, Knopf drücken, fertig!“ – KI-gestützte Wundanalyse entlastet Mitarbeiter (CB 05/2023, Seite 17)

AUSGABE: CB 2/2024, S. 6 · ID: 49848697

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