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AnnahmeverzugDrei auf einen Streich: Neues zum „Böswilligen Unterlassen“ nach § 615 S. 2 BGB, § 11 Nr. 2 KSchG
| In der arbeitsgerichtlichen Praxis spielte über viele Jahre § 615 S. 2 BGB und nach einer unwirksamen Kündigung § 11 Nr. 2 KSchG keine große Rolle. In der letzten Zeit verlangen gleich drei Urteile des BAG Aufmerksamkeit. |
Nach zwei gleichlautenden Bestimmungen muss sich der ArbN im Rahmen des Annahmeverzugs den Wert desjenigen anrechnen lassen, was zu erwerben er böswillig unterlässt. Dabei hindert die Anrechnung bereits die Entstehung des Annahmeverzugsanspruchs und führt nicht nur zu einer Aufrechnungslage. Das BAG (zuletzt 8.9.21, 5 AZR 205/21, Abruf-Nr. 226854) erkannte wiederholt, dass ein ArbN dann böswillig anderweitigen Verdienst unterlässt, wenn ihm ein Vorwurf daraus gemacht werden kann, dass er während des Annahmeverzugs trotz Kenntnis aller objektiven Umstände vorsätzlich untätig bleibt und eine ihm nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) zumutbare anderweitige Arbeit nicht aufnimmt oder die Aufnahme der Arbeit bewusst verhindert. Maßgebend sind dabei die gesamten Umstände des Einzelfalls. Die Unzumutbarkeit der anderweitigen Arbeit kann sich unter verschiedenen Gesichtspunkten ergeben. Sie kann etwa ihren Grund in der Person des ArbG, der Art der Arbeit oder den sonstigen Arbeitsbedingungen haben. Erforderlich für die Beurteilung der Böswilligkeit ist stets eine unter Bewertung aller Umstände des konkreten Falls vorzunehmende Gesamtabwägung der beiderseitigen Interessen.
1. Die erste Entscheidung
In einem vom BAG (27.5.20, 5 AZR 387/19, Abruf-Nr. 217081) entschiedenen Rechtsstreit ging es zunächst nur um eine vom ArbG im Rahmen des vom ArbN geltend gemachten Anspruchs aus Annahmeverzug verlangte Auskunft über die von der Agentur für Arbeit und dem Jobcenter unterbreiteten Vermittlungsvorschläge. Über diese Auskunft wollte der ArbG dem Anspruch des ArbN aus Annahmeverzug böswilliges Unterlassen anderweitigen Verdiensts nach § 11 Nr. 2 KSchG vorhalten. Das BAG führt zunächst aus, was der Auskunftsanspruch nach § 242 BGB im Einzelnen voraussetzt:
- 1. Das Vorliegen einer besonderen rechtlichen Beziehung,Voraussetzungen des Auskunftsanspruchs des ArbG
- 2. die dem Grunde nach feststehende oder (im vertraglichen Bereich) zumindest wahrscheinliche Existenz eines Leistungsanspruchs des Auskunftsfordernden gegen den Anspruchsgegner,
- 3. die entschuldbare Ungewissheit des Auskunftsfordernden über Bestehen und Umfang seiner Rechte sowie
- 4. die Zumutbarkeit der Auskunftserteilung durch den Anspruchsgegner.
Nach dem BAG sind die Voraussetzungen für den Anspruch auf Auskunft erfüllt:
- 1. Zwischen den Parteien bestehe ein Arbeitsverhältnis und damit die erforderliche Sonderrechtsbeziehung. Der ArbG erhebe gegen die vom ArbN geltend gemachten vertraglichen Entgeltansprüche nach unwirksamer Kündigung aus § 615 S. 1 i. V. m. § 611a Abs. 2 BGB bzw. Einwendungen nach § 11 Nr. 2 KSchG, für die er darlegungs- und beweispflichtig sei.Arbeitsverhältnis als Sonderrechts- beziehung
- 2. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Einwendung böswillig unterlassener anderweitiger Arbeit begründet ist, bestehe. Der ArbN hatte sich nach der Kündigung bei der Agentur für Arbeit arbeitssuchend gemeldet. Diese ist nach § 35 Abs. 1 SGB III verpflichtet, Arbeitsvermittlung anzubieten. Entsprechendes gilt für das Jobcenter (vgl. § 6d SGB II), das nach § 1 Abs. 3 Nr. 2 SGB II Leistungen zur Beendigung der Hilfebedürftigkeit insbesondere durch Eingliederung in Arbeit erbringen soll. Zu seinen Leistungen gehört nach § 16 Abs. 2 S. 1 i. V. m. und § 16 Abs. 1 S. 1 SGB II die Arbeitsvermittlung.Wahrscheinlichkeit böswilligen Unterlassens war gegeben
- 3. Der ArbG sei in entschuldbarer Weise über das Bestehen und den Umfang der Vermittlungsangebote im Ungewissen. Er könne sich die notwendigen Informationen nicht selbst auf zumutbare rechtmäßige Weise beschaffen. Der ArbG könne regelmäßig weder darlegen und beweisen, dass der ArbN überhaupt anderweitigen Verdienst habe, noch könne er Angaben zur Höhe des anderweitigen Erwerbs machen (§ 11 Nr. 1 KSchG). Zu dem böswilligen Unterlassen anderer zumutbarer Arbeit (§ 11 Nr. 2 KSchG) könne der ArbG jedenfalls in Bezug auf Vermittlungsangebote der Agentur für Arbeit und des Jobcenters erst recht keine Angaben machen. Ohne Auskunftsanspruch laufe damit die gesetzlich vorgesehene Anrechnungsmöglichkeit jedenfalls in Bezug auf anderweitig erzielten Verdienst und Arbeitsmöglichkeiten bei Dritten faktisch leer. Hiervon ausgehend sei der ArbG in entschuldbarer Weise über das Bestehen und den Umfang der Vermittlungsangebote im Ungewissen. Er habe keine andere rechtmäßige Möglichkeit, sich die zur Begründung ihrer Einwendung nach § 11 Nr. 2 KSchG notwendigen Informationen zu beschaffen.ArbG kann Vermittlungsangebote der Agentur für Arbeit nicht kennen
- 4. Der ArbN könne die zur Beseitigung der Ungewissheit erforderliche Auskunft unschwer geben. Er kenne die von der Agentur für Arbeit und dem Jobcenter an ihn übermittelten Vermittlungsvorschläge. Der Auskunftserteilung ständen auch keine schützenswerten Interessen des ArbN entgegen, die dafür sprechen könnten, die Übermittlung von Vermittlungsvorschlägen geheim zu halten, um so der von Gesetzes wegen nach § 615 S. 2 BGB und § 11 Nr. 2 KSchG eintretenden Anrechnung böswillig unterlassenen anderweitigen Verdiensts zu entgehen. Der ArbN habe solche Umstände nicht vorgetragen, sie sind auch ansonsten nicht ersichtlich.Auskunft ist für ArbN unschwer zu erteilen
Erhalte der ArbG die Auskunft, könne er entscheiden, den Einwand zu erheben, der ArbN habe es „böswillig“ unterlassen, die Vermittlungsvorschläge anzunehmen, und damit anderweitigen Verdienst verhindert.
2. Die zweite Entscheidung
Auch in einem weiteren Rechtsstreit entschied das BAG (19.5.21, 5 AZR 420/20, Abruf-Nr. 224342) über einen Anspruch nach § 615 S. 1 BGB. Hier hatte der ArbN einem Betriebsteilübergang widersprochen. Der ArbG war mangels anderweitiger Beschäftigungsmöglichkeit im Betrieb in Annahmeverzug gelangt. Der ArbG hatte zuvor den ArbN vergeblich aufgefordert, für ein Jahr zu ansonsten unveränderten Bedingungen mit der bisherigen Tätigkeit bei dem Erwerber als Leih-ArbN zu arbeiten. Der ArbG sah in der Ablehnung der Arbeitsaufnahme beim Betriebsteilnachfolger ein böswilliges Unterlassen anderweitigen Erwerbs i. S. des § 615 S. 2 BGB.
Das BAG folgte der Auffassung des ArbG. Es führt aus:
„Das Angebot des ArbG an einen ArbN im Rahmen eines Betriebsübergangs bei dem Betriebserwerber als Leiharbeitnehmer die bisherige Tätigkeit zu unveränderten Konditionen befristet weiterzuführen, ist dem ArbN zumutbar. Er muss sich, auch wenn er dem Übergang seines Arbeitsverhältnisses widersprochen hat, den durch das Angebot zu erzielbaren böswillig unterlassenen anderweitigen Verdienst auf seinen Annahmeverzugsanspruch anrechnen lassen, wenn er dieses Angebot nicht annimmt.“
Das BAG geht noch weiter und bestimmt, dass die Arbeitsaufnahme bei dem Betriebsteilerwerber auch dann nicht unzumutbar sei, wenn dem ArbG die Erlaubnis zur Arbeitnehmerüberlassung gefehlt hätte. Dieser Hinweis überrascht, denn es würde dann ein Arbeitsverhältnis mit dem Erwerber nach §§ 9, 10 AÜG begründet werden, was der ArbN durch den Widerspruch gegen den Betriebsteilübergang verhindern wollte. Schließlich soll es auch unerheblich sein, ob das Angebot, bei dem Betriebsteilnachfolger vorübergehend zu arbeiten, unzumutbar gewesen sei. Aus § 615 S. 2 BGB könne nicht abgeleitet werden, der ArbN dürfe auf jeden Fall ein zumutbares Angebot abwarten. Von dem ArbN könne erwartet werden, dass er das Angebot des ArbG zumindest unter dem Vorbehalt einer anderweitigen Beschäftigungsmöglichkeit annimmt.
Der Rechtsstreit verdeutlicht, dass sich der ArbG bei einem Betriebsübergang bei einer Absprache mit dem Erwerber relativ leicht einem Anspruch des widersprechenden ArbN aus Annahmeverzug entziehen kann, indem er ihm einen Arbeitsplatz beim Betriebserwerber zuweist und – bei Ablehnung – den Einwand der Böswilligkeit nach § 615 S. 2 BGB erhebt.
3. Die dritte Entscheidung
In einem dritten Rechtsstreit verneinte das BAG (8.9.21, 5 AZR 205/21, Abruf-Nr. 226854) ein böswilliges Unterlassen von Zwischenverdienst. Dort hatte der ArbN erstinstanzlich seine Kündigungsschutzklage gewonnen; das Arbeitsgericht verurteilte zudem den ArbG, den ArbN bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzprozesses zu unveränderten Bedingungen weiter zu beschäftigen. Die Berufung nahm der ArbG Ende Dezember 2019 zurück. Der ArbG hatte zuvor dem ArbN ein befristetes Prozessarbeitsverhältnis angeboten, was dieser ablehnte. Er wurde daraufhin nicht beschäftigt. Der ArbN verlangte für die Zeit von September bis Dezember 2019 Vergütung aus Annahmeverzug. Der ArbG wandte böswilliges Unterlassen von Zwischenverdienst ein, weil der ArbN die befristete Prozessbeschäftigung abgelehnt hatte.
Das BAG folgte hier der Auffassung des ArbN. Es heißt in dem Urteil:
„Der Kläger war nicht verpflichtet, trotz des erstrittenen, vorläufig vollstreckbaren (§ 62 Abs. 1 S. 1 ArbGG) Weiterbeschäftigungsurteils während des laufenden Kündigungsschutzprozesses neben dem gekündigten Arbeitsverhältnis ein befristetes Prozessarbeitsverhältnis einzugehen. Die Weiterbeschäftigung des gekündigten ArbN während eines Kündigungsschutzprozesses kann ... auf verschiedenen Grundlagen erfolgen. ArbG und ArbN können eine vertragliche Vereinbarung über die vorübergehende Fortsetzung des gekündigten Arbeitsverhältnisses treffen, ..., sei es als ... befristetes Arbeitsverhältnis. Hat der gekündigte ArbN ein vorläufig vollstreckbares Weiterbeschäftigungsurteil erstritten, kommt darüber hinaus die rein tatsächliche Beschäftigung des ArbN aufgrund des im Weiterbeschäftigungsurteil titulierten allgemeinen Weiterbeschäftigungsanspruchs in Betracht. Unabhängig davon, ... ist der gekündigte ArbN, der ein vorläufig vollstreckbares Weiterbeschäftigungsurteil erstritten hat, nicht verpflichtet, trotz des Weiterbeschäftigungstitels ein Angebot des ArbG zu einer vertraglichen Gestaltung der Weiterbeschäftigung während des Kündigungsschutzprozesses anzunehmen. § 11 Nr. 2 KSchG regelt – wie § 615 S. 2 BGB – eine aus § 242 BGB hergeleitete Obliegenheit, aus Rücksichtnahme gegenüber dem ArbG einen zumutbaren Zwischenverdienst zu erzielen. ... Das Beharren des ArbN darauf, dass der ArbG seine aus dem (vorläufig) vollstreckbaren Titel folgende Rechtspflicht erfüllt, ist nicht treuwidrig i. S. d. § 242 BGB. ... Es hätte der Beklagten – wollte sie das Annahmeverzugsrisiko mindern – oblegen, ihrer Verpflichtung aus dem Weiterbeschäftigungsurteil nachzukommen ...“.
Fazit: Dem ArbG ist zu empfehlen, einem im Rahmen eines Kündigungsschutzprozesses stattgegebenen Weiterbeschäftigungsurteil uneingeschränkt Folge zu leisten. Jedenfalls ist der ArbN nicht verpflichtet, sich auf eine befristete Prozessbeschäftigung einzulassen.
4. Relevanz für die Praxis
Die Entscheidungen verdeutlichen, dass beide Arbeitsvertragsparteien auch im Rahmen des Annahmeverzugs nach § 242, § 241 Abs. 2 BGB Rücksicht aufeinander nehmen müssen. Der ArbN muss sich während des Kündigungsschutzprozesses um andere Arbeit bemühen. Muss der ArbG unter Umständen aufgrund einer Auskunftsklage feststellen, dass der ArbN dieser Obliegenheit böswillig nicht nachgekommen ist, muss sich der ArbN den böswillig unterlassenen Verdienst anrechnen lassen. Der ArbG kann den ArbN trotz eines Widerspruchs gegen einen Betriebsübergang mit Zustimmung des Betriebserwerbers bei diesem einsetzen, sodass der ArbN, sollte er das Angebot ablehnen, evtl. seinen Anspruch aus § 615 S. 2 BGB verliert.
Andererseits muss der ArbG, sofern er im Kündigungsschutzprozess zur Weiterbeschäftigung verurteilt worden ist, trotz des eingelegten Rechtsmittels den ArbN uneingeschränkt beschäftigen. Die Folge wird sein, dass sich beide Parteien künftig noch sorgfältiger auf die Voraussetzungen und die Folgen des Annahmeverzugs nach § 615 BGB und § 11 KSchG einstellen werden.
AUSGABE: AA 3/2022, S. 50 · ID: 48013054