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AkteneinsichtAkteneinsicht vs. Steuergeheimnis: Das sind die Anforderungen an die Ermittlungsakte
| Die Akteneinsicht bezieht sämtliche Aktenbestandteile (Ermittlungsakte und Sonderbände) ein. Teil 1 befasst sich mit dem Steuergeheimnis (§ 30 AO) und dem Akteneinsichtsrecht des Verteidigers (§ 147 StPO). Teil 2 zeigt Problemstellungen der Ermittlungsakte und an welcher Stelle der Verteidiger aufmerksam sein sollte. |
1. Reichweite der Akteneinsicht
Das Akteneinsichtsrecht ist in Abgrenzung zum Steuergeheimnis weit und umfassend auszulegen; es durchbricht das Steuergeheimnis. Der Verteidiger darf auch solche Daten, Informationen oder Tatsachen einsehen, die auch Dritte betreffen, solange und soweit diese steuerlichen Angaben einen entfernten Bezug zum strafprozessualen Ermittlungsverfahren haben.
Die Ermittlungsakte kann sinnvoll gegliedert werden (Wenzel, PStR 24, 19 zu Grafik 2). Die Fragen der Tat, der Schuld, und der Rechtsfolge unterliegen gleichermaßen der Akteneinsicht (Lampe, PStR 19, 207 f.). Der Verteidiger ist ein der Staatsanwaltschaft und dem Gericht gleichgeordnetes Organ; während der Ermittlungszeit ist eine Waffengleichheit zu dessen Gunsten herzustellen (Schmid, NStZ 83, 89). Demzufolge ist das Akteneinsichtsrecht des Verteidigers nicht ein- oder beschränkbar (BVerfG 7.12.82, 2 BvR 900/82, NJW 83, 1046). Es erstreckt sich auf sämtliche Aktenbestandteile und Vorgänge, die für das Gericht bestimmt sind (Michalke, NJW 13, 2334, 2335).
2. Funktion und Aufbau der Ermittlungsakte
Die Ermittlungs- bzw. Hauptakte ist die zentrale Akte des Ermittlungsverfahrens. Sie kann aus mehreren Bänden bestehen. Der Verteidiger muss aufgrund einer durchgängigen Paginierung prüfen können, ob die Akten vollständig sind. Dafür müssen in der Hauptakte chronologisch richtig abgeheftete Verweise enthalten sein, soweit Teile der Hauptakte in Sonderbände ausgelagert oder Beiakten hinzugezogen wurden. Werden Sonderbände zusammengeführt oder weiter diversifiziert, sind diese Informationen als Vermerk nicht nur in den betroffenen Sonderbänden, sondern auch in der Ermittlungsakte abzuheften.
Beispiel |
A ist Beschuldigter eines steuerstrafrechtlichen Ermittlungsverfahrens. Steuerfahnderin F hat einen einheitlichen Sonderband für Banken angelegt. Wegen des Umfangs legt F jeweils einen Sonderband für in- und einen für ausländische Banken an. Die Unterlagen zu den ausländischen Konten werden in den neuen Sonderband überführt. Den ursprünglichen Sonderband benennt sie um. Die F muss am selben Tag der Neuorganisation des Sonderbandes darin und in der Ermittlungsakte auf die neue Aufteilung hinweisen, den Vermerk einheften und paginieren. |
Die Ermittlungsakte muss vollständig die Verfügungen enthalten, die für das Ermittlungsverfahren maßgeblich sind, z. B. den Anfangsverdacht i. S. d. § 152 Abs. 2 StPO, die Zusammenfassung von Ermittlungsständen, Zwischenverfügungen, Zwischenvermerke und vor allem auch Abschlussverfügungen, §§ 169a, 170 StPO. Die Ermittlungsakte enthält i. d. R. in den Aktendeckeln zwei Heftungen. Neben der Hauptheftung gibt es noch eine Vorheftung; auch diese gehört zur Ermittlungsakte und ist vom Akteneinsichtsrecht des Verteidigers umfasst.
3. Datenbankauszüge
Die Ermittlungsbehörden gewinnen zu Beginn des Ermittlungsverfahrens aus Datenbanken Informationen, ob und in welchem Umfang der Beschuldigte im Zuge anderer Ermittlungen bekannt oder ggf. rechtskräftig verurteilt wurde. Diese Erkenntnisse werden i. d. R. in der Vorheftung abgelegt.
a) Datenbanken der Staatsanwaltschaft
Die Staatsanwaltschaften halten bundesweit (intern) Daten zu durchgeführten Ermittlungen oder anhängigen Ermittlungsverfahren vor. Diese beinhalten Erkenntnisse wie z. B. Aktenzeichen, Personendaten, Ermittlungsgegenstände sowie deren Ergebnisse. Es sind interne Datenbanken, mit denen zu Beginn der Ermittlungen u. a. die Art und Weise dieser bestimmt werden können.
Beispiel |
Die neuen steuerstrafrechtlichen Ermittlungen werden wegen § 154 Abs. 1 StPO eingestellt, da der Beschuldigte zuvor wegen Mordes angeklagt wurde und diese Hauptverhandlung demnächst beginnt. |
Hierbei handelt es sich um interne Verwaltungsinformationen, die keinen engeren Bezug zum Tatvorwurf der Steuerhinterziehung haben. Die daraus resultierenden Erkenntnisse müssen nicht und sollten auch nicht in die Ermittlungsakte aufgenommen werden. Dennoch drucken viele Ermittler diese aus und heften sie bei der Vorheftung in die Ermittlungsakte ein. In diesem Augenblick werden sie zum Gegenstand der Ermittlung. Die Informationen müssen nicht zielgerichtet oder nützlich sein, allein dass sie in die Ermittlungsakte eingeführt wurden, reicht für den Ermittlungsgegenstand aus. Aufgrund der formalen Vorgaben sind diese Ausdrucke sofort zu paginieren. M. E. spielt es hierbei keine Rolle, ob diese staatsanwaltlichen Datenbankauszüge in der Vor- oder in der Hauptheftung abgelegt wurden. Allein „die Heftung“ innerhalb des Aktenrückens der Ermittlungsakte bedeutet, dass der Ermittler diese zum aktenmäßigen Gegenstand seiner Ermittlung gemacht hat. Stellt der Verteidiger ein Akteneinsichtsgesuch oder werden die Akten an das Gericht übermittelt, ist ein späteres Ausheften unzulässig, gleich ob der Ausdruck sich in der Haupt- oder in der Vorheftung befindet.
Merke | Diese Ausdrucke gehören zu keinem Zeitpunkt in die Ermittlungsakte, sondern ausschließlich in die Handakte der Steuerfahndung oder der Staatsanwaltschaft bzw. der Strafsachen- und Bußgeldstelle (StraBu), selbst wenn sie in eine Klarsichthülle eingelegt werden. |
b) Bundeszentralregisterauszug
Nach § 4 BZRG sind rechtskräftige Entscheidungen in das Bundeszentralregister (BZR) einzutragen, wenn auf Strafe erkannt, eine Maßregel der Besserung und/oder Sicherung bestimmt, eine Person mit einem Strafvorbehalt verwarnt oder die Schuld eines Jugendlichen oder Heranwachsenden gem. § 27 JGG festgestellt wurde. Diese Ausdrucke werden durch die StraBu früh angefordert oder über die Onlineabrufmöglichkeit ausgedruckt und zur Ermittlungsakte genommen. Dem Akteneinsichtsrecht des Verteidigers sind auch alle sonstigen verfahrensbezogenen Vorgänge zuzuordnen. Hierzu gehört auch der BZR-Auszug. Sobald er sich im Aktendeckel der Ermittlungsakte befindet, wird er zum Gegenstand der Akteneinsicht (BVerfG 7.2.82, 2 BVR 900/82, NJW 83, 1046).
Merke | Wird der BZR-Auszug in die Vorheftung eingefügt, darf er bei der Akteneinsicht nicht ausgeheftet werden. Der Ermittlungsbehörde ist es untersagt, den originalen BZR-Auszug in einer Handakte abzuheften, da die dort enthaltenen Informationen einen direkten Bezug und eine konkrete Auswirkung auf die zu bestimmende Rechtsfolge haben; der BZR-Auszug ist ein zentrales Element der Ermittlung. Er ist in der Ermittlungsakte abzuheften. Dies kann in der Vor- oder in der Hauptheftung geschehen. Jedenfalls ist er zu paginieren. Im Inhaltsverzeichnis der Ermittlungsakte ist er explizit aufzuführen. In die Handakte kann aber eine Kopie eingeheftet werden. |
4. Anzeigen
Bei steuerstrafrechtlichen Ermittlungen stellt die Anzeige ein Problem dar, gleich ob sie anonym oder namentlich vorliegt: Immer wieder verweigert die aktenführende Dienststelle die partielle Akteneinsicht, indem die Anzeige aus der Ermittlungsakte ausgeheftet wird oder signifikante Teile davon dauerhaft oder temporär geschwärzt werden. Der strafprozessuale Ermittlungsvorgang kann auf unterschiedliche Art und Weise beginnen. Eine häufige Form ist die der Anzeige. Insoweit hat sie eine wichtige und verfahrensbestimmende Funktion.
Merke | Der Anzeige kann gerade bei Durchsuchungsbeschlüssen eine zentrale Rolle zukommen, wenn sie hinreichend substanziiert war. Um die Rechtmäßigkeit einer gerichtlich angeordneten Maßnahme beurteilen zu können, ist für den Verteidiger eine hinreichende Kenntnis von dieser Anzeige wichtig. |
a) Sicht der Finanzrechtsprechung und der Finanzverwaltung
Die Rechtsprechung der FGe ist hinsichtlich der Akteneinsicht deutlich, indem das Akteneinsichtsrecht des Anwalts wegen des Steuergeheimnisses zugunsten des Anzeigenden beschränkt sei (BFH 7.12.06, V B 163/05); die Finanzverwaltung macht sich diese Rechtsprechung zu eigen (Nr. 1.4 AEAO zu § 30). Vor allem aber weitet die Finanzverwaltung diese finanzgerichtliche Rechtsprechung auf das strafprozessuale Verfahren ohne weitere Begründung aus (vgl. Nr. 35 Abs. 5, 128 AStBV (St) 2024). Diese Rechtseinschätzung reflektiert die Vorgaben des § 147 Abs. 1 StPO nicht. Aus meiner Sicht sind die anonyme und die namentliche Anzeige gleichlaufend zu behandeln, da teilweise auch bei der anonymen Form Rückschlüsse auf den Hinweisgeber möglich sein können.
b) Anzeigenerstatter als Zeuge
Ob eine Kenntnisnahme der Original-Anzeige die Verteidigung signifikant beeinflussen kann, können die Strafverteidiger nur im konkreten Einzelfall entscheiden, z. B. wenn es darum geht, die Glaubwürdigkeit des Zeugen zu beurteilen oder zu erschüttern oder die Glaubhaftigkeit der Anschuldigungen einzuschätzen. Standardmäßig spielt der Anzeigenerstatter für die Strafverteidigung wohl keine signifikante Rolle, sobald die Ermittlungen über einen längeren Zeitraum fortschreiten. Der Anzeigenerstatter ist jedoch Zeuge im strafprozessualen Verfahren (Ziegler, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier, StGB, 5. Aufl., § 158 StPO Rn. 4). Daran ändert auch eine anonyme Anzeige nichts, da der anonym Anzeigende zum ladungsfähigen Zeugen wird, wenn er später identifizierbar ist.
c) Akteneinsicht vor Steuergeheimnis auch bei der Anzeige
Das verfassungsrechtliche Verfahrensrecht aus Art. 103 GG sowie die Grundwertungen aus Art. 6 EMRK sind vorrangig gegenüber dem informationellen Selbstbestimmungsrecht, weshalb das Akteneinsichtsrecht dem Steuergeheimnis vorgeht (Wenzel, PStR 24, 158, 160). Das Akteneinsichtsrecht aus § 147 Abs. 1 StPO ist ein Bundesgesetz i. S. d. § 30 Abs. 4 Nr. 2 AO, wodurch das Recht auf Akteneinsicht das Steuergeheimnis auf der gesetzlich – systematischen Ebene umfassend begrenzt.
Der Verteidiger hat ein unbeschränktes, umfassendes Akteneinsichtsrecht auf alle ermittelten Tatsachen, Informationen, Urkunden oder andere Akteninhalte, die den Tatbestand, die Schuld und die Rechtsfolge betreffen könnten. Das Gericht und die Ermittlungsbehörden können mithin die Informationsquellen nicht vorauswählen oder vorsortieren. Die strafprozessualen Organe müssen ein paritätisches Wissen erlangen. Das kann auch die konkrete Kenntnis des Inhalts der Anzeige nebst ladungsfähigen Zeugen sein (Madauß, NZWiSt 21, 305, 306). Demzufolge ist die Anzeige als Aktenbestandteil in der Ermittlungsakte zu führen und bei Akteneinsicht im Original vorzulegen (vgl. nur LG Frankfurt 29.6.05, 5/2 AR 3/2005, StraFo 05, 379; LG Saarbrücken 2.11.06, 8 Qs 110/06, PStR 07, 30; LG Lüneburg 26.10.15, 26 Qs 194/15; Madauß, a. a. O.; Löwe-Krahl, PStR 16, 235 f.; Rolletschke, Steuerstrafrecht, 3. Aufl., Rn. 743; einschränkend LG Mühlhausen 26.1.05, 9(8) Qs 20/04, wistra 05, 357, 358; Randt, in: Joecks/Jäger/Randt, Steuerstrafrecht, 9. Aufl., § 392 AO Rn. 82, die das Akteneinsichtsrecht nach § 147 StPO zulassen, wenn der genaue Inhalt der Anzeige oder die Personalien des Anzeigenerstatters für das Strafverfahren unentbehrlich sind).
d) Keine Umgehung der Akteneinsicht durch Abheften in der Handakte
Der Gesetzgeber hat ausgeführt, dass es „ein Verbot der nachträglichen Ent-fernung und Verfälschung von rechtmäßig erlangten Erkenntnissen und Unterlagen aus den Akten“ gibt (BT-Drucksache 17/11473, 38); die Ermittlungsakte ist hinsichtlich ihrer Authentizität und Integrität dauerhaft zu sichern. Trotz dieser expliziten gesetzgeberischen Hinweise versuchen Steuerfahndungen immer wieder, die Reichweite des § 147 Abs. 1 StPO zu umgehen. Sie heften vornehmlich die namentlichen Anzeigen in ihren Handakten ab und fügen in die Ermittlungsakte lediglich einen zusammenfassenden Vermerk ein. In diesem werden die wesentlichen belastenden Erkenntnisse zusammengefasst. In ihrer irrigen Annahme eines Vorranges des Steuergeheimnisses vor dem Strafprozessrecht werden vielfach eigenmächtig Details der Anzeige nicht im erstellten Vermerk aufgeführt.
Beispiel |
B wirft der A vor, A habe vor Kurzem 10 Mio. EUR in Form von Inhaberschuldverschreibungen geerbt und keine Erbschaftsteuererklärung abgegeben. Die Inhaberschuldverschreibungen lägen in einem Bodenfach im Schlafzimmer unter dem Bett. Der Steuerfahnder C unterlässt es, in der Akte den Anzeigenerstatter und den Ort, wo die Inhaberschuldverschreibungen abgelegt sind, aufzuführen, damit dieser nicht identifiziert werden kann. Das Verhalten ist verfassungswidrig. |
Merke | Die Ermittlungsakte ist ungefiltert zu führen. Sämtliche Informationen, Unterlagen, Urkunden oder Vermerke sind darin vollständig aufzunehmen. Tauchen zusammenfassende Vermerke z. B. über eine Strafanzeige darin auf, sollte der Strafverteidiger eine Akteneinsicht in die Handakte der Staatsanwaltschaft/StraBu bzw. Steuerfahndung auf der Amtsstelle verlangen. Hierdurch kann er kontrollieren, ob nicht weitere Unterlagen der Akte rechtsstaatswidrig entzogen wurden. |
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass im strafprozessualen Verfahren § 30 Abs. 2 AO zugunsten des Anzeigenerstatters nicht angewendet werden kann. Allerdings kann er im Einzelfall ausnahmsweise durch § 68 StPO geschützt werden.
5. Rot- und Grünbogen
Vielfach begleitet die Staatsanwaltschaft wegen § 386 Abs. 2 AO die Verfahren der Steuerfahndung. Die StraBu übernimmt hingegen mehrheitlich die Ermittlungen, wenn die Außenprüfungsdienste während ihrer Prüfungshandlungen einen Anfangsverdacht erkennen, z. B. bei Betriebsprüfung und Umsatzsteuersonderprüfung (Rotbögen) oder Lohnsteueraußenprüfung (Grünbögen). Auch wenn die Außenprüfungsdienste ihre Prüfungen fortführen, nachdem ein steuerstrafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet worden ist, werden sie nicht zu Ermittlungspersonen der Staatsanwaltschaft. Sie wenden ausschließlich die steuerrechtlichen Vorschriften der AO an. Ihre steuerlichen Erkenntnisse werden durch die StraBu in das strafprozessuale Ermittlungsverfahren transformiert. Für diese Transformation sind die Rot- und Grünbögen vorgesehen. In diesen sollen die Außenprüfer ihre ermittelten, steuerlichen Tatsachen pointiert zusammenfassen und dem objektiven und subjektiven Tatbestand der Steuerhinterziehung zuordnen. Die Bögen werden damit ein zentrales Element der strafprozessualen Ermittlung. Sie sind in die Ermittlungsakte aufzunehmen (Burkhard, StV 00, 526, 529) und unterliegen damit vollständig dem Akteneinsichtsrecht des Verteidigers (Burhoff, PStR 00, 58, 60). Das Akteneinsichtsrecht des Strafverteidigers erfasst explizit die originalen Rot- und Grünbögen (OLG Rostock 7.7.15, 20 VAs 2/15, StV 15, 678, 679).
Merke | Sind nur Kopien zur Ermittlungsakte oder zu einem Sonderband Außenprüfung genommen worden, sind durch die StraBu die Akten vorzulegen, in denen sich die Originale befinden. Nur mit diesen kann die Authentizität der Dokumente bestimmt und notfalls im Strengbeweisverfahren überprüft werden. |
- Wenzel, Akteneinsicht vs. Steuergeheimnis bietet ein ungeahntes Verteidigungspotenzial, PStR 24, 158 ff.
AUSGABE: PStR 8/2024, S. 181 · ID: 49420292