FamilienleistungsausgleichAktuelles vom Kindergeld mit Auslandsbezug
| In mehreren aktuellen Entscheidungen hat die Rechtsprechung zu praxisrelevanten Fragen des Kindergeldbezugs Stellung bezogen. Hierbei ging es um die Begrenzung der rückwirkenden Auszahlung festgesetzten Kindergeldes auf sechs Monate (BFH 25.4.24, III R 27/22, DStRE 24, 1056), um die eigenständige Prüfungspflicht der Familienkasse (BFH 25.4.24, III R 36/23, DStRE 24, 1099) und um die taggenaue Ermittlung des Dreimonatszeitraums in § 62 Abs. 1a S. 1 und 3 EStG (FG Münster 22.5.24, 8 K 2918/22 kg).
1. Rückwirkende Auszahlung des Kindergelds
Die Auszahlung von festgesetztem Kindergeld erfolgt rückwirkend nur für die letzten sechs Monate vor Beginn des Monats, in dem der Antrag auf Kindergeld eingegangen ist (§ 70 Abs. 1 S. 2 EStG). Nach § 52 Abs. 50 S. 1 EStG (i. d. F. des Gesetzes vom 11.7.19, BGBl I 19, 1066) ist diese Vorschrift auf Kindergeldanträge anzuwenden, die nach dem 18.7.19 eingehen. Der BFH hat entschieden, dass es für die zeitliche Anwendung des § 70 Abs. 1 S. 2 EStG nicht auf die Entstehung des Kindergeldanspruchs, sondern auf den Zeitpunkt des Antragseingangs („nach dem 18.7.19“) ankommt. Der Gesetzgeber war auch nicht verpflichtet, bei der Einführung des § 70 Abs. 1 S. 2 EStG aus Vertrauensschutzgründen eine Übergangsregelung für vor dem 18.7.19 bereits entstandene Kindergeldansprüche zu schaffen (BFH 25.4.24, III R 27/22, DStRE 24, 1056).
1.1 Sachverhalt
Der Stiefvater beantragte im August 2019 die Festsetzung und Auszahlung des Kindergelds für die Monate ab August 2018 für seine Stieftochter. Mit Bescheid vom 7.5.20 setzte die Familienkasse Kindergeld für den Zeitraum August 2018 bis einschließlich Oktober 2019 fest. Hierbei wurde die Auszahlung des festgesetzten Kindergelds auf den Zeitraum Februar 2019 bis Oktober 2019 begrenzt. Insoweit verwies die Familienkasse auf die Sechsmonatsfrist des § 70 Abs. 1 S. 2 EStG, die für nach dem 18.7.19 eingehende Anträge gelte. Der gegen die Beschränkung der Auszahlung gerichtete Einspruch blieb ebenso erfolglos wie die hiergegen gerichtete Klage, die das FG Schleswig-Holstein (17.5.22, 4 K 110/21) abwies. Auch die Revision blieb jetzt vor dem BFH ohne Erfolg.
1.2 Anmerkungen
Wie der BFH feststellt, kommt es nach dem eindeutigen Wortlaut des § 52 Abs. 50 S. 1 EStG für die zeitliche Anwendung des § 70 Abs. 1 S. 2 EStG nicht auf die Entstehung des Kindergeldanspruchs, sondern auf den Zeitpunkt an, in dem der Antrag auf Kindergeld eingegangen ist. Nach den Feststellungen des FG beantragte der Stiefvater (Kläger) am 5.8.19 Kindergeld. § 70 Abs. 1 S. 2 EStG kam daher zur Anwendung. Die rückwirkende Auszahlung des von der Familienkasse für den Zeitraum August 2018 bis einschließlich Oktober 2019 festgesetzten Kindergelds ist daher auf die sechs Monate vor August 2019, also Februar bis Juli 19, beschränkt.
Die Regelung über den zeitlichen Anwendungsbereich ist nach Feststellung des BFH nicht willkürlich, sondern lässt sich durch sachliche Gründe rechtfertigen. Da es sich um ein Antragsverfahren handelt, ist es sachlich gerechtfertigt, auch die Regelung über den zeitlichen Anwendungsbereich dieser Norm von dem nach dem Inkrafttreten der Regelung liegenden Zeitpunkt der Antragstellung abhängig zu machen.
Beachten Sie | Die Neuregelung in 2019 hat die frühere strengere Regelung abgelöst, die weitergehend nicht erst die rückwirkende Auszahlung, sondern bereits die rückwirkende Festsetzung des Kindergelds jenseits der Sechsmonatsfrist ausschloss.
1.3 Relevanz für die Praxis
Diese Ausschlussfrist beeinträchtigt auch nicht die Freiheit der Eltern und des Kindes, Ausbildungsorte flexibel und insbesondere auch im europäischen Ausland zu wählen. Der Kindergeldberechtigte kann selbstverständlich jederzeit einen Kindergeldantrag stellen. Auch wenn es durch den Auslandsbezug zu zeitlichen Verzögerungen bei der Beibringung von Ausbildungsnachweisen kommt, kann nach rechtzeitig erfolgter Antragstellung die Auszahlungsbeschränkung des § 70 Abs. 1 S. 2 EStG nicht greifen.
2. Prüfungskompetenz der Familienkasse hinsichtlich Freizügigkeitsberechtigung des Antragstellers
Nach § 62 Abs. 1a S. 4 EStG besteht bei Kindergeldfestsetzungen für nach dem 31.7.19 beginnende Zeiträume eine uneingeschränkte Prüfungskompetenz der Familienkasse für die in § 62 Abs. 1a S. 3 EStG vorausgesetzte Freizügigkeitsberechtigung des Anspruchstellers. Eine eigenständige Prüfungspflicht der Familienkasse besteht auch dann, wenn die Ausländerbehörde den Verlust des Freizügigkeitsrechts gemäß § 5 Abs. 4 FreizügG (vom 30.7.04, BGBl I 04, 1950, 1986; zuletzt geändert durch Art. 4 Gesetz vom 21.2.24, BGBl I 24, Nr. 54) festgestellt hat. Der Bescheid der Ausländerbehörde entfaltet bei der Prüfung des Kindergeldanspruchs keine (echte) Tatbestandswirkung (BFH 25.4.24, III R 36/23, DStRE 24, 1099).
2.1 Sachverhalt
Die rumänische Mutter lebt seit April 2019 in Deutschland, wo auch ihre beiden Kinder geboren wurden, für die die Familienkasse zunächst Kindergeld festgesetzt hat. Ab November 2021 war die Mutter als Arbeitnehmerin beschäftigt, wobei sie in den Monaten November und Dezember 21 einen deutlich geringeren Lohn als in den folgenden Monaten erhielt, weil sie sich zeitweise als Ungeimpfte in unbezahlter Quarantäne befand.
Die Ausländerbehörde stellte im November 2021 den Verlust des Freizügigkeitsrechts der Mutter fest, da sie sich weniger als fünf Jahre in Deutschland aufgehalten hat und keine Erwerbstätigkeit ausübt. Der Bescheid wurde bestandskräftig. Die Familienkasse hob daraufhin die Kindergeldfestsetzung ab Dezember 2021 gegenüber der Mutter auf. Hiergegen legte die Mutter Einspruch ein. Nachdem die Ausländerbehörde den Bescheid über den Verlust des Freizügigkeitsrechts ab April 2022 wieder aufgehoben hatte, gewährte die Familienkasse ihr ab April 2022 wieder Kindergeld. Für die übrigen Zeiträume (November 2021 bis März 2022) wies sie den Einspruch zurück, da insoweit der Verlust der Freizügigkeit festgestellt worden ist und auch die Voraussetzungen des § 62 Abs. 2 EStG nicht vorgelegen haben. Die dagegen erhobene Klage der Mutter war vor dem FG erfolgreich (28.2.23, 15 K 1527/22 Kg). Die anschließende Revision der Familienkasse blieb jetzt vor dem BFH ohne Erfolg.
2.2 Anmerkungen
Nach § 62 Abs. 1a S. 3 EStG (i. d. F. des Gesetzes vom 11.7.19, BGBl I 19, 1066) ist der Kindergeldanspruch eines Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats, der seit mehr als drei Monaten im Inland einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt hat, u. a. dann ausgeschlossen, wenn dieser die Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 oder Abs. 3 FreizügG/EU nicht erfüllt.
Im Streitfall hat der BFH festgestellt, dass die Mutter als rumänische Staatsangehörige im Streitzeitraum innerhalb der EU für Zwecke der Kindergeldfestsetzung freizügigkeitsberechtigt war:
- § 62 Abs. 1a EStG in der am 18.7.19 geltenden Fassung ist für Kindergeldfestsetzungen anzuwenden, die Zeiträume betreffen, die nach dem 31.7.19 beginnen (§ 52 Abs. 49a S. 1 EStG). Die Familienkasse und nachfolgend das FG prüfen den Kindergeldanspruch und die materiellen Voraussetzungen des Freizügigkeitsrechts nach der Einführung des § 62 Abs. 1a S. 4 EStG in eigener Zuständigkeit. Der BFH ist der Ansicht, dass der Gesetzgeber bei Einführung der Vorschrift zwar zunächst nur den Fall im Blick hatte, dass die Ausländerbehörde noch keinerlei Feststellungen über das Freizügigkeitsrecht getroffen hat (vgl. BT-Drs. 19/8691, 64). Der Gesetzgeber hat jedoch nicht ausdrücklich vorgeschrieben, dass ausschließlich dieser Fall geregelt werden soll. Der Wortlaut der Vorschrift lässt vielmehr darauf schließen, dass das Gesetz den Familienkassen bei der Prüfung eines Kindergeldanspruchs die Prüfung der Freizügigkeit nach § 2 Abs. 2 und 3 FreizügG/EU in allen Fällen zuweisen will.Keine Bindung der Familienkasse an Entscheidung der Ausländerbehörde
- Eine teleologische Reduktion des § 62 Abs. 1a S. 4 EStG kommt daher nicht in Betracht. Die Vorschrift dahin gehend einzuschränken, dass eine eigenständige Prüfungskompetenz der Familienkasse nicht mehr besteht, wenn der Verlust der Freizügigkeit durch die Ausländerbehörde festgestellt worden ist, ist der Regelung nicht zu entnehmen. Denn aus der Gesetzesbegründung ergibt sich nicht, dass nur die Fälle der fehlenden Feststellung der ausländerrechtlichen Freizügigkeitsberechtigung von der Prüfungskompetenz der Familienkassen erfasst werden sollten.
2.3 Relevanz für die Praxis
Die gesetzlich geregelte, automatisierte Übermittlung der Feststellung des Nichtbestehens oder des Verlustes des Rechts auf Einreise und Aufenthalt nach dem FreizügG/EU (§ 18f AZRG ) bleibt entgegen der Ansicht der Familienkasse weiterhin sinnvoll und erforderlich, befreit die Familienkasse aber nicht von ihrer Prüfungspflicht.
In der Praxis ist zu beachten, dass die Entscheidung der Ausländerbehörde zur Feststellung des Verlustes der Freizügigkeitsberechtigung gemäß § 5 Abs. 4 FreizügG/EU bei der Prüfung des Kindergeldanspruchs keine (echte) Tatbestandswirkung entfaltet. Eine solche Feststellung der Ausländerbehörde kann zwar regelmäßig ausreichen, um Zweifel am Bestehen der Freizügigkeit zu begründen. Aufgrund der eigenen Prüfungskompetenz der Familienkasse kann diese eine Versagung des Kindergeldanspruchs aber nicht allein auf die Entscheidung der Ausländerbehörde stützen, sondern muss die materiellen Voraussetzungen der Freizügigkeit selbstständig prüfen.
3. Kindergeldanspruch nach Wohnsitzbegründung im Inland
Das FG Münster hat zur Kindergeldberechnung nach Wohnsitzbegründung im Inland entschieden, dass der „Ablauf des in Satz 1 genannten Zeitraums“ im Sinne des § 62 Abs. 1a S. 3 EStG taggenau zu ermitteln ist (FG Münster 22.5.24, 8 K 2918/22 kg).
3.1 Sachverhalt
Die Mutter und ihre Tochter sind bulgarische Staatsangehörige, die am 20.1.22 nach Deutschland eingereist waren. Die Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 oder Abs. 3 FreizügG/EU erfüllte die Mutter unstreitig nicht.
Obwohl nach § 62 Abs. 1a EStG ein Staatsangehöriger eines EU- oder EWR- Staats, der im Inland einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt begründet, vorbehaltlich der Regelungen des § 62 Abs. 1a S. 2 EStG für die ersten drei Monate ab Begründung des Wohnsitzes oder des gewöhnlichen Aufenthalts keinen Anspruch auf Kindergeld hat, setzt die Familienkasse nach der Entscheidung des EuGH vom 1.8.22 (C-411/20, NJW 22, 2823) Kindergeld für die Monate Januar bis März 2022 gegenüber der Mutter fest. Die bulgarische Mutter kann in Deutschland für drei Monate nach ihrer Einreise Kindergeld beanspruchen, da sie sich in diesem Zeitraum berechtigt in Deutschland aufhält.
Beachten Sie | Nach dem EuGH-Urteil C-411/20 verstößt § 62 Abs. 1a EStG insoweit gegen Unionsrecht, als er Unionsbürger diskriminiert, die während der ersten drei Monate ihres Aufenthalts in einem anderen Mitgliedstaat nicht erwerbstätig sind, während derselbe Mitgliedstaat seinen eigenen Staatsangehörigen nach einer Wiedereinreise Familienleistungen uneingeschränkt auch ohne Erwerbstätigkeit gewährt.
Die Kindergeldfestsetzung für den Monat April 2022 wird jedoch abgelehnt. Aus der Weisung des BZSt vom 28.9.22 (St II 2 – S 2479-PB/22/00002 BStBl I 22, 1405) zu § 62 Abs. 1a EStG folge, dass ein Anspruch auf Kindergeld nach dem EStG nur in den ersten drei Kalendermonaten nach Begründung des Wohnsitzes bzw. gewöhnlichen Aufenthalts im Inland bestehe. Die Weisung impliziere eine kalendermonatsbezogene Betrachtung.
Der hiergegen gerichteten Klage der Mutter hat das FG Münster stattgegeben (22.5.24, 8 K 2918/22 kg); allerdings hat das Gericht die Revision zum BFH zugelassen.
3.2 Anmerkungen
Hintergrund ist, dass der dreimonatige Anspruchsausschluss nach § 62 Abs. 1a EStG nach Ansicht des EuGH (1.8.22, C-411/20) unionsrechtswidrig ist. Nach Art. 6 Abs. 1 i. V. m. Art. 14 Abs. 1 der FreizügigkeitsRL hat ein Unionsbürger das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats für einen Zeitraum von bis zu drei Monaten, wobei er lediglich im Besitz eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses sein muss und ansonsten keine weiteren Bedingungen zu erfüllen oder Formalitäten zu erledigen hat, solange er und seine Familienangehörigen die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats – dazu zählt nicht das Kindergeld – nicht unangemessen in Anspruch nehmen. Die Umsetzung in nationales (deutsches) Recht erfolgte in § 2 Abs. 5 S. 1 FreizügG/EU in der bis zum 24.4.23 gültigen Fassung bzw. in § 2a Abs. 1 S. 2 FreizügG/EU in der ab dem 25.4.23 gültigen Fassung.
Das FG ist der Auffassung, dass die Familienkasse zu Unrecht davon ausgehe, dass das Urteil des EuGH dazu führe, dass nur für die ersten drei Kalendermonate (hier Januar bis März 2022) ein Anspruch auf Kindergeld bestehe. Für diese Auslegung bestehe nach Ansicht des FG Münster weder ein rechtlicher Anhaltspunkt im Gesetz noch eine tatsächliche Notwendigkeit. Deshalb sei der Zeitraum „von bis zu drei Monaten“ taggenau zu ermitteln, sodass er im vorliegenden Fall bis zum Ablauf des 20.4.22 andauerte. Hierfür spricht nach Ansicht des FG Münster auch der Wortlaut des § 62 Abs. 1a S. 1 EStG. Anderenfalls würde es finanziell einen wesentlichen Unterschied machen, ob ein Unionsbürger zu Beginn oder zum Ende eines Kalendermonats einreist.
3.3 Relevanz für die Praxis
Folge der „taggenauen Berechnung“ ist, dass im Streitfall ein Kindergeldanspruch für alle vier Monate besteht, die in den Dreimonatszeitraum des Art. 6 Abs. 1 i. V. m. Art. 14 Abs. 1 FreizügigkeitsRL fallen. Denn im April habe sich die Mutter zumindest an einem Tag rechtmäßig in Deutschland aufgehalten. Aus § 66 Abs. 2 EStG ergebe sich, dass Kindergeld für jeden Monat zu gewähren sei, in dem die Anspruchsvoraussetzungen mindestens an einem Tag vorliegen.
Die vom FG zugelassene Revision wurde zwar zunächst eingelegt, anschließend aber wieder zurückgenommen; das Urteil des FG-Münster ist damit rechtskräftig und kann als Referenzurteil in Bezug genommen werden.
- Zu der Frage, ob die Familienkasse die Begründung für die Aufhebung einer Kindergeldfestsetzung durch einen Umstand austauschen darf, der bei der ursprünglichen Festsetzung bereits bekannt war, s. FG Münster 24.5.24, 1 K 2995/22 Kg, AO
- Zum Kindergeldanspruch bei mehrjährigem Auslandsstudium in Drittstaat s. noch Jahn, PIStB 23, 290
AUSGABE: PIStB 11/2024, S. 310 · ID: 50129207