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AufhebungsvertragWas ist mit „fairem Verhandeln“, wenn der Aufhebungsvertrag unter Druck unterzeichnet wird?

Abo-Inhalt23.03.20224122 Min. Lesedauer

| Ein Aufhebungsvertrag kann unter Verstoß gegen das Gebot fairen Verhandelns zustande gekommen sein. Das ist anhand der Gesamtumstände der konkreten Verhandlungssituation im jeweiligen Einzelfall zu entscheiden. Allein der Umstand, dass der ArbG den Abschluss eines Aufhebungsvertrags von der sofortigen Annahme seines Angebots abhängig macht, stellt für sich genommen keine Pflichtverletzung gemäß § 311 Abs. 2 Nr. 1 i. V. m. § 241 Abs. 2 BGB dar, auch wenn dies dazu führt, dass dem ArbN weder eine Bedenkzeit verbleibt noch er Rechtsrat einholen kann. |

Sachverhalt

Am 22.11.19 führten der Geschäftsführer und sein Prozessbevollmächtigter im Büro des Geschäftsführers ein Gespräch mit der als Teamkoordinatorin Verkauf im Bereich Haustechnik beschäftigten ArbN. Sie erhoben gegenüber der ArbN den Vorwurf, diese habe unberechtigt Einkaufspreise in der EDV abgeändert bzw. reduziert, um so einen höheren Verkaufsgewinn vorzuspiegeln. Die ArbN unterzeichnete nach einer etwa zehnminütigen Pause, in der die drei anwesenden Personen schweigend am Tisch saßen, den vom ArbG vorbereiteten Aufhebungsvertrag. Dieser sah unter anderem eine einvernehmliche Beendigung des Arbeitsverhältnisses zum 30.11.19 vor. Die weiteren Einzelheiten des Gesprächsverlaufs sind streitig.

Die ArbN hat den Aufhebungsvertrag mit Erklärung vom 29.11.19 wegen widerrechtlicher Drohung angefochten. Sie behauptete, ihr sei für den Fall der Nichtunterzeichnung des Aufhebungsvertrags die Erklärung einer außerordentlichen Kündigung sowie die Erstattung einer Strafanzeige in Aussicht gestellt worden. Ihrer Bitte, eine längere Bedenkzeit zu erhalten und Rechtsrat einholen zu können, sei nicht entsprochen worden. Damit habe der ArbG gegen das Gebot fairen Verhandelns verstoßen. Das Arbeitsgericht gab der Klage statt, das LAG Hamm (17.5.21, 18 Sa 1124/20, Abruf-Nr. 223083) wies sie auf die Berufung des ArbG ab.

Entscheidungsgründe

Die Revision der ArbN vor dem 6. Senat des BAG (24.2.22, 6 AZR 333/21, Abruf-Nr. 228197) war erfolglos. Auch wenn der von der ArbN geschilderte Gesprächsverlauf zu ihren Gunsten unterstellt werde, fehle es an der Widerrechtlichkeit der behaupteten Drohung. Ein verständiger ArbG dürfe im vorliegenden Fall sowohl die Erklärung einer außerordentlichen Kündigung als auch die Erstattung einer Strafanzeige ernsthaft in Erwägung ziehen. Ebenso sei das LAG auf der Grundlage der vom BAG (7.2.19, 6 AZR 75/18) entwickelten Maßstäbe unter Berücksichtigung des in der Revisionsinstanz nur eingeschränkten Prüfungsumfangs zutreffend zu dem Schluss gekommen, dass der ArbG nicht unfair verhandelt und dadurch gegen seine Pflichten aus § 311 Abs. 2 Nr. 1 i. V. m. § 241 Abs. 2 BGB verstoßen habe.

Relevanz für die Praxis

Das BAG betonte zudem, dass die Entscheidungsfreiheit der ArbN nicht dadurch verletzt worden sei, dass der ArbG den Aufhebungsvertrag entsprechend § 147 Abs. 1 S. 1 BGB nur zur sofortigen Annahme unterbreite und die ArbN über die Annahme deswegen sofort habe entscheiden müssen.

ÜBERSICHT / Das Gebot des fairen Verhandelns

  • 1. Nach der Rechtsprechung des BAG kann der Gefahr einer möglichen Überrumpelung des ArbN bei Vertragsverhandlungen, z.B. weil diese zu ungewöhnlichen Zeiten oder an ungewöhnlichen Orten stattfinden, mit dem Gebot fairen Verhandelns begegnet werden (BAG 15.3.05, 9 AZR 502/03). Bei dem Gebot fairen Verhandelns handelt es sich im Zusammenhang mit der Verhandlung eines arbeitsrechtlichen Aufhebungsvertrags um eine durch die Aufnahme von Vertragsverhandlungen begründete Nebenpflicht i. S. d. § 311 Abs. 2 Nr. 1 i. V. m. § 241 Abs. 2 BGB.
  • 2. Bei der Bestimmung des Inhalts der Pflichten nach § 241 Abs. 2 BGB ist zu berücksichtigen, dass sich die Parteien eines Aufhebungsvertrags zum Zeitpunkt der Vertragsverhandlungen bereits in einem Arbeitsverhältnis befinden.
  • 3. Dabei werden auch Willensmängel unterhalb der Schwelle der §§ 105, 119 ff. BGB erfasst. Der genaue Inhalt der Rücksichtnahmepflichten ist anhand der Umstände des Einzelfalls zu bestimmen (vgl. BAG 24.10.18, 10 AZR 69/18). § 241 Abs. 2 BGB zwingt dabei nicht zu einer Verleugnung der eigenen Interessen, sondern zu einer angemessenen Berücksichtigung der Interessen der Gegenseite. Nach § 241 Abs. 2 BGB kann der ArbG verpflichtet sein, von sich aus Hinweise zu geben oder Aufklärung zu leisten (BAG 21.12.17, 8 AZR 853/16). Erteilt er Auskünfte, müssen diese richtig, eindeutig und vollständig sein (vgl. BAG 15.12.16, 6 AZR 578/15).
  • 4. Das Herbeiführen oder Ausnutzen einer Verhandlungssituation, die unfair gegenüber dem Vertragspartner ist, kann gegen § 311 Abs. 2 Nr. 1, § 241 Abs. 2 BGB verstoßen, die mit den „Interessen“ auch die Entscheidungsfreiheit des anderen Vertragspartners schützen.
  • 5. Es liegt keine rechtlich zu missbilligende Einschränkung der Entscheidungsfreiheit vor, wenn der die Auflösungsvereinbarung anstrebende ArbG dem ArbN weder eine Bedenkzeit noch ein Rücktritts- oder Widerrufsrecht einräumt (BAG 14.2.96, 2 AZR 234/95). Es ist nicht erforderlich, das Unterbreiten einer Aufhebungsvereinbarung anzukündigen (BAG 30.9.93, 2 AZR 268/93).
  • 6. Eine Verhandlungssituation gilt als unfair, wenn eine psychische Drucksituation geschaffen oder ausgenutzt wird, die eine freie und überlegte Entscheidung des Vertragspartners erheblich erschwert oder unmöglich macht. Dies kann durch die Schaffung besonders unangenehmer Rahmenbedingungen, die erheblich ablenken oder sogar den Fluchtinstinkt wecken, geschehen.
  • 7. Die Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen die nach § 311 Abs. 2 Nr. 1 i. V. m. § 241 Abs. 2 BGB geschuldeten Rücksichts- oder Aufklärungspflichten: Nach § 280 Abs. 1 i. V. m. §§ 249 bis 253 BGB kann ein Vertragspartner, der durch ein Verhandlungsverschulden geschädigt ist, regelmäßig den Ersatz des negativen Interesses verlangen. Er ist also so zu stellen, wie er ohne das Zustandekommen des Vertrags stünde. Das führt dazu, dass der Vertrag gemäß § 249 Abs. 1 BGB rückgängig gemacht wird (BGH 4.12.15, V ZR 142/14).
  • 8. Eine schuldhafte Verletzung des Gebots fairen Verhandelns bewirkt keinen Anspruch des ArbN auf Neuabschluss des Arbeitsvertrags zu bisherigen Konditionen. Vielmehr führt der Schadenersatzanspruch unmittelbar zum Entfall der Rechtswirkungen des Aufhebungsvertrags und zur Fortsetzung des ursprünglichen Arbeitsverhältnisses zu unveränderten Bedingungen.
  • 9. Da der Aufhebungsvertrag den Arbeitsplatz und die Verdienstmöglichkeiten entfallen lässt, bewirkt ein unfair ausgehandelter Aufhebungsvertrag für den ArbN meist einen wirtschaftlichen Schaden. Hinsichtlich der Kausalität zwischen Verhandlungsverschulden und Schaden ist davon auszugehen, dass ein ArbN ohne die unfaire Behandlung seine Eigeninteressen in vernünftiger Weise gewahrt und den Aufhebungsvertrag nicht abgeschlossen hätte.
  • 10. Eine Vertragsaufhebung als Schadenersatz ist bei arbeitsrechtlichen Aufhebungsverträgen wirkungsgleich mit einer Anfechtung. Anfechtungs- und Schadenersatzrecht sind aber strikt zu unterscheiden (BAG 24.2.11, 6 AZR 626/09).

AUSGABE: AA 4/2022, S. 64 · ID: 48108095

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