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KieferorthopädieKFO-Behandlung mit Alignern kann in extremen Ausnahmefällen „Kassenleistung“ sein

Abo-Inhalt08.05.20255215 Min. LesedauerVon RA, FA MedizinR Dr. med. dent. Wieland Schinnenburg, Hamburg

| Grundsätzlich sind kieferorthopädische Behandlungen mit Alignern nicht im Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenversicherung enthalten, da es sich um eine „neue“, bisher nicht empfohlene Behandlungsmethode im Sinne von § 135 Abs. 1 Satz 1 1 Nr. SGB V handelt und der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) insofern die erforderliche Anerkennung nicht ausgesprochen hat. Das Landessozialgericht (LSG) Bayern hat eine Krankenkasse jetzt in einem besonderen Fall dennoch zur Leistung verpflichtet (Urteil vom 25.06.2024, Az. L 5 KR 364/22). Es ging dabei um ein Kind mit schwerster Behinderung. |

Inhaltsverzeichnis

Der Fall

Ein 2009 geborenes Kind wies einen sehr erheblichen kieferorthopädischen Behandlungsbedarf auf. Der Medizinische Dienst bestätigte folgende KIG-Einstufungen: A5, S 4, E5 und D5. Es bestand also kein Zweifel, dass eine kieferorthopädische Behandlung zulasten der Krankenkasse erforderlich war. Diese bewilligte auch einen entsprechenden KFO-Behandlungsplan, der eine konventionelle kieferorthopädische Behandlung und Kosten von 3.919,60 Euro vorsah. Dann wurde jedoch eine Behandlung mit Alignern mit Kosten von 6.591,14 Euro beantragt. Dabei wurde darauf hingewiesen, dass die Behandlung nicht aus ästhetischen (keine optisch störenden Multibänder), sondern aus medizinischen Gründen mittels Alignern erfolgen solle. Die Patientin sei nämlich schwerstbehindert (Pflegegrad 5, Grad der Behinderung von 100) und es gebe keine Möglichkeit, sie mit einer konventionellen kieferorthopädischen Behandlung angemessen zu versorgen. Sie leidet unter dem sehr seltenen sog. Phelan-McDermid-Syndrom und kann weder verbal kommunizieren noch stehen oder gehen und ohne Hilfsmittel nicht selbstständig sitzen.

Die Krankenkasse wies eine Kostenübernahme für die Aligner-Behandlung per Bescheid zurück, dies bestätigte sie im Widerspruchsbescheid. Das Sozialgericht München (SG) verpflichtete die Krankenkasse zur Kostenübernahme, hiergegen wandte sich die Krankenkasse mit der Berufung. Das LSG wies die Berufung zurück, es hielt die Krankenkasse für verpflichtet, die Kosten der Aligner-Behandlung zu übernehmen.

Die Entscheidung

Zunächst verwies das LSG darauf, dass nach der KIG-Einstufung offensichtlich der Anspruch auf eine kieferorthopädische Versorgung bestehe. Auch sei die Altersgrenze von 18 Jahren (§ 28 Abs. 2 Sätze 6 und 7 SGB V) nicht überschritten. Den gesetzlichen Leistungsausschluss für bisher vom G-BA noch nicht empfohlene Behandlungen wie die Aligner-Therapie überwand das LSG unter Berufung auf eine ganze Reihe von Vorschriften, die Menschen mit Behinderungen zugutekommen sollen.

  • Da ist zunächst § 2a SGB V, der anordnet: „Den Belangen behinderter und chronisch kranker Menschen ist Rechnung zu tragen.“ Dies sei zwar keine eigene Anspruchsgrundlage und bedeute auch nicht, „jegliche Leistung zu jedem Zeitpunkt zur Verfügung zu stellen.“ Die Vorschrift bedeute jedoch, dass nur eine Leistung bedarfsgerecht im Sinne der gesetzlichen Krankenversicherung sei, wenn sie den konkreten Belangen des Versicherten entspreche.
  • Weiter verwies das LSG auf Art. 3 Abs. 3 Satz 2 des Grundgesetzes (GG). Danach darf niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. Dies beinhalte auch einen Förderauftrag und das Verbot mittelbarer Beeinträchtigung, also die Vorenthaltung von Leistungen, auf die Nichtbehinderte Anspruch haben.
  • Schließlich verwies das LSG auf die Europäische Menschenrechtskonvention und die UN-Behindertenrechtskonvention (BRK): „Die Vertragsstaaten sind nach Art. 25 BRK insbesondere verpflichtet, Menschen mit Behinderung einen in jeder Hinsicht diskriminierungsfreien Zugang zu der für sie notwendigen Gesundheitsversorgung zu schaffen.“

Es kam also darauf an, ob die schwerstbehinderte Patientin auf die konventionelle kieferorthopädische Behandlung verwiesen werden durfte, wie es die Krankenkasse getan hat. Dies verneinte das LSG mit folgenden Argumenten:

  • Ausgangspunkt ist die Erkenntnis, dass die Patientin aufgrund ihrer Behinderung bei einer zahnmedizinischen Behandlung nicht aktiv mitwirken kann und für jede Intervention und Inspektion in Narkose versetzt werden muss. Damit sei der Einsatz eines Multibandes schon deshalb ausgeschlossen, weil der Patient in Narkose nicht mitteilen kann, ob die Apparatur sitzt und ihre Einstellung erträglich ist.
  • Hinzu kommt, dass bei der alle vier bis acht Wochen notwendigen Kontrolle jedes Mal eine Vollnarkose vorgenommen werden muss, was für die Patientin eine erhebliche Belastung und auch ein Risiko darstelle. Solche Kontrollen seien bei Aligner-Behandlungen wesentlich seltener – nur ca. einmal pro Jahr. Deshalb bedeute die konventionelle kieferorthopädische Behandlung eine unnötige Mehrbelastung aufgrund der Behinderung der Patientin und sei dieser daher nicht zuzumuten.

Aus diesem Grunde verurteilte das LSG die Krankenkasse zur Übernahme der Kosten für eine Aligner-Behandlung.

Merke | Es sei noch auf zwei Dinge hingewiesen:

1. Die Entscheidung des LSG ändert nichts daran, dass Aligner-Behandlungen in den allermeisten Fällen keine „Kassenleistung“ sind.

2. Das sozialrechtliche Verfahren war selbst nicht gerade behindertenfreundlich: Zwischen der Einreichung des Aligner-Behandlungsplanes bei der Krankenkasse und der Entscheidung des LSG vergingen fast vier Jahre …

AUSGABE: ZP 5/2025, S. 10 · ID: 50384920

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