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ArbeitsrechtÄrzte in Rufbereitschaft: Sind Vorgaben zur Wegzeit erlaubt?
| Im Rahmen der MD-Strukturprüfungen müssen Krankenhäuser oft die Verfügbarkeit bestimmter Fachärzte innerhalb von 30 Minuten nachweisen. Das Prüfrisiko für die Krankenhäuser ist wirtschaftlich sehr hoch, z. T. existenzbedrohend. Unklar ist vielfach, inwieweit laut Tarif den Ärzten in Rufbereitschaft eine Wegzeit vorgeschrieben werden kann und – falls ja – auf welcher Rechtsgrundlage? Die Arbeitsgerichte beurteilen diese Frage uneinheitlich. Beantwortet werden kann sie lediglich mit einer Tendenz der Rechtsprechung: 30 Minuten sind vertretbar. Dabei ist stets einzelfallbezogen zwischen krankenhaus- und arbeitsrechtlichen Aspekten zu unterscheiden. |
Krankenhausrecht: Strukturprüfung nach § 275d SGB V
Krankenhäuser, die bestimmte OPS-Codes gegenüber der gesetzlichen Krankenversicherung abrechnen wollen, müssen nachweisen, dass sie die sog. Strukturvoraussetzungen erfüllen. Näheres regelt die am seit 20.05.2021 in Kraft getretene Richtlinie des Medizinischen Dienstes des Spitzenverbands Bund der Krankenkassen (MDS; CB 12/2021, Seite 6). Die Richtlinie enthält u. a. konkrete personelle Voraussetzungen, damit kodiert werden darf (sog. Mindestanforderungen an die Strukturqualität).
Soweit bestimmte Bereiche bzw. OPS-Codes eine „Verfügbarkeit mit maximal 30-minütiger Einsatzbereitschaft“ fordern (z. B. intensivmedizinische Komplexbehandlung; CB 07/2021, Seite 12; CB 21/2021, Seite 6), geht der MDS davon aus, dass dies bei einer „gewöhnlichen Rufbereitschaft“ kaum darstellbar ist. In jedem Fall muss sich die Verfügbarkeit durch einen gesonderten Nachweis ergeben (Arbeitsvertrag des Arztes, Betriebsvereinbarung, Nachweise zu Anzahl und Qualifikation des genannten Personals, Personalstruktur, Dienstpläne). Bei bestimmten Dienstleistungen hat das Krankenhaus konkret anzugeben, dass die angestellten Krankenhausärzte bei Rufbereitschaft verpflichtet sind, innerhalb von 30 Minuten am Krankenhaus zu sein. Sind diese Strukturvoraussetzungen nach Ansicht des Medizinischen Dienstes (MD) hingegen nicht erfüllt, kürzt die Krankenkasse die Rechnung des Krankenhauses.
Ausnahmeregelung wegen COVID-19 (§ 25 Abs. 1 KHG) Merke | Infolge der Coronapandemie besteht gemäß § 25 Abs. 1 Krankenhausfinanzierungsgesetz (KHG) eine Ausnahmeregelung, wenn COVID-19-Patienten behandelt werden. In diesem Fall ist die Prüfung der betreffenden Strukturmerkmale u. a. vom 01.11.2021 bis einschließlich zum 19.03.2022 ausgesetzt. |
Arbeitsrecht: tarifvertragliche Regelungen
Krankenhausträger versuchen, die Gewährleistung dieser (Struktur-) Vorgaben sicherzustellen. Dies geschieht in der Praxis zum einen durch eine einseitige Dienstanweisung. Demnach soll der angestellte Krankenhausarzt arbeitsrechtlich verpflichtet sein, auf Verlangen die Eintreffzeit von 30 Minuten einzuhalten. Zum anderen werden dem Arzt individuelle Ergänzungen zum Arbeitsvertrag zur Unterschrift vorgelegt. Danach soll er schriftlich erklären, die Eintreffzeit einzuhalten.
Krankenhausärzte müssen Ergänzung nicht unterschreiben Praxistipp | Eine Verpflichtung zum Abschluss einer solchen Ergänzungsvereinbarung besteht für angestellte Krankenhausärzte nicht. Ob eine Dienstanweisung wirksam ist, hängt von ihrem Inhalt und ihrem konkreten Wortlaut ab. |
Im Unterschied zum Bereitschaftsdienst muss sich der Arbeitnehmer bei der Rufbereitschaft nicht an einer vom Arbeitgeber bestimmten Stelle aufhalten. Der Arbeitnehmer ist bei der Wahl seines Aufenthaltsorts grundsätzlich frei. Jedoch muss er für den Arbeitgeber jederzeit erreichbar sein, um auf Abruf die Arbeit alsbald aufnehmen zu können.
Die räumliche Distanz zwischen dem Arbeitsort und dem jeweiligen Aufenthaltsort des Arbeitnehmers darf also nur so groß sein, dass der Arbeitnehmer die Arbeit rechtzeitig aufnehmen kann. Die Rufbereitschaft ist tarifvertraglich (z. B. in § 10 Abs. 8 Tarifvertrag für Ärztinnen und Ärzte an kommunalen Krankenhäusern [TV-Ärzte-VKA]) so geregelt, dass „der Arzt sich auf Anordnung des Arbeitgebers außerhalb der regelmäßigen Arbeitszeit an einer dem Arbeitgeber anzuzeigenden Stelle aufzuhalten hat, um auf Abruf die Arbeit aufzunehmen (Rufbereitschaft)“. Eine konkrete zeitliche Vorgabe enthält der Tarifvertrag nicht.
Uneinheitliche Rechtsprechung der Arbeitsgerichtsbarkeit
Die Anordnung von Rufbereitschaftsdiensten ist damit letztlich eine Frage des sog. Direktionsrechts (Weisungsrechts) des Arbeitgebers (vgl. CB 11/2021, Seite 8 f.) gemäß § 106 Gewerbeordnung (GewO). Eine solche Anordnung unterliegt im Einzelfall der sog. „Billigkeits- bzw. Zumutbarkeitskontrolle“ nach § 315 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB). Der unbestimmte Rechtsbegriff der Zumutbarkeit wird durch die Rechtsprechung der Arbeitsgerichtsbarkeit – leider uneinheitlich – mit Leben gefüllt.
BAG (2004): Wegzeiten von 45 Minuten sind zumutbar
In einer Entscheidung aus dem Jahr 2004 war das Bundesarbeitsgericht (BAG) noch der Auffassung, dass Wegzeiten von 45 Minuten zumutbar seien (Urteil vom 22.01.2004, Az 6 AZR 543/02).
LAG Köln (2008): Eintreffzeit von 10–15 Minuten zu knapp
In einer Entscheidung aus dem Jahr 2008 kommt das Landesarbeitsgericht (LAG) Köln (Urteil vom 13.08.2008, Az. 3 Sa 1453/07, Abruf-Nr. 100079) zu dem Ergebnis, dass eine Eintreffzeit von 10–15 Minuten zu eng sei, um Rufbereitschaft anzuordnen. Müsse ein Arbeitnehmer ständig innerhalb von 15 Minuten zum Dienst erreichbar sein (hier: unfallchirurgischer Oberarzt), führe dies zu einer derart engen zeitlichen und mittelbar auch räumlichen Bindung des Arbeitnehmers, dass damit keine Rufbereitschaft, sondern Bereitschaftsdienst vorliege. Mit einer derartigen Vorgabe sei die freie Bestimmung des Aufenthaltsorts das wesentliche und entscheidende Differenzierungskriterium. Das Gericht führt dazu aus: „Nur, wenn der Arbeitnehmer die Möglichkeit hat, sich um persönliche und familiäre Angelegenheiten zu kümmern, beispielsweise an sportlichen oder kulturellen Veranstaltungen teilzunehmen, oder sich mit Freunden zu treffen e.t.c. [Anm. d. Red.: sic!]..., liegen die Voraussetzungen einer Rufbereitschaft vor. [...] Von daher entspricht es der gefestigten Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, dass bei einer entsprechenden arbeitgeberseitigen Zeitvorgabe von 20 Minuten zwischen Abruf und Arbeitsaufnahme eine derart enge Bindung des Arbeitnehmers entsteht, die mit dem Wesen der Rufbereitschaft nicht zu vereinbaren ist. Demgemäß ist in einem solchen Fall von der Anordnung von Bereitschaftsdienst auszugehen.“
LAG Nürnberg (2003): Zeit ohne Arbeitsanfall muss in der Rufbereitschaft die Regel bleiben
Auch das LAG Nürnberg (Urteil vom 04.12.2003, 4 Sa 201/12) bestätigte diese Rechtsprechungstendenz und stellte fest, dass Rufbereitschaft nur angeordnet werden dürfe, wenn ein Arbeitsanfall zwar gelegentlich eintrete, die Zeiten ohne einen solchen Arbeitsanfall aber die Regel seien. Allerdings könne dabei nicht allein auf einen bestimmten Prozentsatz von Arbeitsanfall abgestellt werden; auch die Häufigkeit der einzelnen Arbeitseinsätze sei von Bedeutung.
LAG Rheinland-Pfalz: Bei Zeitvorgabe von 10 bis 15 Minuten liegt Bereitschaftsdienst vor
Nach Ansicht des LAG Rheinland-Pfalz (20.09.2012, Az. 11 Sa 81/12) liege bei einer zeitlichen Vorgabe von 15 bis 20 Minuten zwischen Abruf und Arbeitsaufnahme ein Bereitschaftsdienst und keine Rufbereitschaft vor, da dem Arbeitnehmer durch den vorgegebenen Zeitfaktor die Möglichkeit genommen wird, seine an sich arbeitsfreie Zeit frei zu gestalten.
BAG (2002): Arbeitsanweisung mit Wegzeit von 20 Minuten unwirksam
Nach der maßgeblichen Ansicht des BAG (Urteil vom 31.01.2002, Az. 6 AZR 214/00) ist eine Anweisung des Krankenhausträgers, dass bei Rufbereitschaft die Arbeit innerhalb von 20 Minuten nach Abruf aufgenommen werden muss, unwirksam, weil durch den Faktor Zeit die freie Wahl des Aufenthaltsorts durch den Mitarbeiter eingeschränkt werde. Bei einer solchen Zeitvorgabe sei der Arbeitnehmer faktisch gezwungen, sich in unmittelbarer Nähe des Arbeitsplatzes aufzuhalten, um die Arbeit bei Bedarf fristgerecht aufnehmen zu können. Dies sei mit dem Wesen der Rufbereitschaft nicht zu vereinbaren.
Fazit | Nach den o. g. Vorgaben muss der Krankenhausarzt innerhalb von 30 Minuten am Patienten sein. Dies impliziert, dass der Wohnort in ca. 20 Minuten Wegzeit entfernt sein muss, da sich der Arzt auch noch umziehen und desinfizieren muss. Diese Vorbereitungshandlungen nehmen i. d. R. ca. 10 Minuten in Anspruch. Längere Wegzeiten sind nach der o. g. Rechtsprechung mit dem Wesen der Rufbereitschaft unvereinbar und dürften damit unbillig i. S. d. § 315 BGB sein. Unbillige Weisungen brauchen Arbeitnehmer nicht zu befolgen (CB 11/2020, Seite 3). |
- CB-Themenspezial: Rufbereitschaft und Bereitschaftsdienst – das ist rechtlich zulässig (CB 11/2021, Seite 10)
AUSGABE: CB 3/2022, S. 10 · ID: 47785169