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CBChefärzteBrief

MedikamenteneinsatzEinschätzung des behandelnden Arztes genügt nicht für Kostenübernahme bei „Off-Label-Use“

Abo-Inhalt02.01.2024142 Min. LesedauerVon RAin, FAin MeR Dr. Christina Thissen, Münster, voss-medizinrecht.de

| Der wegweisende „Nikolausbeschluss“ des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) hat den „Off-Label-Use“ von Medikamenten bei lebensbedrohlichen Erkrankungen, insbesondere die Kostenübernahme durch die gesetzlichen Krankenkassen, vereinfacht. Dennoch reicht nach Auffassung des Gerichts in bestimmten Fällen die Befürwortung durch den behandelnden Arzt nicht für die Kostenübernahme aus: Das Gericht nahm die Verfassungsbeschwerde eines GM2-Gangliosidose-Patienten gegen die Ablehnung der Kostenübernahme für eine Off-Label-Therapie mit Miglustat nicht zur Entscheidung an (Beschluss vom 25.09.2023, Az. 1 BvR 1790/23). |

„Off-Label-Use“ ist seit 2012 gesetzlich geregelt

In einigen Fachgruppen (z. B. Onkologie, Pädiatrie) werden Sie als Chefarzt mit dem Thema „Off-Label-Use“ im Klinikalltag häufig in Berührung kommen. Seit 2012 wurde nach dem „Nikolausbeschluss“ des BVerfG im Sozialgesetzbuch aufgenommen, dass bei lebensbedrohlichen Erkrankungen auch nicht anerkannte Methoden bezahlt werden müssen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Linderung besteht und es keine Alternativen gibt (CB 07/2017, Seite 14 f. und CB 04/2019, Seite 9 ff.).

Eltern eines kranken Kindes klagen auf Kostenübernahme ...

Das betroffene Kind war im Jahr 2020 mit der neurodegenerativen Erkrankung GM2-Gangliosidose geboren. Seit dem Frühjahr 2022 erhielt es im Rahmen einer Off-Label-Therapie das Arzneimittel Tanganil. Die behandelnde Kinderärztin hielt eine zusätzliche Behandlung mit dem nur für die GM1-Gangliosidose zugelassenen Arzneimittel Miglustat für Erfolg versprechend. Im November 2022 beantragten die Eltern des Kindes vergeblich bei der zuständigen Krankenkasse die zusätzliche Off-Label-Therapie, die in der Folge im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes von Mai bis Juli 2023 vorübergehend gewährt wurde. Der Klageweg bei den Fachgerichten blieb aber im Übrigen erfolglos. Die daraufhin eingelegte Verfassungsbeschwerde wurde mit einer Verletzung des grundrechtlich verbürgten Rechtes auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz) begründet.

... und berufen sich auf ärztliche Stellungnahmen

Zwar könne ein Anspruch bei einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankung bestehen. Durch die progrediente Neurodegeneration kommt es bei der GM2-Gangliosidose zu einem Verlust erworbener kognitiver und motorischer Fähigkeiten, schwersten Behinderungen und zu einer dramatisch verkürzten Lebenserwartung. Das Krankheitsbild als solches erfüllt also die Voraussetzungen für einen erstattungsfähigen Off-Label-Use. Allerdings müsste die vom Versicherten gewünschte Behandlung eine nicht ganz fernliegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf versprechen. Für die GM2-Gangliosidose gibt es bislang keine kausale Therapie. Der Beschwerdeführer legte im Verfahren zur Untermauerung der positiven Stellungnahme der behandelnden Kinderärztin noch ein privatärztliches Fachgutachten vor, das auf erfolgreiche Grundlagenforschung mit Versuchen an Mäusen verwies. Wissenschaftliche Phase-II- und Phase-III-Studien lägen aufgrund der seltenen Diagnose nicht vor. Unter der zwischenzeitlichen Einnahme von Miglustat habe sich der Zustand des Patienten auch tatsächlich gebessert.

Das BVerfG weist die Klage dennoch ab

Das BVerfG ließ den Erstattungsanspruch aber dennoch an der aus seiner Sicht nicht ausreichend dargelegten und bewiesenen Aussicht auf einen positiven Behandlungseffekt der geplanten Miglustat-Therapie scheitern.

Auch bei schweren, seltenen Erkrankungen benötigten Behandlungsversuche ein Mindestmaß an wissenschaftlicher Datengrundlage, die über Tierversuche hinausginge. Es sei nicht zu beanstanden, dass die unteren Instanzen die positive Stellungnahme der behandelnden Kinderärztin und des privatärztlichen Gutachters für eine gerichtliche Beurteilung der erwartbaren positiven Auswirkungen vorliegend als nicht ausreichend erachtet hätten. Auch bei Erkrankungen, für die – so wie vorliegend – aufgrund ihrer Seltenheit keine Studiendaten vorlägen, könne sich auch aus anderen Erkenntnisquellen als Studien ein Mindestmaß an wissenschaftlicher Datenlage ergeben.

Der Medizinische Dienst (MD) habe eine sehr detaillierte und plausible Erfassung der Datenlage vorgelegt, die keine Daten höherer Evidenz zeigten, die einen positiven klinisch relevanten Effekt von Miglustat auf den Erkrankungsverlauf bei GM2-Gangliosidose nahelegen würden. Der Patient habe bereits ab Oktober 2022 unter der Einnahme von Tanganil langsame motorische Fortschritte gemacht und Entwicklungsrückschritte seien ausgeblieben. Daher sei auch nicht zu beanstanden, dass die befassten Gerichte die Schilderung einer Stabilisierung des Gesundheitszustands ab Mai 2023 nicht als ausreichend angesehen hätten. Es fehle diesbezüglich an der Abgrenzungsmöglichkeit zwischen Erfolgen, die durch die Gabe von Miglustat erzielt wurden, und solchen, die der gleichzeitigen Behandlung mit Tanganil zuzuschreiben seien.

Fazit und praxistipp | Das BVerfG hat vorliegend abgesegnet, dass die befassten Fachgerichte die Beurteilung des MD über die des behandelnden Arztes stellen. Das dürfte vor allem an der besonderen Detailliertheit des MD-Gutachtens gelegen haben. Ihre Antwort als (Chef-)Arzt auf die vorliegende Entscheidung sollte daher bei Off-Label-Anfragen eine besonders detaillierte und wissenschaftlich untermauerte Stellungnahme sein, damit der stete Tropfen irgendwann den Stein höhlt.

Weiterführende Hinweise

AUSGABE: CB 2/2024, S. 14 · ID: 49779705

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