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Verhaltensbedingte KündigungTäuschung über Arbeitsleistung = sofort raus?
| Ein Arbeitszeitbetrug, bei dem ein ArbN vortäuscht, für einen näher genannten Zeitraum seine Arbeitsleistung erbracht zu haben, obwohl dies tatsächlich nicht oder nicht in vollem Umfang der Fall ist, ist eine besonders schwerwiegende Pflichtverletzung und erfüllt an sich den Tatbestand des wichtigen Grundes im Sinne von § 626 Abs. 1 BGB. Dasselbe gilt für den Verstoß eines ArbN gegen seine Verpflichtung, die abgeleistete Arbeitszeit korrekt zu dokumentieren. |
Sachverhalt
Die 1962 geborene, geschiedene ArbN war ab 1986 beim Rat des Kreises A beschäftigt. Ab 1990 nahm sie (auf Basis des Überleitungsvertrags vom 14./15.5.90) ihre Tätigkeit beim ArbG als Mitarbeiterin im Arbeitsamt auf. Mit Schreiben des ArbG vom 28.8.15 wurde sie mit Wirkung ab dem 1.1.16 gemäß § 44g SGB II auf Dauer als Arbeitsvermittlerin dem Jobcenter des Landkreises B zugewiesen. Das Schreiben enthält den Hinweis, dass die Rechtsstellung der ArbN als ArbN des ArbG von dieser Zuweisung unberührt bleibe.
Die Dienstvereinbarung zur Flexibilisierung der Arbeitszeit lautet: „Es werden grundsätzlich für alle Mitarbeiter Arbeitszeitkonten geführt, in denen alle für die Arbeitszeitaufzeichnung notwendigen Daten für den Abrechnungsabschnitt unter Beachtung des personenbezogenen Datenschutzes erfasst werden. Die Arbeitszeit ist bei jedem Betreten oder Verlassen der Dienstgebäude zu erfassen. Dies gilt ferner für das Erfassen der Pausen (Raucherpausen, Pausen in der Kantine sowie in den Sozialräumen oder am Arbeitsplatz).
Im Jobcenter des Landkreises B. gilt auch eine Dienstvereinbarung zur Flexibilisierung der Arbeitszeit. In § 9 heißt es u. a.: „(2) Es werden für alle Mitarbeiter Arbeitszeitkonten geführt, in denen alle für die Arbeitszeitaufzeichnung notwendigen Buchungen und Daten für den Abrechnungsabschnitt unter Beachtung des personenbezogenen Datenschutzes erfasst werden. (3) Die Arbeitszeit ist bei jedem Betreten oder Verlassen der Dienstgebäude zu erfassen. Dies gilt ebenso für das Erfassen der Pausen (Raucherpausen, Pausen in der Kantine sowie in den Sozialräumen oder am Arbeitsplatz).“
Anfang Januar 2019 stellte die Vorgesetzte Unregelmäßigkeiten bei den Arbeitszeitbuchungen der ArbN fest. Diese betrafen folgende Raucherpausen:
- 9.1.19, 9:20 Uhr
- 10.1.19, 8:50 Uhr, 9:55 Uhr – 10:09 Uhr, 10:25 Uhr, 13:55 Uhr
- 4.1.19, 7:50 Uhr, 9:55 Uhr, 10:27 Uhr, 15:00 Uhr
- 16.1.19, 9:50 Uhr
Ausweislich des Buchungsjournals aus dem Arbeitszeitkonto hatte die ArbN die Pausenzeiten nicht gebucht. Bei einer weitergehenden Überprüfung wurde anhand der Buchungen am Personaleingang ermittelt, dass die ArbN ihre digitale Dienstkarte zu folgenden Zeiten benutzt hatte, um das Dienstgebäude über den Personaleingang zu betreten:
- 17.1.19, 8:01 Uhr, 9:04 Uhr, 11:33 Uhr, 13:54 Uhr, 15:00 Uhr, 15:52 Uhr, 16:27 Uhr
- 18.1.19, 8:24 Uhr, 9:45 Uhr, 10:38 Uhr, 11:25 Uhr, 13:05 Uhr
- 21.1.19, 7:59 Uhr, 9:00 Uhr, 10:29 Uhr, 12:12 Uhr, 13:51 Uhr, 16:13 Uhr
Ein Abgleich mit dem Buchungsjournal der Arbeitszeiterfassung ergab, dass die ArbN an den vorgenannten 3 Tagen keine einzige Pause, sondern lediglich Beginn und Ende ihrer Arbeitszeit gebucht hatte. Der ArbG forderte die ArbN schriftlich auf, hierzu Stellung zu nehmen. Es entstehe der Eindruck der Arbeitszeitmanipulation. Der Vorsitzende der Geschäftsführung teilte Ende Januar 2019 dem Personalrat die Absicht zur fristlosen hilfsweise fristgerechten Kündigung mit. Das Schreiben enthält bei den Daten zur Person unter
- Familienstand: verheiratet Kinder: zwei, erwachsen
- beschäftigt seit: 14.5.90
Mit Schreiben vom 4.2.19 erklärte der Personalrat seine Zustimmung zu der außerordentlichen, hilfsweise ordentlichen Kündigung. Die Gleichstellungsbeauftragte ließ mitteilen, keine Einwände gegen die Maßnahmen zu erheben. Der Personalrat des Jobcenters Landkreis B stimmte erst mit Schreiben vom 14.2.19 den Maßnahmen zu. Mit einem von Herrn D unterzeichneten Schreiben vom 5.2.19 sprach der ArbG die fristlose Kündigung, hilfsweise fristgerechte Kündigung zum 30.9.19 aus. Das Kündigungsschreiben wurde der ArbN noch am 5.2.19 überreicht. Mit Schreiben ihres Prozessbevollmächtigten vom 11.2.19 ließ die ArbN die Kündigung nach § 174 BGB zurückweisen, weil die Kündigung lediglich vom Vorsitzenden der Geschäftsführung D unterschrieben sei, nicht jedoch von weiteren Mitgliedern.
Die ArbN führte aus, sie sei bereits seit Jahrzehnten Raucherin. Ursprünglich sei es unüblich gewesen, bei Pausen ein- und auszustempeln. Sie sei bei der Dienstberatung zur Belehrung über die Erfassung von Arbeitszeiten und der Buchung von Pausenzeiten nicht anwesend gewesen. Am 26.2.18 sei ihr nur die „Belehrung“ vorgelegt worden mit dem Hinweis, sie müsse ihre Unterschrift leisten. Ferner rügte sie die ordnungsgemäße Personalratsbeteiligung. Der ArbG führte an, der Vorsitzende der Geschäftsführung der Agentur für Arbeit C sei aufgrund interner Delegation für die Kündigung zuständig gewesen. Durch die schwerwiegenden Verstöße gegen arbeitsvertragliche Pflichten sei das Vertrauensverhältnis unwiederbringlich zerstört. Das Arbeitsgericht Suhl gab dem Kündigungsschutzantrag mit Blick auf die außerordentliche Kündigung statt und wies die Klage im Übrigen ab.
Entscheidungsgründe
Das Thüringer LAG (3.5.22, 1 Sa 18/21, Abruf-Nr. 229358) führt aus, die Berufung der ArbN sei unbegründet. Das Arbeitsgericht habe zutreffend ausgeführt, dass der Unterzeichner der Kündigungserklärung D kraft Delegation der Vertretungsbefugnis im Handbuch Personal/Gremien zur Unterzeichnung der streitgegenständlichen Kündigung berechtigt gewesen sei. Eine Unterschrift durch ein weiteres Mitglied der Geschäftsführung sei nicht notwendig gewesen. Die Zuständigkeit zur Entscheidung über die Beendigung des Arbeitsverhältnisses mit der ArbN sei nach § 44d Abs. 4 SGB II trotz Zuweisung zum Jobcenter B bei der Agentur für Arbeit C verblieben.
Entgegen der Auffassung der ArbN folge die Unwirksamkeit der Kündigung auch nicht aus § 174 BGB, denn eine rechtzeitige Zurückweisung der Kündigung wegen fehlender Vollmachtsurkunde liege nicht vor. Dass die Zurückweisung gerade auf die Nichtvorlage der Vollmachtsurkunde gestützt werde, könne sich zwar auch im Wege der Auslegung ergeben. Dies müsse sich aber aus der Begründung oder aus anderen Umständen eindeutig und für den Kündigenden zweifelsfrei erkennbar ergeben.
Das Schreiben der ArbN enthalte den ausdrücklichen Hinweis darauf, dass die Zurückweisung nach § 174 BGB gerade deshalb erfolge, weil die Kündigung nur vom Vorsitzenden der Geschäftsführung D unterschrieben worden sei und nicht vom weiteren Mitglied E. Auch werde im Schreiben vom 11.2.19 unter Verweis auf die „Überleitung“ der ArbN zum Jobcenter die fehlende Unterschrift des Jobcenter-Leiters gerügt. Dies zeige, dass ausschließlich die Kündigungsberechtigung, nicht jedoch die fehlende Vollmachtsurkunde gerügt werden sollte. Ein fehlender Nachweis werde nicht erwähnt.
Die Wirksamkeit der angegriffenen ordentlichen Kündigung scheitere auch nicht an ihrer fehlenden sozialen Rechtfertigung gemäß § 1 Abs. 2 KSchG. Vielmehr sei die Kündigung als verhaltensbedingte Kündigung wegen beharrlicher Verstöße gegen Dokumentationspflichten und daraus folgenden Arbeitszeitbetrugs gerechtfertigt. Ein Arbeitszeitbetrug, bei dem ein Mitarbeiter vortäusche, für einen näher genannten Zeitraum seine Arbeitsleistung erbracht zu haben, obwohl dies tatsächlich nicht oder nicht in vollem Umfang der Fall ist, stelle eine besonders schwerwiegende Pflichtverletzung dar und erfülle an sich den Tatbestand des wichtigen Grundes im Sinne von § 626 Abs. 1 BGB. Dasselbe gelte für den Verstoß eines ArbN gegen seine Verpflichtung, die abgeleistete, vom ArbG sonst kaum sinnvoll kontrollierbare Arbeitszeit korrekt zu dokumentieren (BAG 9.6.11, 2 AZR 381/10). Dabei komme es nicht auf die strafrechtliche Würdigung, sondern auf den mit der Pflichtverletzung verbundenen schweren Vertrauensbruch an. Auch dann, wenn der ArbN wiederholt Pausen erheblich überziehe und seine Arbeitszeit falsch dokumentiere, sei wegen des damit verbundenen Vertrauensverlusts ein wichtiger Grund im Sinne des § 626 BGB an sich gegeben. Ebenso sei die hartnäckige Missachtung der Anweisung, bei Raucherpausen auszustempeln, geeignet, eine außerordentliche Kündigung zu begründen.
Pflichtverletzungen, die an sich einen Grund für eine außerordentliche Kündigung darstellten, seien erst recht geeignet, eine ordentliche Kündigung als verhaltensbedingte Kündigung im Sinne des § 1 Abs. 2 KSchG sozial zu rechtfertigen. Die ArbN habe zu den genannten Zeiten Arbeitszeitbuchungen mittels Zeiterfassungskarte entgegen der sie treffenden Pflicht unterlassen. Durch die unterlassenen Buchungen seien täglich bis zu sieben Raucherpausen als bezahlte Arbeitszeit erfasst worden.
Die Dokumentationspflicht sei in der Dienstvereinbarung zur Flexibilisierung der Arbeitszeit im Jobcenter Landkreis B vom 18.1.12 in § 9 Abs. 3 niedergelegt. Zwar sei eine Kenntnis der ArbN vom konkreten Inhalt der Dienstvereinbarung nicht belegt. Mit ihrer am 26.2.18 geleisteten Unterschrift habe sie jedoch bestätigt, über die Pflicht zur Buchung von Pausenzeiten belehrt worden zu sein. Dabei komme es nicht darauf an, dass die ArbN an der Dienstberatung nicht zugegen gewesen sei. Im Belehrungspapier, das sie mit ihrer Unterschrift bestätigt habe, sei der Belehrungsinhalt noch einmal aufgeführt. Spätestens nach Unterzeichnung sei sie daher über die Pflicht zur Buchung von Raucherpausen informiert gewesen.
Dass ihr die Pflicht zur Buchung von Pausenzeiten bekannt gewesen sei, lasse sich auch aus ihrer Stellungnahme im Rahmen der Anhörung folgern. Dort räume sie selbst ein, dass ein „nachlässiger Schlendrian“ bei ihr eingerissen sei. Aus ihrem Vortrag sei nicht erkennbar, dass andere Mitarbeiter die Raucherpausen nicht erfasst und daher gleich gelagerte und auch nach der Anzahl vergleichbare Pflichtverletzungen begangen hätten. Daher sei eine Berücksichtigung dieses Umstands zugunsten der ArbN nicht möglich.
Auch der Hinweis der ArbN auf ihre Nikotinsucht verfange nicht. Diese könne allenfalls die Anzahl der Raucherpausen erklären, wegen der ihr gar kein Vorwurf gemacht werde. Der Vorwurf beziehe sich nur auf die beiden Raucherpausen verletzten Pflichten zur ordnungsgemäßen Dokumentation.
Wegen der Schwere der Pflichtverletzung stelle sich die ordentliche, verhaltensbedingte Kündigung nach der Interessenabwägung als sozial gerechtfertigt dar. Zwar sei die ArbN seit über 30 Jahren beim ArbG bzw. deren „Vorgängern“ beschäftigt. Zulasten falle ins Gewicht, dass ihre Pflichtverletzung unter dem Gesichtspunkt des Arbeitszeitbetrugs strafrechtliche Relevanz habe. Auch nach langjähriger Beschäftigungsdauer könne einem verständigen ArbG nicht zugemutet werden, durch das vorsätzliche Nichterfassen von Pausenzeiten betrogen zu werden. Indem alle ArbN die Arbeitszeit im Rahmen des flexiblen Arbeitszeitmodells selbst erfassen könnten, hätten sie einen Vertrauensvorschuss erhalten. Diesen habe die ArbN missbraucht.
Eine Abmahnung sei entbehrlich, wenn eine Verhaltensänderung in Zukunft selbst nach Abmahnung nicht zu erwarten steht oder es sich um eine so schwere Pflichtverletzung handelt, dass eine Hinnahme durch den ArbG offensichtlich ausgeschlossen sei. Bei bewusst falschen Angaben hinsichtlich der Arbeitszeit oder bei mehrfachen nicht unerheblichen Falschaufzeichnungen bedürfe es in der Regel nicht noch einer vergeblichen Abmahnung. Auch eine fehlerhafte Beteiligung des Personalrats stehe der Wirksamkeit der ordentlichen Kündigung nicht entgegen. Das Beteiligungsverfahren aus Anlass der hilfsweise ausgesprochenen ordentlichen Kündigung richte sich nach § 79 Abs. 1 in Verbindung mit § 72 BPersVG. Die fehlerhaften Angaben zu den Sozialdaten der ArbN seien als unschädlich anzusehen:
Dies gelte für den mitgeteilten Familienstand „verheiratet“, obwohl die ArbN zu diesem Zeitpunkt nach ihren Angaben bereits geschieden gewesen sei. Auf den Familienstand der ArbN komme es angesichts der Schwere des Kündigungsvorwurfs nicht entscheidend an. Zudem belege der Familienstand „geschieden“ nicht zwingend eine erhöhte Schutzbedürftigkeit. Vielmehr bedeute der Familienstand „verheiratet“ gleichzeitig, selbst dem Ehegatten gegenüber unterhaltsverpflichtet zu sein. Diese Unterhaltsverpflichtungen und nicht der Familienstand selbst seien der Grund, warum der Familienstand im Rahmen der Sozialauswahl nach § 1 Abs. 3 KSchG zugunsten eines ArbN Berücksichtigung finde. Der Status „verheiratet“ habe dem Personalrat daher eine größere soziale Schutzbedürftigkeit der Klägerin suggeriert.
Auch fehlende Angaben zu etwaigen Unterhaltsverpflichtungen gegenüber den Kindern der ArbN seien unschädlich. Es sei bereits nicht ersichtlich, dass die von der ArbN erstinstanzlich angeführte Unterhaltsverpflichtung gegenüber ihrer erwachsenen Tochter dem ArbG bekannt gewesen sei. Zuletzt führe die fehlerhafte Angabe zur Betriebszugehörigkeit der ArbN nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung. Sie sei nicht erst seit dem 14.5.90 betriebszugehörig, sondern bereits ab 1.2.86. Dies sei im Rahmen der Interessenabwägung auch grundsätzlich von Relevanz. Aus Sicht der Kammer bedeute aber eine 34 Jahre dauernde Betriebszugehörigkeit gegenüber einer solchen von nur 30 Jahren bereits deshalb keine erhöhte Schutzbedürftigkeit, weil der Gesetzgeber selbst bei einer Betriebszugehörigkeit von mehr als 20 Jahren keine weitere Abstufung in der Schutzbedürftigkeit vornehme.
Relevanz für die Praxis
Die Entscheidung des LAG Thüringen macht deutlich, dass auch vom ArbN selbst als „sozialadäquat“ oder unerheblich empfundene Verhaltensweisen, wie Raucherpausen während der Arbeitszeit ohne Ausstempeln und ähnliche Verstöße gegen Arbeitszeitdokumentationspflichten durchaus kündigungsrechtliche Relevanz besitzen. ArbG sollten, um einem solchen Missbrauch – insbesondere im Bereich der Vertrauensarbeitszeit – vorzubeugen, die Verpflichtung zur Dokumentation bzw. zum Ausstempeln solcher Zeiten dem ArbN ausdrücklich zur Kenntnis bringen und die Kenntnisnahme dokumentieren. Dies war im entschiedenen Fall geschehen. Wohl auch deshalb wurde eine einschlägige Abmahnung vor Kündigungsausspruch hier als entbehrlich angesehen. Das Verfahren ist beim BAG (2 AZR 202/22) anhängig.
AUSGABE: AA 10/2022, S. 168 · ID: 48585264