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HaftungsrechtVerletzung des N. lingualis durch Eingriffserweiterung: 10.000 Euro Schmerzensgeld!

Abo-Inhalt12.05.20255657 Min. LesedauerVon RA, FA MedR und Zahnarzt Dr. Stefan Droste, LL. M., Kanzlei am Ärztehaus, Münster

| Führt eine ohne Einwilligung der Patientin vorgenommene Erweiterung der zahnärztlichen Behandlung zu einer Verletzung des N. lingualis, kann unter dem weiteren Gesichtspunkt der Genugtuung ein Schmerzensgeld von 10.000 Euro in Betracht kommen, so das Oberlandesgericht (OLG) Sachsen-Anhalt (Urteil vom 24.09.2024, Az. 1 U 86/23). |

Inhaltsverzeichnis

Der Fall

Der beklagte Zahnarzt sollte aufgrund von Beschwerden der Patientin am Zahn 48 die dort befindliche und entzündete Zahnfleischkapuze entfernen. Diese zuvor mit der Patientin abgesprochene Maßnahme hat der Zahnarzt jedoch während der Behandlung ausgeweitet und eine tiefgehende Exzision der Schleimhaut durchgeführt. Hierdurch kam es zu einer Verletzung des N. lingualis. Der beklagte Zahnarzt hat diese Erweiterung des Eingriffs nicht mit der Patientin abgesprochen und die Patientin nicht über mögliche Risiken aufgeklärt. Auch hat er keine radiologische Diagnostik hinsichtlich der Lage des Weisheitszahns durchgeführt. Die rechtsseitige Schädigung des N. lingualis beeinträchtigte die Patientin in den ersten Monaten stark in ihrer Aussprache; Ausfälle in der Geschmacksempfindung bestanden und bestehen nicht. Durch Logopädie konnte die Beeinträchtigung der Aussprache beseitigt werden. Das Taubheitsgefühl der rechten Zungenhälfte besteht unverändert fort, wenn auch ein Gewöhnungseffekt eingetreten ist.

Die Entscheidung

Das OLG schließt sich den inhaltlichen Feststellungen der Vorinstanz und dem Haftungsgrund an. Auch die Höhe des Schmerzensgeldes sieht das Gericht als angemessen an, wenn auch unter anderen Gesichtspunkten.

Besonders gewichtet der Senat den Umstand, dass der Zahnarzt die mit der Patientin abgesprochene Maßnahme, die Kaufläche des Zahnes 48 von einer Zahnfleischkapuze zu befreien, während der Behandlung nennenswert erweitert hat, ohne hierzu die notwendige Einwilligung eingeholt zu haben. Nach den Feststellungen des Sachverständigen handelte es sich beim abgesprochenen oberflächlichen Abtragen einer Zahnfleischkapuze (Exzision 1) um eine einfache, wenig invasive Routinemaßnahme. Dagegen war die durchgeführte tiefe Exzision der Schleimhautwucherung (Exzision 2) ein zahnärztlich-chirurgischer Eingriff im engeren Sinne. Der Weisheitszahn musste teilweise operativ freigelegt werden und zur Rezidivprophylaxe das Gewebe eingekürzt werden. Wenn dabei auf der lingualen Seite des Zahnes gearbeitet wird, besteht eine enge Lagebeziehung zum Verlauf des N. lingualis mit entsprechender Komplikationsmöglichkeit.

Der Senat führt aus, dass in einem solchen Falle der Zahnarzt innehalten und für die weitergehende Einwilligung unter Einschluss der erforderlichen Selbstbestimmungsaufklärung der Patientin hätte Sorge tragen können und müssen. Erschwerend komme hinzu, dass die geplante tiefe Exzision regelmäßig nach einer Röntgenaufnahme verlangt habe, die auch intraoperativ nicht angefertigt worden sei. Vor der tiefen Gewebeabtragung bedürfe es der Beurteilung der Lage und der Erhaltungswürdigkeit des Weisheitszahns sowie der Platzverhältnisse. Bei einem röntgenologisch erkennbaren Engstand sei die tiefe (komplikationsbehaftete und damit aufklärungsbedürftige) Exzision 2 eine sinnlose Maßnahme, weil dann – wie im vorliegenden Fall – die Extraktion des Zahnes die gebotene Behandlungsmethode sei. Der Zahnarzt habe damit „blind“ eine überflüssige und nicht Erfolg versprechende tiefe Exzision durchgeführt.

Bei der Bemessung der Höhe des Schmerzensgeldes betont des OLG ausdrücklich den Gesichtspunkt der Genugtuungsfunktion. Der Sachverständige hat das Behandlungsgeschehen dahin gehend gewertet, dass der Zahnarzt eindeutig fehlerhaft gehandelt habe. Dies dürfe nicht ohne Einfluss auf die Bemessung des Schmerzensgeldes bleiben, weil danach ein grobes Verschulden im Raum stehe, so der Senat. Der Zahnarzt wusste um die fehlende Einwilligung in eine tiefe Exzision. Als ausgebildetem Zahnmediziner sei ihm bekannt gewesen, dass es sich um einen chirurgischen Eingriff handelte, der mit Risiken, wie der Verletzung des N. lingualis, verbunden war und damit von der Notwendigkeit ordnungsgemäß aufzuklären. Er erweiterte wissentlich und willentlich den Eingriff, den er hätte ohne jede Einschränkung unterbrechen oder beenden können. Die abgesprochene oberflächliche Abtragung der Kapuze hätte nach den Feststellungen des Sachverständigen zumindest eine sinnvolle Interimsmaßnahme mit zeitlich beschränkter Erfolgsaussicht sein können.

Nach den abschließenden Ausführungen der Richter beeinträchtigte das Vorgehen des Zahnarztes damit vorsätzlich die körperliche Integrität der Patientin. Ferner habe er die medizinische Sinnlosigkeit dieser Maßnahme aufgrund des Fehlens gebotener Röntgenaufnahmen zumindest billigend in Kauf genommen. Der Schaden am N. lingualis sei in dieser Situation grob fahrlässig verursacht worden, wenn man nicht sogar bedingten Vorsatz annehmen könne. All diese Aspekte rechtfertigen nach Ansicht des Senats das ausgeurteilte Schmerzensgeld in Höhe von 10.000 Euro.

Fazit | Das OLG führt die Höhe des Schmerzensgeldes im vorliegenden Fall primär und ausdrücklich auf die Genugtuungsfunktion zurück. Wahrscheinlich wäre im vorliegenden Fall unter stärkerer Gewichtung der Ausgleichsfunktion ein geringeres Schmerzensgeld angemessen gewesen. Doch rechtfertigt nach Ansicht des Senats das Verschulden des Zahnarztes bzw. der Umstand, dass er sich ohne mögliche Einholung einer Einwilligung einfach über seine Patientin hinweggesetzt hat, den vergleichsweise hohen Ansatz des Schmerzensgeldes.

Weiterführender Hinweis
  • CMD durch Fehlbehandlung verursacht: Zahnärztin zu 10.000 Euro Schmerzensgeld verurteilt! (ZP 07/2020, Seite 14)

AUSGABE: ZP 5/2025, S. 8 · ID: 50399794

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