FeedbackAbschluss-Umfrage

WirtschaftlichkeitsprüfungMaschinelle Prüfung von Praxisbesonderheiten ist durch intellektuelle Prüfung zu ergänzen

Abo-Inhalt29.09.20229189 Min. LesedauerVon RA, FA für MedizinR Dr. Jan Moeck, D+B Rechtsanwälte Partnerschaft mbB, Berlin

| Statistische Wirtschaftlichkeitsprüfungen stehen und fallen i. d. R. mit der Anerkennung (oder Nichtanerkennung) von Praxisbesonderheiten durch die Prüfgremien. Wichtig ist dabei allerdings, dass nicht nur die Praxisbesonderheit an sich anerkannt wird, sondern auch der Umfang der in diesem Zusammenhang tatsächlich entstandenen Kosten richtig bestimmt wird. Gemäß einem Urteil des Landessozialgerichts (LSG) Baden-Württemberg vom 23.11.2021 reicht es insofern nicht aus, wenn Auffälligkeiten von Verordnern nur mithilfe eines Algorithmus festgestellt werden. Ergänzend sei eine intellektuelle Prüfung geboten, die dann zur Anerkennung weiterer Verordnungskosten führen könne (Az. L 5 KA 846/19). |

Hintergrund: Mit dem „Filterverfahren“ gegen Regresse

Im hier beschriebenen Fall ging es um Verordnungen aus dem Jahr 2013, wie im folgenden Sachverhalt zu lesen. Seinerzeit sortierten die Prüfgremien in Baden-Württemberg diejenigen Praxen, die ihre Richtgröße stark überschritten, mithilfe eines mehrschrittigen Filtersystems heraus, bei dem Auffälligkeiten von Verordnern mit einem bestimmten Algorithmus geprüft wurden. Nichtsdestotrotz gelten die folgenden Hinweise auch für heutige Prüfverfahren, bei denen statistische Daten/Algorithmen zur Ermittlung von Auffälligkeiten im Verordnungsverhalten angewendet werden.

Zum Filterverfahren berichtete die Ärztezeitung im Jahr 2012 (Quelle unten): Ein „Filterelement ist die Berücksichtigung von Praxisbesonderheiten, bei denen eine indizierte Anwendung vorausgesetzt werden“ könne, „dies gelte „beispielsweise für teure Arzneimittel bei seltenen Erkrankungen“. Und weiter: „Von fast 12.000 verordnenden Vertragsärzten im Jahr 2009 lagen 1.819 um mehr als 25 Prozent über ihrer Richtgröße. Nach Durchlaufen des Filterkonzepts blieben dann 349 Mediziner übrig, gegen die ein Regressverfahren eingeleitet wurde. Am Ende wurde dann gegen 139 Praxen in erster Instanz ein Regress verhängt – das entspricht 1,17 aller Verordner in Baden-Württemberg.“

Zum Sachverhalt

Der Kläger ist als hausärztlicher Internist zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassen. Er behandelt schwerpunktmäßig Patienten mit Diabeteserkrankungen und überschritt das Richtgrößenvolumen im Jahr 2013 – nach Anwendung der vorgesehenen Filter – noch um rund 74 Prozent, was einem Regress von rund 64.000 Euro entsprochen hätte. Da es sich um eine erstmalige Überschreitung handelte, wurde eine individuelle Beratung festgesetzt. Den gegen den Regress gerichteten Widerspruch wies der Beschwerdeausschuss mit der Begründung zurück, dass der angewandte Mehrkosten-Filter für Diabeteserkrankungen (Filter 6a4) den Schwerpunkt der Praxis des Klägers ausreichend berücksichtige.

Der Arzt erhob dagegen Klage. Die wirkstoffbezogene Ermittlung der Praxisbesonderheiten gehe fehl, weil sie die gestellten ICD-10 Diagnosen gänzlich unberücksichtigt lasse. Die von ihm fast ausschließlich behandelten Typ-1-Diabetiker mit Insulinpumpentherapie hätten einen wesentlich größeren Bedarf an Blutzuckerteststreifen als andere Diabetiker. Dies werde bei der wirkstoffbezogenen Betrachtungsweise nicht berücksichtigt.

Anmerkung der Redaktion

Laut o. g. Beitrag in der Ärztezeitung „könnten die Prüfer auf codierte Diagnosen nicht zurückgreifen, weil die Qualität der Diagnosen das nicht erlaube. Stattdessen müssten sie von der Wahl der Arzneimittel auf die Indikation zurückschließen“.

Das Sozialgericht hielt die Ausführungen des Beschwerdeausschusses im Bescheid für ausreichend und wies die Klage ab. Hiergegen legte der Kläger Berufung vor dem LSG Baden-Württemberg ein.

Die Entscheidung des LSG

Auf die Berufung des Arztes hob das LSG das erstinstanzliche Urteil sowie den Bescheid des Beschwerdeausschusses auf und verurteilte den Ausschuss zur erneuten Entscheidung über den Widerspruch des Klägers unter Beachtung der Rechtsauffassung des LSG.

Die Feststellung und Bewertung der Praxisbesonderheiten des Klägers halte sich nicht innerhalb des den Prüfgremien zustehenden Beurteilungsspielraums. Praxisbesonderheiten seien anzuerkennen, wenn ein spezifischer, vom Durchschnitt der Vergleichsgruppe signifikant abweichender Behandlungsbedarf des Patientenklientel und die hierdurch hervorgerufenen Mehrkosten nachgewiesen werden. Es obliege zunächst dem geprüften Arzt, etwaige Besonderheiten seiner Praxis darzulegen. Sind danach Praxisbesonderheiten erkennbar oder kommt das Vorliegen von Praxisbesonderheiten ernsthaft in Betracht, müssen die Prüfgremien von Amts wegen entsprechende (weitere) Ermittlungen durchführen.

Gegen die Anwendung des Filterverfahrens als Hilfsmittel der Amtsermittlung sei zunächst aus Rechtsgründen nichts einzuwenden. Anderes würde nur dann gelten, wenn das Filterverfahren strukturelle Fehler aufweise, die notwendig zur Feststellung eines unrichtigen oder unvollständigen Sachverhalts führen müssten, der wiederum nicht Grundlage einer rechtsfehlerfreien Beurteilungsentscheidung sein könnte. Hierfür sei aber nichts ersichtlich.

Da das Filterverfahren (nur) ein Hilfsmittel zur Sichtbarmachung der aus der Fülle der Verordnungsdaten erkennbaren Praxisbesonderheiten darstelle und als wesentlich auf statistischen Grundsätzen beruhendes maschinelles Verfahren die Umstände des jeweiligen Einzelfalls nicht vollständig erfassen kann, bedarf es notwendig der Ergänzung durch eine intellektuelle Prüfung.

Da der Diabetes mellitus Typ 2 mit über 90 Prozent die weitaus häufigste Diabetesform einnehme, beständen berechtigte Zweifel daran, den Filter 6a4 ohne Weiteres auf die Praxis des Klägers anzuwenden. Bei der Behandlung der beiden verschiedenen Typen der Diabeteserkrankung könnten relevante Unterschiede bestehen, die sich auf die Verordnungskosten auswirken würden.

Zwar hat der Kläger im vorgerichtlichen Verfahren die Unterschiede der Diabetesformen hinsichtlich der Verordnungskosten nicht substantiiert aufgezeigt und obliegt es grundsätzlich dem Arzt, nicht nur die besondere Patientenklientel, sondern auch den damit verbundenen Mehraufwand darzulegen. Liegt aber wie hier eine signifikant von der Vergleichsgruppe abweichende Patientenklientel vor und kann anhand allgemein zugänglicher Informationen (Häufigkeit der Diabetesform, abweichender Kontrollbedarf) auf einen Mehraufwand geschlossen werden, müssen die Prüfgremien von Amts wegen handeln.

Wenn die im Filter 6a4 abgebildeten durchschnittlichen Verordnungskosten zu über 90 Prozent die Behandlung von Typ-2-Diabetikern betreffen, diese aber – unstreitig – einen deutlich geringeren Bedarf an Blutzuckerteststreifen haben, bestehen begründete Zweifel, dass diese Werte den zutreffenden Maßstab zur Prüfung von Praxisbesonderheiten beim Kläger bilden können.

Fazit | Im Prüfverfahren obliegt es zunächst dem Arzt, Praxisbesonderheiten darzulegen. Soweit der Arzt dies nicht spätestens im Widerspruchsverfahren beim Beschwerdeausschuss tut, besteht die Gefahr, dass er damit im Klageverfahren aus Rechtsgründen nicht mehr gehört wird (sogenannte Präklusion).

Um Praxisbesonderheiten in einer möglichen Prüfung benennen und belegen zu können, empfiehlt es sich, stets sorgfältig zu dokumentieren und sowohl die Haupt- als auch Nebendiagnosen zu codieren, da der Nachweis der Behandlung einer fachgruppenuntypischen Patientenklientel im Wesentlichen über den Vergleich von Morbiditätsstatistiken auf Grundlage der ICD-10-Schlüssel erbracht werden kann.

Im Prüfverfahren sollte der Arzt zudem auch vortragen, warum aus der Behandlung der spezifischen Patientenklientel Mehrkosten entstehen sowie in welchen Bereichen und in welcher Höhe.

Zwar war im vorliegenden Fall nur eine (regressersetzende) Beratung festgesetzt worden. Gerade für Praxen mit hohen Verordnungskosten kann es indessen sinnvoll sein, sich bereits gegen eine solche Beratung zu wehren, wenn Praxisbesonderheiten nicht vollumfänglich anerkannt wurden. Im Erfolgsfall – wie hier – bleibt die Beratung für mögliche zukünftige Prüfverfahren erhalten.

Weiterführender Hinweis
Quelle

AUSGABE: AAA 10/2022, S. 12 · ID: 48596147

Favorit
Teilen
Drucken
Zitieren

Beitrag teilen

Hinweis: Abo oder Tagespass benötigt

Link
E-Mail
X
LinkedIn
Xing
Loading...
Loading...
Loading...
Heft-Reader
2022

Bildrechte