Sie sind auf dem neuesten Stand
Sie haben die Ausgabe Nov. 2024 abgeschlossen.
Interview„Je besser KI an eine Apotheke angepasst ist, desto genauer sind die Verkaufsprognosen“
| Die manuelle Bestandsplanung in der Apotheke kann zeitaufwendig und dennoch unpräzise sein. Die Arbeitsgruppe für Supply Chain Services des Fraunhofer-Instituts für Integrierte Schaltungen IIS will die Bestandsplanung optimieren. Julia Schemm ist Data Scientist und leitet das Forschungsprojekt „KI-basierte Bestandsplanung für Apotheken“, das vom Bayerischen Staatsministerium für Wirtschaft, Landesentwicklung und Energie und dem Bayerischen Verbundforschungsprogramm (BayVFP) – Digitalisierung gefördert wird. Ursula Katthöfer (www.textwiese.com) sprach mit ihr. |
Frage: Wie ist Ihr Forschungsprojekt aufgebaut?
Antwort: Wir möchten Apotheken bei der Bestandsplanung mit einem automatisierten Prozess unterstützen, der für jeden Lagerartikel den zukünftigen Bedarf einschätzt und einen optimalen Bestellvorschlag macht. Dazu haben wir über Schnittstellen die Daten von drei Apotheken aus deren Warenwirtschaftssystemen abgerufen. Stammdaten wie der ATC-Code enthalten Informationen zu Wirkstoff, Indikation, Darreichungsform und Betäubungsmitteln. Haupttreiber für das Modell ist jedoch der vergangene Bedarf. Wir schauen uns die Verkaufsverläufe an und unterscheiden zwischen Schnelldrehern, die regelmäßig verkauft werden, und Langsamdrehern, die nur selten nachgefragt werden. Weil Rezepte nur begrenzt gültig sind, spielen Quartalsverläufe eine Rolle. Um den optimalen Bestellvorschlag zu bestimmen, fließen auch individuelle Aspekte wie Rabatte, Lagerbestand, Servicelevel und die Konditionen, die Apotheken mit Herstellen aushandeln, in unser Modell ein.
Frage: Wo liegen die Herausforderungen bei der Datenbeschaffung?
Antwort: Das Prognosemodell ist gleichzeitig ein Machine-Learning-Modell. Die methodische Herausforderung, Daten einfließen zu lassen, ist nicht so groß. Viel schwieriger ist es, Daten zu beschaffen. So hat die Werbung einen großen Einfluss. Wenn ein Medikament in einem Fernsehspot beworben wird, steigt die Nachfrage. Um diesen Anstieg prognostizieren zu können, müssten wir wissen, wann Werbung bereits geschaltet wurde und wie die Werbestrategien der Hersteller für die Zukunft sind.
Schwierig ist auch, die Kosten der nicht erfüllten Nachfrage zu quantifizieren. Was kostet es, wenn eine Apotheke ein Medikament nicht vorrätig hat, der Kunde woanders hingeht und schlimmstenfalls nicht mehr wiederkommt? Das muss individuell je nach Apotheke berechnet werden.
Frage: Das Projekt startete im Januar 2022 und endet Mitte nächsten Jahres. Welche Aussagen können Sie bisher zur Verlässlichkeit der durch KI generierten Prognosen treffen?
Antwort: Wir haben uns bei den drei genannten Apotheken die Prognosefehler der KI angesehen und unsere Vorhersage mit den Werten aus dem tatsächlichen Verkauf verglichen. Die Prognosefehler der KI sind auf jeden Fall kleiner als die der bisher verwendeten, sehr einfachen Prognoseverfahren, wie z. B. der Mittelwert der letzten vier Wochen. Wir machen nicht nur eine sogenannte Punktprognose, die Auskunft über den Verkauf in vier Wochen gibt, sondern wir geben zusätzlich einen Korridor an, um Schwankungen zu berechnen. Apotheken bestellen gerne etwas mehr, um auf Schwankungen vorbereitet zu sein. Die KI kann besser einschätzen, wie die Nachfrage schwankt, ohne dass unnötig viel Ware auf Lager liegt.
Frage: Setzt die KI Personalressourcen frei?
Antwort: Diese Frage war unsere Hauptmotivation, als wir die Idee entwickelten. Denn aus den Apotheken hörten wir immer wieder, dass PTA viel zu viel Zeit mit Bestellungen verbringen, statt Kunden zu beraten. Deshalb wollten wir Arbeitsschritte, die gut automatisierbar sind, auch tatsächlich automatisieren. Es gibt jedoch Erfahrungswissen, zu dem es keine Daten für das Modell gibt. Das passiert, wenn die Arztpraxis im Nachbarhaus in den Sommerferien für zwei Wochen schließt oder wenn für ein Medikament der Patentschutz abläuft und die Ärzte stattdessen Generika verordnen. Diese Änderungen für das Modell aufzubereiten, ist nicht ganz trivial. Doch mit den Jahren wird das nötige Erfahrungswissen weniger werden.
Frage: Aber gerade langjährige Apothekenbesitzer wissen doch unglaublich viel. Ist die KI trotzdem schlauer?
Antwort: Wenn es um die Einzelheiten der vielen Faktoren geht, die Medikamente betreffen, ist es für den Menschen sehr schwierig, optimale Entscheidungen zu treffen. KI hat hingegen kein Problem mit großen Datenmengen. Aber in den Köpfen der Menschen stecken viele wertvolle Informationen, die in keinem System gespeichert sind. Die Umstellung auf die automatisierte KI ist eine gute Gelegenheit, dieses Wissen zu dokumentieren, um es auch bei Übergaben oder Einarbeitungen weitergeben zu können.
Frage: Das Forschungsprojekt endet bald. Wann können Apotheken KI-basiert arbeiten?
Antwort: Fraunhofer – und damit auch das Fraunhofer IIS – betreibt angewandte Forschung. Wir sind keine Softwareentwickler. Der nächste Schritt wäre, dass IT-Dienstleister, die möglicherweise schon Warenwirtschaftssysteme entwickelt haben, eine KI-Software auf den Markt bringen. Es wird eine Form der Lizenzierung geben – mit einer Out-of-the-box-Lösung, die zu allen Apotheken passt, ist allerdings nicht zu rechnen. Dazu sind die Apothekensortimente und Wettbewerbssituationen in der Stadt, auf dem Land oder direkt neben einem Facharzt zu unterschiedlich. Das gesamte Verfahren muss nicht für jede Apotheke neu entwickelt werden, aber je besser die KI individuell angepasst ist, desto genauer werden die Prognosen.
Frau Schemm, vielen Dank!
AUSGABE: AH 11/2024, S. 12 · ID: 50135752