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VertragsarztrechtRegressfalle!? So tappen Hausärzte bei der Verordnung von Medizinal-Cannabis nicht hinein

Abo-Inhalt23.05.20256045 Min. LesedauerVon Rechtsanwalt Vincent Holtmann, D+B Rechtsanwälte Partnerschaft mbB, Berlin

| Was bedeutet es konkret für die Verordnung von Medizinal-Cannabis, dass unter anderem Allgemeinmediziner und Internisten ohne die bei anderen Fachgruppen gesetzlich vorgesehene Genehmigung der Krankenkassen verordnen dürfen (nähere Informationen hierzu in AAA 09/2024, Seite 12)? Wichtige Hinweise für die Cannabis-Verordnungspraxis von Hausärzten und zu den Voraussetzungen für den Anspruch von Versicherten auf die Erstverordnung von Medizinal-Cannabis lassen sich einem aktuellen Urteil des Landessozialgerichts (LSG) Baden-Württemberg entnehmen (Urteil vom 26.03.2025, Az. L 5 KR 1703/23). |

Sachverhalt

Der Patient und spätere Kläger litt unter einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) im Erwachsenenalter, einer Differenzialdiagnose bipolare Störung, einer Persönlichkeitsstörung, Zwangsstörungen und einer Tic-Störung sowie in der Vorgeschichte an einem Alkohol- und Amphetaminabusus. Dieser Patient beantragte bei seiner Krankenkasse die Genehmigung einer Therapie mit Cannabisblüten. Dem Antrag legte er eine Begründung des ihn betreuenden Vertragsarztes bei, wonach damit die ADHS therapiert werden solle, nachdem es unter der Gabe sonstiger Arzneimittel zu Nebenwirkungen gekommen sei. Auch die laufende Psychotherapie habe demnach keine Verbesserungen gebracht.

Die Krankenkasse holte in der Folge zwei Gutachten des Medizinischen Dienstes (MD) ein, nach denen die Begründung des verordnenden Arztes weiterhin nicht ausreichend sei. Darin werde weder auf vorhandene Therapiealternativen eingegangen, noch berücksichtige die Begründung des Arztes die in einer S3-Leitlinie zu ADHS aus dem Jahre 2017 konstatierte Negativempfehlung für Cannabinoide bei ADHS. Die Krankenkasse wies den Widerspruch zurück. Der Versicherte erhob daraufhin Klage vor dem Sozialgericht Mannheim und verwies zur Begründung insbesondere auf eine weitere fachärztliche Stellungnahme des verordnenden Vertragsarztes: Demnach sei eine leitliniengerechte Medikation im Vorfeld unter Berücksichtigung der Komorbiditäten hinlänglich angewendet und jeweils begründet eingestellt worden. Auch der psychotherapeutische Behandler habe einen erfreulichen Behandlungsverlauf unter der Einnahme von Cannabis festgestellt. Bislang gezeigte, einschlägige Symptomatiken seien insgesamt rückläufig.

Das Sozialgericht (SG) gab der Klage nach Vernehmung des verordnenden Arztes statt, da die gesetzlichen Voraussetzungen für die Versorgung mit Cannabis erfüllt seien. Die beklagte Krankenkasse erhob hiergegen Berufung vor dem LSG Baden-Württemberg. Zur Begründung machte sie geltend, sämtliche verfügbaren Standardtherapien, die für ADHS im Erwachsenenalter zur Verfügung stünden, müssten entweder durch den Vertragsarzt bereits erfolglos angewendet worden sein oder in die Abwägung mit einbezogen werden. Die vorliegende Einschätzung des verordnenden Arztes genüge diesen Anforderungen nicht und sei zu pauschal.

Entscheidungsgründe

Das LSG ist dem Ansatz der Krankenkasse im Ergebnis gefolgt und hat die Klage des Patienten zurückgewiesen. Der Anspruch von Versicherten auf die Versorgung mit Cannabis richte sich abschließend nach den Vorgaben des § 31 Abs. 6 SGB V. Der zwischenzeitliche Wegfall der Genehmigungspflicht (durch Anpassung der Arzneimittel-Richtlinie) beeinflusse Bestand und Inhalt dieser Voraussetzungen nicht.

Merke | Der Krankenkasse steht im Grundsatz nach wie vor die finale Entscheidungsmacht über die Frage des Vorliegens der Verordnungsvoraussetzungen zu. Dies gilt auch dann, wenn ihre vorherige Genehmigung bei Erstverordnung nicht eingeholt wird und die Überprüfung ggf. erst nachgelagert erfolgt.

Die Voraussetzungen für die Verordnung seien hier jedoch nicht erfüllt: Der Kläger leide zwar an einer schwerwiegenden Erkrankung. Es stünden jedoch noch allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistungen zur Verfügung, die im vorliegenden Einzelfall zur Anwendung gelangen könnten. Die vom MD thematisierten Standard-Alternativtherapien seien jedenfalls nicht deswegen ausgeschlossen, weil diese zu schwerwiegenden Nebenwirkungen geführt hätten. Solche Nebenwirkungen seien von dem verordnenden Arzt nämlich nicht ausreichend dargelegt bzw. dokumentiert worden.

In Fällen, in denen für die Behandlung Standardtherapien zur Verfügung stünden, bedürfe es einer begründeten Einschätzung des Vertragsarztes, warum diese Methoden unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustands dennoch nicht zur Anwendung gelangen könnten. Diese gesetzliche Vorgabe sei auch nicht durch das Inkrafttreten des Cannabisgesetzes aufgeweicht worden. Den benannten Anforderungen genügten die Ausführungen des hier verordnenden Arztes nicht. Zwar habe dieser alle medikamentösen Standardtherapien abgehandelt. Es fehlten jedoch detaillierte Angaben, über welche konkreten Zeiträume in welcher Dosierung jedes der Medikamente eingenommen worden sei und welches konkrete Ausmaß die jeweils angegebenen Nebenwirkungen gehabt hätten.

Auch fehle eine Abwägung der Nebenwirkungen der Standardtherapie mit dem beschriebenen Krankheitszustand und den möglichen schädlichen Auswirkungen einer Cannabis-Therapie. Dabei dürften in die Abwägung nur Nebenwirkungen einfließen, die das Ausmaß einer behandlungsbedürftigen Erkrankung erreichen würden. Insbesondere hätten die Gefahren einer Cannabis-Therapie angesichts des Substanz- und Alkoholmissbrauchs des Klägers einer näheren Beleuchtung bedurft.

Merke | Nach den strengen Vorgaben des Gesetzes und der Rechtsprechung muss die „begründete Einschätzung“ des Vertragsarztes die bestehenden Erkrankungen und bisher angewandte Behandlungskonzepte sowie das angestrebte Behandlungsziel benennen, die für die Abwägung der Anwendbarkeit verfügbarer Standardtherapien mit der Anwendung von Cannabis erforderlichen Tatsachen vollständig darlegen und eine Abwägung unter Einschluss möglicher schädlicher Wirkungen von Cannabis erkennen lassen. Nur wenn all diese Bestandteile lückenlos vom Vertragsarzt thematisiert werden, kann dessen Einschätzung gerichtlich noch auf völlige Unplausibilität geprüft werden (vgl. Urteil des BSG vom 20.03.2024, Az. B 1 KR 24/22 R). Dem Vertragsarzt steht insofern dann eine gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbare Einschätzungsprärogative zu.

Mit der Erfüllung des Merkmals der „nicht ganz entfernt liegenden Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome“ musste sich das LSG nach alledem nicht mehr auseinandersetzen. Das Gericht hat eine Revision nicht zugelassen. Das Urteil würde damit rechtskräftig, sofern keine Schritte in Form einer Beschwerde gegen diese Nichtzulassung der Revision unternommen werden sollten.

Fazit | Aus diesem Urteil des LSG Baden-Württemberg lassen sich vier zentrale Botschaften für die Verordnungspraxis von Medizinal-Cannabis „mitnehmen:

  • Der Anspruch auf Versorgung mit Cannabis folgt nach wie vor den strengen Voraussetzungen des SGB V, die nach der Rechtsprechung weder durch das Inkrafttreten des Cannabisgesetzes noch durch den Wegfall der Genehmigungspflicht für bestimmte Fachgruppen (z. B. Fachärzte für Allgemeinmedizin oder Innere Medizin) nach der Arzneimittel-Richtlinie gelockert worden sind.
  • Bei der Erstverordnung von Medizinal-Cannabis und bei gleichzeitig bestehenden Therapiealternativen sollten Hausärzte daher weiterhin auf die Dokumentation einer nach gesetzlichem Maßstab lückenlosen, medizinisch begründeten Einschätzung achten. Sind die danach erforderlichen Bestandteile vollständig adressiert, kann die Einschätzung des verordnenden Arztes gerichtlich nur noch auf völlige Unplausibilität überprüft werden.
  • Falls bei der Entscheidung über die Cannabis-Erstverordnung im Einzelfall auch nur geringste Zweifel verbleiben, sollte zur Absicherung auch weiterhin unbedingt die Vorabgenehmigung der Krankenkasse (freiwillig) eingeholt werden, um Regressen – etwa im Rahmen einer Wirtschaftlichkeitsprüfung – bestmöglich vorzubeugen.
  • Doch Achtung: Eine abschließende Prüfung auf wirtschaftliche Verordnungsweise erfolgt im Rahmen des (freiwilligen) Genehmigungsverfahrens regelmäßig wohl nicht, sodass auch eine etwaige Genehmigung der Krankenkasse keine umfassende Rechtssicherheit im Hinblick auf die Einhaltung des Wirtschaftlichkeitsgebots bei der Verordnungsentscheidung vermittelt.
Weiterführende Hinweise

AUSGABE: AAA 6/2025, S. 12 · ID: 50415009

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