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CBChefärzteBrief

Patientenversorgung„Mobilität älterer Menschen ist ein klares Muss!“

Abo-Inhalt11.02.20222727 Min. Lesedauer

| Die Generation der Babyboomer ist heute um die 60 Jahre alt. Mit ihr komme ein Tsunami auf die Orthopädie zu, meint Prof. Dr. med. Dieter Christian Wirtz, Past Präsident der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie (DGOU) und Direktor der Klinik und Poliklinik für Orthopädie und Unfallchirurgie am Universitätsklinikum Bonn sowie geschäftsführender Direktor am Chirurgischen Zentrum der Universität Bonn. Ursula Katthöfer (textwiese.com) fragte ihn, wie sein Fach sich auf die Babyboomer vorbereiten kann. |

Frage: Herr Professor Wirtz, Rückenleiden, Hüft- und Knieprobleme, Osteoporose sowie Arthrose sind häufige Ursachen für stationäre Aufenthalte älterer Patienten in der Orthopädie. Welchen Zuwachs erwarten Sie in den nächsten Jahren?

Antwort: Den demografischen Voraussagen zufolge wird die Zahl der über 70-Jährigen von 2015 bis 2050 um etwa 46 Prozent steigen. Die muskuloskelettalen Erkrankungen machen 30 Prozent und die Verletzungen des Stütz- und Bewegungsapparats noch einmal 10 Prozent aller Years Lived with Disability aus. Bei der deutlichen Steigerung des Bevölkerungswachstums in der Altersgruppe der Babyboomer und der hohen Anzahl an Beeinträchtigungen müssen wir mit einem deutlich erhöhten Patientenaufkommen rechnen.

Frage: Inwieweit verschärft sich die Situation aufgrund von Multimorbidität?

Antwort: Ein orthogeriatrischer Patient hat eine orthopädische, behandlungsbedürftige Hauptdiagnose, ist 70 Jahre oder älter und hat gleichzeitig mindestens zwei weitere geriatrietypische Erkrankungen. Oder er ist mindestens 80 Jahre alt. Dieses orthogeriatrische Patientenkollektiv mit risikobehafteten Zusatzerkrankungen liegt derzeit bei allen Hüftprothesen bei etwa 20 Prozent, bei Prothesenwechseloperationen sogar bei 40 Prozent. Auch dieser Anteil wird weiter zunehmen.

Frage: Wann würden Sie orthogeriatrischen Risikopatienten von einem künstlichen Hüftgelenk abraten?

Antwort: Wenn das Operationsrisiko vertretbar ist, bringt ein Kunstgelenkersatz die gewünschte und notwendige Mobilität und Lebensqualität zurück. Das gilt auch für eine indizierte Operation an der Wirbelsäule. Denn die Bewegungsfähigkeit verringert gerade im Alter das Risiko, an anderen Erkrankungen zu versterben. Sie wirkt sich positiv auf das Herz-Kreislauf-System, den Blutdruck, Diabetes und die Osteoporosebehandlung aus. Zudem ist durch die verbesserte Medizin bei anderen Erkrankungen das Risikoprofil für Operation und Narkose gesunken. Deshalb gibt es eigentlich keine Altersgrenze für die Indikationsstellung einer Operation. Allerdings müssen wir bei multimorbiden Patienten das individuelle Risikoprofil abschätzen. Wenn jemand eine nur noch klar begrenzte Lebenserwartung hat, nehmen wir Abstand.

Frage: Wie können Krankenhäuser sich darauf vorbereiten, in Zukunft möglichst viele Menschen mobil zu halten?

Antwort: Für dieses Patientenkollektiv braucht es ein Team aus orthopädischem Operateur, Geriater, altengerechter Fachpflege und Physiotherapie, das sich spezifisch mit dem Risikoprofil und den Besonderheiten auskennt. Es müssen Prozesse und Strukturen ähnlich wie in den Alterstraumatologiezentren entstehen. Optimal wäre ein gemeinsames Zentrum für Alterstraumatologie und Orthogeriatrie. Mehrkosten, die dadurch entstehen würden, deckt das DRG-System derzeit nicht ab. Das muss sich in Zukunft ändern.

Frage: Mit welchen Zusatzkosten ist zu rechnen?

Antwort: Einer Auswertung der Barmer GEK zufolge liegen die stationären Fallkosten bei orthogeriatrischen Patienten, die einer Hüft- oder Knieprothese bedürfen, um 20 bis 30 Prozent höher als bei Patienten der gleichen Altersgruppe ohne geriatrische Komorbidität.

Frage: Ist unsere Gesellschaft bereit, diese Kosten zu übernehmen?

Antwort: In Gesprächen stelle ich fest, dass sie dazu bereit ist. Die Frage ist, ob die Politik die Finanzierung des Gesundheitssystems und die Versorgungsstrukturen generell den Notwendigkeiten anpasst. Aus dem medizinischen Blickwinkel ist die Mobilität älterer Patienten nicht zu diskutieren. Sie ist ein klares Muss. Die orthopädische Chirurgie schafft Lebensqualität.

Frage: Wie kann die ambulante Versorgung vor und nach einer Operation integriert werden?

Antwort: Das Konzept der integrierten Versorgung ist für orthogeriatrische Patienten genau der richtige Ansatz. Es muss sektorenübergreifend sein. Schon bei der Indikation zur Operation sollte der Patient auf die OP vorbereitet werden. Die Medikation kann angepasst und der lückenlose Übergang in die Reha vorbereitet werden. Der Patient kann durch Physiotherapie den Umgang mit Gehstützen erlernen. Anämien können behandelt werden, damit die Narkose besser verträglich ist. Kognitives Training ist eine gute Delirprophylaxe. Diese präoperative Phase ist sehr wichtig. Sie gehört in den ambulanten Sektor.

Frage: Zum Schluss ein anderer Blickwinkel: Könnte es auch sein, dass die Babyboomer körperlich fitter sind als die unmittelbare Nachkriegsgeneration?

Antwort: Mir sind keine klinischen Studien bekannt, die das belegen würden. Die behandlungsbedürftige Arthrose ist der Mehrzahl der Fälle genetisch disponiert. Auch dürfen wir nicht vergessen, dass wir heute viel mehr Sportverletzungen und Freizeitunfälle haben als in den 50er-Jahren. Ich gehe daher nicht davon aus, dass die Babyboomer weniger behandlungsbedürftig sein werden.

Herr Professor Wirtz, vielen Dank für das Gespräch!

AUSGABE: CB 3/2022, S. 17 · ID: 47976241

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