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PraxisangebotAnti-Stress-Therapie einmal anders: Vagusstimulation in der Physiopraxis

Abo-Inhalt19.08.20241437 Min. LesedauerVon Physiotherapeut/Sportwissenschaftler M. A. Thomas Colshorn, Bremen

| Immer schneller, immer weiter, immer besser – die Anforderungen und der Optimierungswahn des täglichen Lebens setzen uns mehr und mehr zu. Die körperlichen Probleme vieler Patienten resultieren unter Umständen nicht aus falscher oder übermäßiger Belastung, sondern einfach aus zu viel Stress. Wie Physiotherapeuten dem abseits von den üblichen Strategien entgegenwirken können, zeigt der folgende Text. |

Akut ist Stress kein Problem, chronisch aber schon!

Chronischer Stress ist eine Volkskrankheit. Termindruck, hohe Erwartungen, finanzielle Krisen oder globale Ereignisse führen zu einer körperlichen Stressreaktion. Grundsätzlich ist diese Reaktion sinnvoll, denn es wird der sympathische Anteil des vegetativen Nervensystems aktiviert. Folge: Steigerung von Herzfrequenz, Blutdruck und Atmung, Ausschüttung von Stresshormonen, Anspannung. Der Körper bereitet sich auf Höchstleistung vor, um kämpfen oder fliehen zu können. Reagieren wir entsprechend – z. B. mit Sport –, normalisieren sich die Körperfunktionen. Akut ist Stress also kein Problem. Dazu wird er, wenn dieselbe Stressreaktion langfristig immer wieder auftritt, der Körper aber keine Möglichkeit bekommt, sie abzubauen. Dann kommt es zu Folgeerkrankungen wie Verdauungsstörungen oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

Die Balance finden: Sympathikus und Parasympathikus

Chronischer Stress führt zu einem Übergewicht der Sympathikusaktivität. Für eine gute Gesundheit müssen aber beide Anteile des vegetativen Nervensystems, Sympathikus und Parasympathikus, in Balance sein. Zentraler Anteil des Parasympathikus ist der Vagusnerv. Aus dem Schädel kommend durchzieht er fast den gesamten Körper bis hinunter in den Bauch und innerviert den gesamten Verdauungstrakt. Daher auch sein Name: Das lateinische „vagari“ bedeutet übersetzt so viel wie „umherstreifen“. Eine Aktivierung des Vagusnervs führt zu Entspannung, regt die Verdauung an, senkt Herzfrequenz sowie Blutdruck und verlangsamt die Atmung.

Vagusstimulation als dritte Möglichkeit neben Sport und Entspannungstechniken

Um übermäßigen und chronischen Stress zu bekämpfen, bieten sich also einerseits Sport oder Entspannungstechniken an. Körperliche Bewegung gibt dem Körper was er braucht und worauf er sich vorbereitet hat. Sie stellt damit die natürliche Reaktion auf Stress dar. Ziel von Entspannungstechniken dagegen ist es, Stress erst gar nicht oder weniger aufkommen zu lassen. Beide Wege stellen eine sinnvolle Möglichkeit zur Stressreduktion dar.

Eine dritte Möglichkeit ist die direkte Stimulierung des Vagusnervs mittels spezieller Techniken, die auch in der Physiotherapie angewendet werden können. Aktuelle Untersuchungen zeigen, dass eine Stimulierung des Vagusnervs Potenzial für die Linderung einer ganzen Reihe chronischer Beschwerden haben kann. [1] Zu den Techniken, die den Vagusnerv anregen, gehören bestimmte Atem- und Meditationstechniken, Kältereize (z. B. kaltes Duschen). Auch die Bewegung und Ernährung spielen eine Rolle.

Fortbildungen gibt es mit oder ohne Gerät

Im Bereich der Physiotherapie gibt es zahlreiche Fortbildungen zur Vagusstimulierung. Soweit hier nicht anders angegeben, dauern diese Fortbildungen drei Tage, für die anschließende Behandlung wird kein zusätzliches Equipment benötigt. Die behandelten Themen überschneiden sich bei vielen Schulungen, auch wenn diese zum Teil unterschiedliche Bezeichnungen tragen:

  • So bietet etwa die Heimerer-Akademie sowohl einen Kurs für Vagus-Regulationstherapie als auch die Vagustherapie nach Lippold an (beide 395 Euro; heimerer.de).
  • Andere Fortbildungen sind schlicht als „Vagustherapie“ bezeichnet (z. B. fobize.de, top-physio.de, vpt.de und weitere) und kosten bis max. 500 Euro.

Darüber hinaus existiert auch die Vagusnervstimulation mittels elektrischer Reize (VNS). Dazu reicht meist ein TENS-Gerät, das in vielen Praxen vorrätig ist, es gibt aber auch spezielle Geräte, die an das Ohr angesetzt werden (z. B. stenup.com, vagus.net). Anleitungen zur Anwendung sind den Geräten beigelegt, eine separate Fortbildung ist nicht notwendig.

Eher für das Einzelsetting geeignet

Eine Vagustherapie bietet sich sowohl für das Einzel- als auch für das Gruppensetting an. Gerade bei stark gestressten Personen ist ein Einzelsetting unter Umständen sinnvoller, weil ruhiger und besser kontrollierbar. Der Therapeut kann hier fokussierter auf die Bedürfnisse des Patienten eingehen. Zudem können hier spezifische Techniken wie Elektrostimulation angewandt werden oder der Therapeut kann auf individuelle Ernährungsfragen eingehen. Natürlich lässt sich das alles auch in eine reguläre Physiotherapie auf Rezept integrieren, es besteht aber genauso die Möglichkeit, Beratungsleistungen auf Selbstzahlerbasis anzubieten. In einem Gruppensetting sollte der Fokus auf einfach durchzuführenden Lebensstiländerungen, Atemtechniken und Meditation sowie entspannten Bewegungsübungen liegen.

Praxistipp | Kalkulieren Sie für Selbstzahler mit den bekannten Preisen: In der Fünfergruppe mit 15 Euro pro Person und Stunde, im Einzelsetting mit 95 Euro pro Stunde (vgl. PP 08/2024, Seite 6 f.).

Quelle
  • [1] Eibhlin Goggins, Shuhei Mitani, and Shinji Tanaka: Clinical perspectives on vagus nerve stimulation: present and future. Clin Sci (Lond). 2022 May; 136 (9): 695–709. Published online 2022 May 10. doi.org/10.1042/CS20210507

AUSGABE: PP 9/2024, S. 8 · ID: 50129711

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