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CBChefärzteBrief

ArzthaftungsrechtDiese Sorgfaltspflichten gelten, wenn der fachliche Standard fehlt

Abo-Inhalt11.04.20224735 Min. LesedauerVon RA, FA MedR Dr. Rainer Hellweg, Hannover

| Nicht selten sind Behandlungssituationen in der Klinik so speziell und außergewöhnlich, dass es keine fachlichen Standards wie etwa Leitlinien hierfür gibt. Doch welcher Sorgfaltsmaßstab gilt dann haftungsrechtlich? Hierzu hat das Landgericht (LG) Flensburg ein interessantes Urteil gesprochen, das nunmehr veröffentlicht worden ist: Als Maßstab gilt die „Sorgfalt eines vorsichtig Behandelnden“. Die Erben einer Patientin hatten mit ihrer Klage z. T. Erfolg (Urteil vom 08.10.2021, Az. 3 O 188/18). |

Der Fall

Die Angehörigen einer verstorbenen Patientin verklagten den behandelnden Arzt und den Träger des Krankenhauses, in dem die Patientin behandelt worden war. Sie forderten u. a. Schadenersatz (Beerdigungskosten i. H. v. 8.720,84 Euro und entgangener Unterhalt) sowie mindestens 20.000 Euro Schmerzensgeld.

Die Patientin war im Jahr 2016 mit der Verdachtsdiagnose ST-Hebungsinfarkt in die Notaufnahme des Klinikums gebracht worden. Es wurde eine Notfall-Koronarangiographie veranlasst, bei der sich eine Dissektion des Hauptstammes der linken Koronararterie zeigte. Bei der Darstellung der rechten Koronararterie trat erstmals ein Kammerflimmern auf, welches durch eine einmalige Defibrillation durchbrochen werden konnte. Darauf folgte ein durchgehendes Kammerflimmern und es kam zum totalen Zusammenbruch des Herzkreislaufsystems. Unter Hinzuziehung des Reanimationsteams wurde die Patientin intubiert und unter Gabe von Suprarenin und Cordarex reanimiert. Zur Reanimation wurde das Reanimationsgerät LUCAS eingesetzt. Zum Zwecke einer Notfall-Bypass-Operation am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein in Kiel wurde die Patientin schließlich mittels Rettungshubschrauber verlegt. Sie konnte jedoch nicht mehr gerettet werden und verstarb letztendlich trotz zweier neuer Bypässe.

Sachverständiger: Vergrößerung der Dissektion war falsch

Der gerichtlich bestellte Sachverständige kam unter Berücksichtigung aller Aspekte der Notfallbehandlungssituation zu folgendem Schluss: Ziel der vorsichtigen Behandlung der erkannten Dissektion hätte es sein müssen, diese jedenfalls nicht zu vergrößern, deswegen so wenig wie möglich zu manipulieren und das wahre Lumen des Hauptstammes der linken Herzkranzarterie zu erhalten. Davon sei der behandelnde Arzt abgewichen, indem er trotz der bereits nach der ersten Aufnahme gefällten Diagnose einer spontanen Dissektion des Hauptstamms der linken Koronararterie weitere Aufnahmen der linken Koronararterie anfertigte und die Patientin zusätzlich intrakoronar mit einem Einzelbolus von 15 ml Aggrastat versorgte.

Die Entscheidung

Das Gericht stufte das Vorgehen des Arztes als behandlungsfehlerhaft ein. Es verurteilte die Beklagten gesamtschuldnerisch zum Schadenersatz, nicht aber zur Zahlung von Schmerzensgeld.

Merke | Dabei verkannten die Richter nicht, dass sich der behandelnde Arzt in einer beruflichen Ausnahmesituation befand, in der er in äußerst kurzer Zeit die Entscheidung über sein weiteres Vorgehen treffen musste. Der Sachverständige hatte darauf hingewiesen, dass nur wenige Kardiologen deutschlandweit jemals während ihres ganzen Berufslebens solch eine Behandlungssituation erleben würden und diese nicht zu trainieren sei. Denn sie trete im Alltag zu selten auf und für ihre Behandlung gebe es auch weder in Lehrbüchern, Leitlinien oder ähnliche Handlungsanleitungen.

Wenn kein beschriebener fachlicher Standard einschlägig sei, bedeute dies nicht, dass keine Sorgfaltspflichten in der konkreten Behandlungssituation bestünden – die auch justiziabel seien. Jedenfalls sei die Sorgfalt eines vorsichtig Behandelnden einzuhalten gewesen. Maßstab hierfür sei, dass der behandelnde Arzt unter Einsatz der von ihm zu fordernden medizinischen Kenntnisse und Erfahrungen wie ein vorsichtig Behandelnder vertretbare Entscheidungen über die diagnostischen sowie therapeutischen Maßnahmen treffen und diese Maßnahmen sodann sorgfältig durchführen müsse. Hiergegen sei im dortigen Fall verstoßen worden. Insofern folgten die Richter den Ausführungen des medizinischen Sachverständigen.

Wenn Leitlinien fehlen, gilt der allgemeine Sorgfaltsmaßstab

Für Mediziner ist klar: Nicht für alle Situationen und Krankheitsbilder kann es einschlägige Leitlinien oder Handlungsempfehlungen geben, auf die der Behandler zurückgreifen kann. Doch für Juristen bedeutet dies eine Herausforderung: Was ist dann der „Standard“, welcher Sorgfaltsmaßstab gilt im Arzthaftungsprozess?

Hier zeigt das o. g. Urteil, auf welchen Maßstab es dann ankommt. Entscheidend ist, welches Verhalten vom behandelnden Arzt nach den ihm zur Verfügung stehenden Erkenntnissen aus fachlicher Sicht seines Fachbereichs in der konkreten Behandlungssituation erwartet werden kann. Diese allgemein gehaltenen juristischen Formulierungen auszufüllen, ist im Wesentlichen Sache des medizinischen Sachverständigen im Prozess, dessen medizinische Beurteilung die Richter rechtlich zu bewerten haben.

Praxistipp | Der allgemeine Sorgfaltsmaßstab wird im Zivilrecht auch dann nicht herabgesetzt, wenn es um eine Notfallsituation geht oder wenn ein Berufsanfänger einen – subjektiv vielleicht entschuldbar erscheinenden – Fehler begeht. Dies ist anders als im Strafrecht, wo die subjektive Vorwerfbarkeit in der Tat eine Rolle spielt. Es kann also sein, dass ein Berufsanfänger, der einen Behandlungsfehler begeht, nicht strafrechtlich verurteilt wird, gleichwohl aber der Berufsanfänger selbst und zusätzlich der Klinikträger zivilrechtlich auf Schadenersatz und Schmerzensgeld in Anspruch genommen werden können. Insoweit gibt es bei der haftungsrechtlichen Bewertung im Zivilrecht keinen „Anfängerbonus“. Dies sollte der Chefarzt bei der Organisation und Einteilung von Diensten und Hintergrunddiensten berücksichtigen. Denn unter dem Gesichtspunkt des Organisationsverschuldens kann auch der Chefarzt in den Fokus zivilrechtlicher Ansprüche von Patienten geraten.

AUSGABE: CB 5/2022, S. 9 · ID: 48178905

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