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VertragsarztrechtPrüfungen wegen EBM-Nrn. 35100 und 35110: zur Quantifizierung von Praxisbesonderheiten

Abo-Inhalt01.02.2024945 Min. LesedauerVon Rechtsanwalt, Fachanwalt für Medizinrecht Dr. Jan Moeck, Kanzlei D+B Rechtsanwälte Partnerschaft mbB

| Im Rahmen der Prüfung der Wirtschaftlichkeit ärztlicher Leistungen, insbesondere im hausärztlichen Bereich, stehen nicht selten Leistungen der psychosomatischen Grundversorgung im Fokus. Das Sozialgericht (SG)Marburg hat dazu im September 2023 in insgesamt drei Verfahren zugunsten von Ärztinnen bzw. Ärzte entschieden, die gegen Honorarrückforderungen der Prüfgremien geklagt hatten. Das Gericht hat sich dabei insbesondere mit der Frage befasst, wie die Prüfgremien die Praxisbesonderheiten zu quantifizieren haben (Gerichtsbescheid des SG Marburg vom 08.09.2023, Az. S 17 KA 87/18; Urteile des SG Marburg vom 27.09.2023, Az. S 17 KA 22/21 und Az. S 17 KA 157/21). |

Sachverhalte

Die Kläger sind in der hausärztlichen Versorgung zugelassen. Sie verfügen über die Genehmigung zur „Psychosomatischen Grundversorgung“ und überschritten jeweils die Durchschnittswerte in der Leistungshäufigkeit der EBM-Nrn. 35100 (Differentialdiagnostische Klärung psychosomatischer Krankheitszustände) und/oder 35110 (Verbale Intervention bei psychosomatischen Krankheitszuständen) in den geprüften Quartalen um bis zu über 800 Prozent im Vergleich zur Fachgruppe. In den Verwaltungsverfahren machten sie geltend, dass ihre Patientenklientel überdurchschnittlich viele Erkrankungen im psychischen, psychosomatischen und/oder psychiatrischen Bereich aufweise und daher ein Schwerpunkt in diesem Leistungsbereich bestehe.

Die Prüfgremien erkannten Überschreitungen von 100 bis 200 Prozent des Fachgruppendurchschnitts pauschal an und setzten bezüglich der weiteren Überschreitungen Honorarkürzungen von bis zu 5.000 Euro je Quartal gegen die betroffenen Leistungserbringer an. Zwar berücksichtigte der Beschwerdeausschuss nach durchgeführten Prävalenzprüfungen grundsätzlich das Vorliegen von Praxisbesonderheiten in den geprüften Praxen. Er legte dabei die entsprechend § 27 der Psychotherapie-Richtlinie genannten Indikationen für die psychosomatische Grundversorgung zugrunde. Die Ermittlung der Mehr-Anteile bezüglich der zehn häufigsten F-Diagnosen gegenüber der verfeinerten Fachgruppe genügte nach Auffassung des Beschwerdeausschusses in allen drei Fällen aber nicht, um die Überschreitungen vollständig zu rechtfertigen. Der Ärztinnen bzw. Ärzte erhoben dagegen Klage zum Sozialgericht Marburg.

Zu den Entscheidungen

Das SG hob in allen drei Verfahren die Bescheide des Beschwerdeausschusses auf und verpflichtete den Ausschuss zur Neuentscheidung über die Widersprüche unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts. Der beklagte Beschwerdeausschuss habe das ihm obliegende Ermessen hinsichtlich der Höhe der anzuerkennenden Praxisbesonderheit nicht in hinreichend präziser Weise ausgeübt. Grundsätzlich sei dem Beschwerdeausschuss die Möglichkeit einzuräumen, den durch Praxisbesonderheiten verursachten Mehraufwand zu schätzen. Auch sei die Vorgehensweise, Prävalenzen zu ermitteln und daraus Rückschlüsse auf die Quantität der Praxisbesonderheit zu ziehen, geeignet, um Praxisbesonderheiten festzustellen. Dies sei jedoch nicht „1:1“ möglich.

Die Prävalenzwerte weisen nämlich in den vorliegenden Fällen in zwei Richtungen eine Unschärfe auf: Einerseits werden Patienten mit einer Diagnosehäufung (von zwei und mehr F-Diagnosen) mehrfach erfasst. Andererseits werden Mehrfachabrechnungen der Positionen – bei nur einer Diagnose – nicht erfasst. Zwar sei davon auszugehen, dass diese Streubreite grundsätzlich in der gesamten Vergleichsgruppe vertreten sei. Es könne jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass – gerade in Praxen mit psychosomatischem Schwerpunkt – eine überdurchschnittliche Häufung der Abrechnungspositionen auftritt, die bei der Prävalenzermittlung nicht berücksichtigt ist. Diese Unschärfe sei bei der Nr. 35100 – im Gegensatz zur Nr. 35110 – nur von geringem Gewicht. Die Nr. 35110 könne als verbale Intervention auch über längere Zeiträume und ohne quantitative Beschränkung für einzelne Patienten vielfach zum Ansatz kommen.

Zur Überzeugung der Kammer kann eine Vergleichbarkeit mit der Fachgruppe nur dann hergestellt werden, wenn sowohl bei der Ermittlung der F-Diagnosen als auch bei der Abrechnungshäufigkeit der Nr. 35110 patientenbezogen vorgegangen wird. So lassen sich die Unschärfen, die sowohl durch eine Häufung von F-Diagnosen bei einzelnen Patienten auftreten als auch durch eine Mehrfachabrechnung, bei einzelnen Patienten vollständig vermeiden.

Überdies fehle es an einer Vorschrift, die die Angabe einer F-Diagnose bereits in der Abrechnung als Voraussetzung für die Erbringung der hier streitigen Nr. 35100 EBM vorsehe und deshalb den Ausschluss eines weiteren Tatsachenvortrags nicht rechtfertigen könnte. Die Nr. 35100 EBM sieht allein eine mindestens 15-minütige Arzt-Patienten-Interaktion bei psychosomatischen Krankheitszuständen vor. Demnach seien ggf. auch Patienten ohne F-Diagnose zu berücksichtigen.

Fazit | Das SG Marburg arbeitet heraus, dass eine Prävalenzprüfung im Bereich der Leistungen der psychosomatischen Grundversorgung allein nicht unbedingt ausreicht, um eine Quantifizierung grundsätzlich anerkannter Praxisbesonderheiten vorzunehmen. Konkret ergäben sich Unschärfen aufgrund von Diagnosehäufungen je Patient auf der einen Seite und unterschiedlich häufigen Leistungsansätzen auf der anderen Seite. Auch hatte der Beschwerdeausschuss das Spektrum der zu berücksichtigen Diagnosen zu eng angelegt. Diese Überlegungen können auch auf andere Leistungsbereiche übertragbar sein. Durch eine patientenbezogene Prüfung können Unschärfen vermieden und die Mehrbedarfe exakter ermittelt werden.

AUSGABE: AAA 2/2024, S. 15 · ID: 49883708

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