Digitalisierung im deutschen Mittelstand, Teil 1Diese Erfolgsfaktoren und Stolpersteine bei Digitalisierungsprojekten sollten Sie kennen
| Trotz der vielversprechenden Chancen der Digitalisierung ist diese für viele deutsche Unternehmen noch nicht greifbar. Dies gilt insbesondere für mittelständische Unternehmen, während die in Deutschland ansässigen internationalen Konzerne im Umgang mit dem Thema weiter fortgeschritten sind. Vor dem Hintergrund der hohen Relevanz des Themas wächst der Druck auf die mittelständischen Unternehmen. Im Beitrag werden anhand von Best-Practise-Beispielen Erfolgsfaktoren, aber auch Stolpersteine, die es auf dem Digitalisierungsweg zu vermeiden gilt, dargestellt. |
1. Der Erfolg des deutschen Mittelstands spricht Bände
Weltweit ist der „German Mittelstand“ für seinen großen wirtschaftlichen Erfolg bekannt. Mit einem Anteil von 56,3 % an den Beschäftigten in Deutschland ist der Mittelstand ein wichtiger Beschäftigungsmotor für die deutsche Wirtschaft und ihre Arbeitnehmer. Nicht nur dies, sondern auch die Fähigkeit, schnell und flexibel auf Marktveränderungen zu reagieren, ist ein wesentlicher Erfolgsfaktor der KMU. Großunternehmen hingegen haben Probleme, kurzfristige Marktveränderungen zu berücksichtigen, da die Entscheidungswege und Umsetzungsmaßnahmen zeitintensiv und bürokratisch sind.
Merke | Kurze Entscheidungswege führen dazu, dass kurz- und mittelfristige Marktveränderungen und teilweise unternehmerische Herausforderungen häufig zu Innovationstreibern in KMU werden. Dagegen stellen Bürokratie und Komplexität erhebliche Innovationsbremsen dar. |
2. Ist die Digitalisierung im Mittelstand angekommen?
Die Digitalisierung ist einer der zentralen Megatrends, mit dem sich Industrieunternehmen beschäftigen, um ihre Zukunftsfähigkeit zu sichern und neue Geschäftsfelder zu erschließen. Unter dem Begriff „Industrie 4.0“ verfolgen Unternehmen das Ziel, Produktionsprozesse zu automatisieren, die Kommunikation zwischen Maschinen zu ermöglichen oder Lagerbestände auszulesen, um bei Bedarf automatisch eine Bestellung auszulösen. Diese Entwicklung führt dazu, dass sich die führenden Industrieunternehmen einen immer größeren Vorsprung gegenüber dem Mittelstand erarbeiten.
2.1 Spannungsfelder im deutschen Mittelstand
Für die Unternehmen des deutschen Mittelstands ist die Digitalisierung ein Thema von hoher Relevanz. Bei der Umsetzung und Interpretation des Digitalisierungsgrads gibt es jedoch unterschiedliche Auffassungen und somit eine große Lücke zwischen Vorreitern und reaktiven Unternehmen. Viele Unternehmen haben die Chancen und Vorteile erkannt, es gibt aber auch verschiedene Hemmnisse und Herausforderungen, die den Prozess der Digitalisierung verlangsamen oder sogar blockieren. Eine Befragung von 2.300 mittelständischen Unternehmen zeigt, dass die IT-Sicherheit für 52 % der befragten Unternehmen eine Hürde darstellt. Darüber hinaus sind hohe Investitionskosten mit 49 % sowie rechtliche Unsicherheiten mit 39 % Faktoren, die Unternehmen bei der Umsetzung der Digitalisierung bremsen.
2.2 Arten und Bereiche der Digitalisierungsprojekte
Digitalisierungsprojekte in mittelständischen Unternehmen lassen sich in verschiedene Segmente unterteilen. So werden verstärkt Projekte im technologischen Umfeld angegangen (s. 3.1). Hier liegt der Fokus auf der Erneuerung von Soft- und Hardware sowie der Neugestaltung des Außenauftritts der Unternehmen. Darüber hinaus werden moderne Umsetzungskonzepte für die IT-Sicherheit erarbeitet und eingeführt.
Ein weiteres Handlungsfeld ist die Kompetenzentwicklung im Bereich der Digitalisierung (s. 3.2). Hier wird laut einer Studie von KfW Research insbesondere die Weiterbildung im IT-Bereich adressiert. Die Ergebnisse der Studie zeigen aber auch, dass zentrale Elemente von Industrie 4.0, wie die Vernetzung von Maschinen oder die Optimierung von Prozessen, erst von einem Fünftel der Unternehmen umgesetzt werden.
3. Best-Practice-Digitalisierungs-Beispiele
Prozessoptimierung ist eines der wichtigsten Schlagworte, wenn von Digitalisierung die Rede ist. Die digitale Transformation steht in engem Zusammenhang mit der Prozessoptimierung, da diese insbesondere durch ein steigendes Innovationstempo, Wettbewerbs- und Kosteneinsparungsdruck, flexiblere Reaktionszeiten sowie ein verändertes Angebot vorangetrieben wird.
3.1 Der Hightech-Bauernhof
Unter Handlungsdruck, die eigenen Prozesse zu überdenken und anzupassen, stand auch Rinderzüchter Phillip Ellerbrock. Der Landwirt aus Schleswig-Holstein stellte sich die Frage, wie er mithilfe der Digitalisierung seinen eigenen Milchviehbetrieb optimieren kann. Er beschloss, sich mit seinem Telekommunikationsanbieter, der den Bereich IoT (Internet of Things) abdeckt, und weiteren Partnern zusammenzuschließen. Mithilfe von Sensoren und Technologie kann der Landwirt nun tracken, ob die Kühe gesund sind, wann der richtige Zeitpunkt für die Besamung ist oder wann die Kuh kalbt. Die Firma smaXtec hat einen Sensor entwickelt, der von der Kuh geschluckt wird und im Magen verbleibt. Der Sensor misst fortlaufend die Körpertemperatur und erkennt bestimmte Bewegungen, um das Trink- und Fressverhalten zu analysieren. Darüber hinaus ist es möglich, zu erkennen, wann eine Geburt bevorsteht. Diese Daten der insgesamt 85 Kühe, die kontinuierlich überwacht werden, werden über das IoT-Netzwerk auf das Smartphone des Landwirts übertragen.
Die Lösung „MooCall“ ist ein weiterer wesentlicher Bestandteil des Smart-Farming-Konzepts des Landwirts. Auch hier werden die Daten von einem Sensor über das IoT übertragen. Der Abkalbesensor wird am Schwanz der Kuh befestigt und misst die Schwanzbewegungen. Sobald eine Kuh eine Wehe hat, bewegt sich der Schwanz auf eine bestimmte Art und Weise. Mithilfe eines Algorithmus sendet der Sensor in diesem Moment ein Signal aus und der Landwirt wird per SMS oder Push-Benachrichtigung auf seinem Smartphone alarmiert. Auf diese Weise können zum einen die Tierarztkosten gesenkt und zum anderen kann die Kälbersterblichkeit aufgrund von schnelleren Reaktionszeiten deutlich reduziert werden. Nach eigenen Angaben des Herstellers kann ein Landwirt während der Abkalbesaison ca. vier Stunden pro Tag und Gerät einsparen.
Zuletzt hat Ellerbrock auch im eigentlichen Betrieb eine Möglichkeit gefunden, Prozesse durch Digitalisierung zu optimieren. Die vernetzte Milchkanne liefert Daten über den aktuellen Füllstand, den Standort der Kanne sowie die Temperatur. Diese Daten werden ebenfalls auf das Smartphone des Landwirts übertragen und ermöglichen es, die Effizienz der gesamten Milchproduktion und Logistikkette zu optimieren. Landwirtschaft 4.0 setzt damit neue Maßstäbe, um Kosten für die Bauern einzusparen, die Arbeit zu unterstützen und vor allem den Kühen und Kälbern das Leben zu retten.
3.2 Einführung eines Personalentwicklungssystems
Ein Teilbereich der Industrie 4.0 ist die Logistik 4.0, die sich im Kern mit der Informatisierung der Logistik beschäftigt. Dabei sollen Informationen über Objekte und Akteure digital verfügbar gemacht und vernetzt werden, um diese wertschöpfend zu nutzen. Hierbei steht nicht nur die Technologie im Fokus, sondern auch die Arbeitsweise in den verschiedenen Funktionsbereichen oder auch die Nutzung neuer Kooperationsmöglichkeiten entlang der Supply Chain.
Um die Chancen der Digitalisierung effektiv nutzen zu können, ist der Aufbau der notwendigen Kompetenzen im Unternehmen eine Grundvoraussetzung. Denn mit der Einführung neuer digitaler Prozesse und Werkzeuge werden langjährig eingespielte Arbeitsabläufe grundlegend verändert. Vor diesem Hintergrund hat sich die Erich Weiss Logistik GmbH & Co. KG mit der Implementierung eines Personalentwicklungssystems beschäftigt. Das Logistikunternehmen wurde 1937 gegründet, beschäftigt 57 Mitarbeiter und verfügt über eine Lagerfläche von 5.000 qm. Darüber hinaus ist das Unternehmen Teil des Netzwerkk s „SIMCARGO“ mit 196 nationalen und 70 internationalen Partnern.
Die initiale Analyse zum Aufbau dieses Systems zielte darauf ab, die verschiedenen Handlungsfelder zu identifizieren, die sich aus der Digitalisierung und den damit einhergehenden Veränderungen ergeben. Darauf aufbauend wurden Kompetenzprofile erstellt, die aufzeigen, in welchen Bereichen das Unternehmen bereits zukunftsfähig aufgestellt ist und in welchen weitere Kompetenzen aufgebaut werden müssen. Anhand von 13 Handlungsfeldern wurde ein Reifegradmodell entwickelt. Diese Handlungsfelder umfassen Bereiche wie die IT-Infrastruktur, Kommissionierung, das Lager- und Bestandsmanagement, Kundenbeziehungen oder auch die Strategie und das Geschäftsmodell. Das Ergebnis der Analyse hat gezeigt, dass vor allem in den Bereichen Kundenbeziehung, Disposition und Transportmanagement sowie Kommissionierung, Lager- und Bestandsmanagement Fortschritte erzielt werden müssen.
Für die Konzeption des Personalentwicklungssystems wurden die erforderlichen Kompetenzen auf der Ebene der verschiedenen Berufsgruppen aufgelistet und miteinander verknüpft. Die Berufsgruppen umfassen z. B. Lagermitarbeiter, IT-Personal, Speditionskaufleute, das Controlling oder das Supply Chain Management. Darauf aufbauend wurden individuelle Kompetenzprofile erstellt. Für die detaillierte Ausarbeitung wurde eine sechsstufige Skala in Anlehnung an den Europäischen Referenzrahmen verwendet. Die Erhebung der Kompetenzen erfolgte auf Basis einer Selbsteinschätzung der Mitarbeiter. Die persönliche Einstufung führte zu dem Ergebnis, dass 49,20 % das Kompetenzlevel „Beginner (A1)“ und 28,40 % „Fortgeschrittene Kenner (A2)“ wählten.
Auf Basis der Ergebnisse und einer Priorisierung der Handlungsfelder wurden vier verschiedene Projekte geplant und im Unternehmen etabliert. Diese umfassen die Vernetzung von Bestellprozessen durch Cloud-Lösungen, die Einführung der Nutzung mobiler Echtzeitdaten zur besseren Tourenplanung, die Einführung eines papierlosen Lager- und Bestandsmanagements sowie die Optimierung des CRM-Systems. Darüber hinaus hat die Erich Weiss Spedition Rahmenbedingungen und Leitlinien für die Organisations- und Personalentwicklung definiert, die diese Projekte und die Weiterentwicklung der Mitarbeiter unterstützen. Durch diese Analyse und die Etablierung eines Personalentwicklungssystems konnte das Unternehmen effektive Projekte starten, die den Kompetenzaufbau und die Sicherung des digitalen Fortschritts gewährleisten.
4. Zentrale Erfolgsfaktoren
Für die erfolgreiche Umsetzung von Digitalisierungsprojekten ist es von großer Bedeutung, die Mitarbeiter direkt einzubinden und zu beteiligen, um möglichen Widerständen entgegenzuwirken. Die Einbindung sollte sich über alle Kernphasen des Wandels erstrecken. Dazu gehören die Analyse, die Konzeption und die Umsetzung. Diese Beteiligung überträgt den Mitarbeitern Verantwortung und trägt dazu bei, dass weniger Überzeugungsarbeit geleistet werden muss. Teilweise führt sie sogar dazu, dass die Beteiligten selbst aktiv weitere Kollegen von der Veränderung überzeugen.
Daneben stellt das fehlende Know-how im Umfeld der Digitalisierung eine Herausforderung für mittelständische Unternehmen dar. Eine Möglichkeit, sich dieses fehlende Wissen anzueignen, kann die Zusammenarbeit mit Start-ups sein. So können Lücken geschlossen und ganzheitliche Initiativen umgesetzt werden. Darüber hinaus entwickeln sich mittelständische Unternehmen durch solche Kooperationen ebenfalls zu Dienstleistern, die nicht nur ihre Produkte verkaufen, sondern auch Dienstleistungen anbieten, wie z. B. nachgelagerte Maschinenüberwachung oder Schulungen und Wartungsservices.
5. Stolpersteine
Die Funktionen in mittelständischen Unternehmen sind darauf ausgerichtet, operative Tätigkeiten auszuführen, um die Wertschöpfung des Unternehmens voranzutreiben. Expertenfunktionen, die sehr spezifisches Wissen z. B. über Big Data oder die Vernetzung von Maschinen mitbringen, sind in mittelständischen Unternehmen hingegen nicht oder nur selten etabliert.
Eine Analyse des eigenen Unternehmens vor dem Start einer Digitalisierungsinitiative kann helfen, die richtigen Projekte auszuwählen. Mittelständischen Unternehmen fällt es jedoch häufig schwer, die eigene Position im Bereich Industrie 4.0 zu finden. In der Folge scheitern Digitalisierungsprojekte, da die Entscheidungsgrundlage nicht vollständig analysiert wurde, um die richtigen und vor allem passenden Projekte für das eigene Unternehmen zu finden und anzugehen.
6. Ausblick
Disruptive Geschäftsmodelle stellen Risiken für den deutschen Mittelstand dar. Dies sollte bei der Bewertung der Relevanz von Digitalisierungsinitiativen berücksichtigt werden. Zudem werden Unternehmen in Ländern wie China oder den USA stärker staatlich gefördert. Um diese Lücke nicht weiter zu vergrößern, sollten auch in Deutschland weitere Förderungen für den Mittelstand ermöglicht und gleichzeitig Bürokratie abgebaut werden. Die verschiedenen Probleme müssen von Unternehmen und Politik gemeinsam und ganzheitlich gelöst werden, um nicht den Anschluss an die Weltwirtschaft zu verlieren.
Digitale Innovationen bieten vielfältige Chancen für KMU Fazit | Digitale Innovationen bieten vielfältige Chancen, Unternehmen zukunftsfähig aufzustellen, neue Geschäftsmodelle zu entwickeln und neue Geschäftsfelder zu erschließen. Diese Chancen sind auch für den deutschen Mittelstand von zentraler Bedeutung. Bei der Umsetzung von Digitalisierungsinitiativen sehen sich KMU jedoch mit verschiedenen Hemmnissen konfrontiert. Dazu gehören z. B. die Finanzierung, IT-Sicherheit und rechtliche Unsicherheiten. Ein effektives Change-Management, die Kooperation mit Start-ups, die Einbindung von Experten sowie gezielte Analysen im Vorfeld sind wichtige Faktoren, die den Erfolg eines Digitalisierungsprojekts steigern können. Darüber hinaus gilt es Folgendes im Blick zu behalten:
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Zum Autor | Prof. Dr. Markus H. Dahm lehrt und forscht an der FOM Hochschule für Oekonomie & Management in Hamburg und ist Organisations- und Strategieberater für digitale Transformation im Mittelstand.
AUSGABE: BBP 6/2024, S. 166 · ID: 49986892