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HaftungsrechtGericht verurteilt Allgemeinmediziner: Vitamin-B12-Mangel verkannt!
| In der ärztlichen Praxis stellt sich immer wieder die Frage, ob Vitamine verordnet werden sollten und welche Diagnostik zuvor bei welchem Beschwerdebild notwendig ist. Dass auch bei nur leichtgradiger Anämie die Bestimmung des Vitamin-B12-Status unbedingt erforderlich sein kann, hat das Oberlandesgericht (OLG) Dresden hierzu eine wegweisende Entscheidung getroffen (Urteil vom 30.05.2024, Az. 4 U 452/22). |
Inhaltsverzeichnis
Sachverhalt
In dem vom OLG Dresden entschiedenen Fall ging es um einen 50-jährigen Patienten, der wegen aufgetretener Gangbeschwerden eine Gemeinschaftspraxis für Allgemeinmedizin aufsuchte. Dort fanden über Wochen mehrere Untersuchungs- und Gesprächstermine statt. Wie sich aus der Dokumentation ergibt, bezogen sich die ärztlichen Abklärungen auf die Verdachtsdiagnosen einer neurologischen Genese, Spätstadium Borreliose sowie psychisch-vegetative Dysregulation mit Überforderungssyndrom. Auch eine Blutuntersuchung wurde veranlasst. All dies brachte jedoch keine Besserung, sodass der Patient einige Wochen später stationär aufgenommen werden musste. In der Klinik wurde ein akuter Vitamin-B12-Mangel nebst perniziöser Anämie diagnostiziert. Daraufhin wurde eine Supplementation mit Vitamin B12 eingeleitet.
Der Patient verklagte die Gemeinschaftspraxis. Sein Vorwurf im Prozess: Die niedergelassenen Allgemeinmediziner hätten behandlungsfehlerhaft den im Zusammenhang mit seiner veganen Ernährung vorliegenden Vitamin-B12-Mangelzustand nicht erkannt und seien den von ihm angegebenen Beschwerden nicht ausreichend nachgegangen. Der Patient verlangte Schmerzensgeld sowie eine Erwerbsminderungsrente mit einem Streitwert von insgesamt 150.000 Euro.
Entscheidungsgründe
Das OLG Dresden bejahte eine Haftung der Allgemeinmediziner. Diesen sei ein Befunderhebungsfehler anzulasten – der sogar als grober Behandlungsfehler zu qualifizieren sei. Das Gericht bezog sich dabei auf das im Prozess eingeholte medizinische Sachverständigengutachten.
Das Blutbild habe eine leichtgradige makrozytäre (= megaloblastäre) Anämie gezeigt, zu der auch die Erhöhung des mittleren Hämoglobin und die erniedrigte Leukozytenzahl gepasst hätten. Als entscheidend hoben der Gerichtssachverständige und die Richter hervor: Die anhand des Laborberichts festgestellte Anämie sei bei dem Patienten nicht bekannt gewesen und dieser habe Beschwerden unklarer Genese gehabt. Deshalb hätte die Ursache dafür auch bei einer nur leichtgradigen Ausprägung der Anämie zwingend abgeklärt werden müssen. Dies sogar unabhängig davon, ob die Ärzte von der veganen Lebensweise des Patienten Kenntnis gehabt hätten oder nicht.
Es sei in jedem Fall geboten gewesen, den Vitamin-B12-Status zu bestimmen, da dies zeitnah und ohne weiteren Aufwand hätte erfolgen können. Zudem stehe bei einer makrozytären Anämie in den Lehrbüchern an erster Stelle die Abklärung eines
- Vitamin B12-,
- Folsäure- und
- Eisen-Mangels,
worauf der Gerichtsgutachter instruktiv hinwies. Die dahin gehende Abklärung sei im dortigen Fall auch gerade deshalb veranlasst gewesen, weil der Patient insoweit auch typische Beschwerden geschildert habe.
Allerdings kürzte das OLG Dresden den Haftungsanspruch des Patienten um 30 Prozent, da in Höhe dieser Quote ein Mitverschuldensanteil zulasten des Patienten anzunehmen sei. Ein Mitverschulden des Patienten am medizinischen Kausalverlauf sahen die Richter darin, dass es dieser unterließ, sich bei einem Neurologen vorzustellen. Dazu hatte ihm der Allgemeinmediziner ausdrücklich geraten in Anbetracht der für ihn unklaren Gangstörung sowie der Beschwerdesymptomatik. Ferner werteten die Richter zulasten des Patienten, dass dieser nach seinen eigenen Angaben über die Risiken seiner veganen Ernährung und insbesondere der Gefahr eines Vitamin B12-Mangels informiert war – dem allerdings nur unzureichend durch die gelegentliche Einnahme von Bierhefe begegnete.
Praxistipp | Ein justiziables Mitverschulden des Patienten kommt grundsätzlich nur unter sehr engen Voraussetzungen in Betracht: Zum einen muss der Patient durch sein Fehlverhalten bzw. Nichtbefolgen ärztlicher Hinweise einen eigenen Verursachungsbeitrag zum Schadenseintritt geleistet haben. Zum anderen muss aber auch zweifelsfrei feststehen, dass der Patient die ärztlichen Ratschläge einschließlich ihrer Dringlichkeit verstanden hat. Hierbei ist die Rechtsprechung sehr zurückhaltend und verweist regelmäßig auf den Wissens- und Informationsvorsprung des Arztes gegenüber dem Patienten als medizinischen Laien. Etwa bei der Verordnung von Medikamenten, wenn der Patient diese nicht einnimmt, kommt also ein Mitverschulden juristisch zulasten des Patienten nur dann in Betracht, wenn der Arzt Notwendigkeit und Dringlichkeit der Einnahme zuvor unmissverständlich deutlich gemacht hatte. Dies müsste sich aus der Behandlungsdokumentation belegen lassen. Daher sollte der Arzt seine Hinweise an den Patienten zumindest kurz in der Dokumentation festhalten – gerade wenn er Anhaltspunkte für eine mangelnde Compliance des Patienten hat, woraus sich eine haftungsträchtige Situation entwickeln könnte. |
- Vitamine: Bestimmung und Verordnung als GKV-Leistung nur unter bestimmten Voraussetzungen (AAA 07/2021, Seite 5)
- Wie sind Laborkontrollen nach bariatrischen OPs bei GKV-Patienten abzurechnen? (AAA 04/2024, Seite 8)
- G-BA setzt Vitamin-E-Präparate auf die OTC-Ausnahmeliste (AAA 05/2022, Seite 2)
AUSGABE: AAA 10/2024, S. 17 · ID: 50148289