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Arbeitsorganisation„Bedürfnisorientiertes Arbeiten dient dem Personal, den Patienten und dem Krankenhaus!“
| „Meine Station“ heißt ein Pilotprojekt am Klinikum Aschaffenburg-Alzenau (Informationen online unter iww.de/s8310). Die Beschäftigten der Chirurgischen Klinik I organisieren ihre Station selbst, sie möchten einen spürbaren Unterschied machen. Prof. Dr. Friedrich Hubertus Schmitz-Winnenthal ist Chefarzt der Klinik. Er initiierte das Projekt, das Anfang dieses Jahres startete. Ursula Katthöfer (textwiese.com) fragte nach den ersten Erfahrungen. |
Frage: Herr Professor Schmitz-Winnenthal, aus welchen Gründen sind Sie auf die Idee zu „Meine Station“ gekommen?
Antwort: Letzten Endes aus Verzweiflung. Ich bin Chirurg und Chefarzt. Ich liebe diesen Beruf. Es hat mit einer besonderen Haltung zu tun, für andere Menschen da sein zu dürfen. Doch viele Mitarbeiter empfinden ihre Arbeit nicht als sinnstiftend und erfüllend. Der unermessliche Wert, den ihre Arbeit im Leben einzelner Patienten ausmachen kann, wird häufig nicht wahrgenommen. Die Medizin sollte jedoch eine sinnstiftende Aufgabe im Leben der Mitarbeiter darstellen und eine zentrale Rolle spielen.
Frage: Gab es auch strukturelle Gründe?
Antwort: Ja, das System braucht ein Update, es funktioniert nicht mehr gut. Ärzte erlernen ihren Beruf – in meinem Fall die Chirurgie –, und wenn sie ihn gut beherrschen und Erfahrung gesammelt haben, machen sie den nächsten Karriereschritt. Oft bedeutet das, die Klinik zu wechseln. Gerade in Universitätskliniken ist das normal. Alle fünf bis zehn Jahre wechselt das Team. Für eine Klinik wie in Aschaffenburg ist das nicht gut. Ich wünsche mir ein stabiles und hoch motiviertes Team. Die Mitarbeiter sollen von der Facharztausbildung bis zur Rente ihre beruflichen Bedürfnisse in der Klinik erfüllen können. Außerdem halte ich die Trennung zwischen Pflege und Ärzteschaft für falsch. Beide haben ihre Eigenheiten, müssen aber wie ein Uhrwerk zusammenarbeiten, um dem Patienten gemeinsam zu dienen.
Frage: Was sind inhaltliche Kernpunkte von „Meine Station“?
Antwort: Die Grundlage des Projekts ist bedürfnisorientiertes Arbeiten. Der Schlüssel ist, Mitarbeiter zu befähigen, ihre Bedürfnisse so zu formulieren, dass sie sowohl ihrem eigenen Anliegen als auch dem Patienten dienen. Einer der ersten Schritte dazu ist es, sich über den „Purpose“, also den Sinn und Zweck ihrer Arbeit, bewusst zu werden. Weiterhin nutzen wir das Modell der vier Räume, um Bedürfnisse effektiv zu bearbeiten: Zum persönlichen Raum gehören die eigene Kompetenz und das Befinden. Zum Teamraum gehört, wie die einzelnen Personen im Team und als Team einschließlich Pflege wirken. Diese beiden Räume hängen eng zusammen und wirken sich entscheidend auf die Effizienz des operativen Raums aus. Der operative Raum befasst sich mit den erbrachten Leistungen wie Visiten, Verbandswechseln und Operationen. Das die echte Wertschöpfung eines Krankenhauses. Daher ist es wichtig, die Bedürfnisse im persönlichen Raum und im Teamraum transparent zu machen. Am Ende sollen die Mitarbeiter formulieren können, was sie brauchen, um ihren Job so zu machen, dass er ihnen Spaß macht und sie ihre Wirksamkeit erleben können. Denn Menschen machen nur das, was sie als sinnvoll erachten und ihnen Spaß macht, dauerhaft und verlässlich gut. Schließlich gibt es den Steuerungsraum. Hier wird vor allem an der Organisation gearbeitet, weniger in der Organisation, so wie im operativen Raum. Im Steuerungsraum sitzen klassischerweise u. a. Geschäftsführung, Pflegedienstleitung und auch Chefärzte – Menschen, die oft eine ganz andere Sicht auf den operativen Raum haben und diesen anders erleben als die, die dort tätig sind.
Frage: Kommunikation ist offenbar ein Kernthema. Welche Wege nutzen Sie?
Antwort: Gewaltfreie Kommunikation (GfK) und bessere Meetingformate sind nötig. Wir haben drei Kategorien von Meetings. Das Synchronisationsmeeting (operativer Raum) findet fast täglich statt und dauert nur kurz. Wenn ich Spannung empfinde, weil etwas gar nicht oder sehr gut funktioniert, bringe ich diese ins Meeting ein. Es gibt ein klar strukturiertes, lösungsorientiertes und iteratives Vorgehen, wie diese abgearbeitet werden. Das zweite Meetingformat betrifft den Governance-Space. Diese Meetings, bei denen klassischerweise Prozesse verändert werden, finden zurzeit einmal im Monat statt. Auch dieses Meeting ist sehr durchstrukturiert. Es wird nicht viel diskutiert, sondern es wird entschieden. In einer Stunde werden wichtige Entscheidungen wie z. B. die Veränderung der Arbeitszeit getroffen. Drittens haben wir bei Bedarf Meetings, die den Teamraum und den persönlichen Raum betreffen. Z. B. gibt es bei Bedarf das „Clear-the-air-Meeting“, um Unstimmigkeiten zu besprechen. Ein Ziel dieser Meetings ist es, Emotionen von Fakten zu trennen.
Frage: Wie reagierte die Geschäftsführung auf diese Ideen, bevor es losging?
Antwort: Der Geschäftsführung war schnell klar, dass sie nichts zu verlieren hat. Für ein Krankenhaus ist es das Schlimmste, wenn das Personal zwar zu 100 Prozent besetzt, aber nur zu 50 Prozent motiviert ist. Boni helfen da nicht. Strategisch günstig war, dass die Geschäftsführung neugierig und bereit war, inklusive der Pflegedienstleitung, des Betriebsratsvorsitzenden und des erweiterten Führungskreises an sog. Loop-Approach®-Workshops teilzunehmen – ebenso wie das Ärzteteam der Chirurgie. Dadurch entstand ein solides Verständnis für den Prozess. Es handelt sich ja nicht um ein fertiges Konzept, sondern um eine lebendige Entwicklung, die keine starren Strukturen verträgt. Nach dem Workshop haben wir „Meine Station“ ausgeschrieben. Jetzt sind 31 Kräfte in der Pflege und 16 von 25 Ärzten involviert.
Frage: Wie haben die Arbeitsabläufe sich verändert?
Antwort: Der Behandlungsprozess hat sich sehr verändert. Ziel ist, die Autonomie der Patienten auf der Station zu erhalten. Das erspart uns Arbeit und unterstützt die Heilung. Den Veränderungsprozess hat das Team gemeinsam gestaltet. Wir schulen die Patienten vor dem stationären Aufenthalt. Sie lernen etwa, wie sie nach der OP aus dem Bett aufstehen. Postoperativ holen sie z. B. ihre Tabletten am Stützpunkt ab und essen in einem Bistro. Die klassische Visite wurde abgeschafft. Die Patienten kommen in ein Untersuchungszimmer. Das ist sehr effektiv, da alles an einem Ort stattfindet. Die Patienten sind enorm motiviert und erleben die Behandlung viel mehr auf „Augenhöhe“.
Frage: Benötigt „Meine Station“ mehr oder weniger Personal als andere chirurgische Stationen?
Antwort: Mehr oder weniger in Bezug auf was? Auf andere Stationen? Das kann ich heute noch nicht abschließend sagen, ist aber meiner Meinung nach keine gute Bezugsgröße. Stattdessen wollen wir fragen, wie viel Personal wir brauchen, um die Patienten sehr gut zu behandeln und uns dabei echt gut zu fühlen. Das hängt von zwei Faktoren ab: Was brauchen die Patienten und wie kompetent und strukturiert ist das Team? Unser Ziel für die Zukunft ist hier, prospektiv zu agieren. Das ist aber definitiv noch ein Weg. Die Strukturen und Regularien sind für derart dynamische Prozesse nicht zuträglich.
Frage: Wer entscheidet über die Besetzung offener Stellen?
Antwort: Fast alle Aufgaben sind in Rollen organisiert. Die Rolle Rekrutierung organisiert diesen Prozess und führt das Team und den potenziellen Bewerber zusammen. Es gibt kein traditionelles Vorstellungsgespräch, sondern eine Hospitation. Die Bewerber sollen ein Gefühl für die dynamische Arbeitsweise bekommen. Wenn sie zusagen, entscheidet das Team. Ich unterzeichne den Einstellungsvertrag, was jedoch lediglich eine Formalität ist.
Frage: Also haben Sie sehr flache Hierarchien?
Antwort: Das ist richtig und falsch. Die Hierarchien sind flach, weil sie nicht personenbezogen, sondern rollenbezogen sind. Wer eine Rolle einnimmt, hat die Kompetenz und die hierarchische Position. Aber die Rolle kann sich ändern oder der Inhaber gewechselt werden. Das alles entscheidet das Team.
Frage: Wer trägt die Verantwortung?
Antwort: Das ist ja gesetzlich geregelt. Die medizinische Endverantwortung trägt der Chefarzt, das bin ich. Doch seitdem wir dieses Projekt haben, bin ich wesentlich entspannter. Es ist transparenter, wer wofür verantwortlich ist. Da wir ein recht gut gemischtes Team haben, in dem alle wollen, dass es läuft, entsteht eine tolle Dynamik. Es macht viel Spaß.
Frage: Könnten andere Chefärztinnen und Chefärzte, die sich für das Projekt interessieren, auf Sie zukommen?
Antwort: Gerne. Zum Beispiel über wehealthcare.de. Was ist die Alternative? So weiterzumachen wie bisher? Wenn wir ehrlich sind, können wir den Patienten schon heute wegen des Personalmangels nicht immer die notwendige Behandlung zukommen lassen. Es ist gut, neue Dinge zu probieren.
Herr Professor Schmitz-Winnenthal, vielen Dank für das Gespräch!
AUSGABE: CB 8/2023, S. 17 · ID: 49583421