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VertragsarztrechtAmtsermittlungspflicht kann Vertragsärzte hinsichtlich Praxisbesonderheiten entlasten

Abo-Inhalt04.03.20244 Min. LesedauerVon Rechtsanwältin Meike Schmucker, LL.M., Münster

| Das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen hat im Fall einer Richtgrößenprüfung zugunsten des betroffenen Vertragsarztes entschieden, dass eine Amtsermittlungspflicht der Prüfgremien auf Berücksichtigung von Praxisbesonderheiten bestand. Ob und wie sich dies im Grundsatz auf Wirtschaftlichkeitsprüfungen auswirkt, bleibt jedoch abzuwarten (Urteil vom 23.08.2023, Az. L 3 KA 30/21). |

Hintergrund

Steht der Vorwurf des unwirtschaftlichen Abrechnungs-/Verordnungsverhaltens im Raum, d. h., wurden bestimmte Grenzwerte überschritten, können arztseitig Gründe geltend gemacht werden, die das rechtfertigen. Solche sog. Praxisbesonderheiten liegen vor, wenn ein spezifischer vom Fachgruppendurchschnitt signifikant abweichender Behandlungsbedarf einer bestimmten Patientenklientel (Atypik) gegeben ist und hierdurch Mehrkosten hervorgerufen werden. Grundsätzlich ist es Sache des betroffenen Vertragsarztes, die Atypik seiner Praxis im Vergleich zur Fachgruppe darzulegen. Das gilt insbesondere bei solchen Tatsachen, die die Prüfgremien den Verordnungs- bzw. Abrechnungsdaten nicht entnehmen können. Die arztseitigen Darlegungen müssen grundsätzlich substantiiert sein, also so genau und plausibel wie möglich, und die speziellen Strukturen der Praxis aufzeigen, aus denen die Praxisbesonderheiten folgen können.

Merke | Die Ansprüche an die Darlegungen für Praxisbesonderheiten gelten unabhängig davon, welchen Gegenstand die Wirtschaftlichkeitsprüfung hat. Die Prüfungen können sich auf verschiedene Bereiche beziehen wie Arzneimittel, Heilmittel, Hilfsmittel, Sprechstundenbedarf, Einzelleistungen sowie alle übrigen veranlassten Leistungen (bspw. Überweisungen, Krankenhauseinweisungen). Dabei unterscheiden sich die Prüfungsarten- und Kriterien (bspw. nach Durchschnittswerten oder Richtgrößen) danach, welcher Bereich betroffen ist und welche Regelungen die jeweilige KV in ihrer Prüfvereinbarung festgelegt hat.

Sachverhalt und Entscheidung

Eine hausärztlich-internistische Praxis mit verschiedenen Schwerpunkten (u. a. Wirbelsäulenerkrankungen, Erkrankungen des Zentralen Nervensystems [ZNS], Lymphabflussstörungen) hatte das Richtgrößenvolumen für Heilmittel um rund 132 Prozent überschritten. Die Praxis beantragte als Praxisbesonderheiten die Anerkennung in insgesamt 15 Indikationsgebieten des Heilmittelkatalogs und verwies insbesondere auf ihre von der Fachgruppe deutlich abweichenden Fallzahlen in allen 15 Diagnosegruppen.

Daraufhin ermittelte die Prüfungsstelle den Verordnungsmehrbedarf allein für die Patienten mit Wirbelsäulen- und ZNS-Erkrankungen und stellte für lediglich zwei der 15 Indikationsgebiete Praxisbesonderheiten fest. Die Praxis rügte, dass die übrigen geltend gemachten Diagnosegruppen nicht geprüft worden waren und legte eine Liste ihrer 25 häufigsten Diagnosen im Vergleich zur Fachgruppe vor, um die Ursache der erhöhten Verordnungskosten in den übrigen Indikationsgebieten aufzuzeigen. Das Prüfgremium blieb jedoch dabei, den Mehrbedarf nur für zwei Indikationsgebiete anzuerkennen. Für die übrigen Diagnosegruppen sei von der Praxis nicht plausibel gemacht worden, dass sie ein insofern atypisches Patientengut mit einem spezifischen Behandlungsbedarf habe. Die Praxis legte zunächst Widerspruch und sodann Klage gegen die Entscheidungen der Prüfgremien ein und hatte damit im Ergebnis auch Erfolg.

Laut LSG waren die Prüfgremien verpflichtet, die Darlegungen des Arztes zum Gegenstand weiterer Ermittlungen zu machen und dabei auf möglicherweise notwendige Konkretisierungen hinzuwirken. Nach der Entscheidung des LSG kann diese Ermittlungspflicht der Prüfgremien in bestimmten Fällen sogar noch weitergehen, jedenfalls bei einer Überschreitung des Richtgrößenvolumens (RLV) für Heilmittel. Die Prüfgremien müssen dann vergleichende Prüfungen durchführen, wenn arztseitig geltend gemacht wird, dass bestimmte relevante Diagnose- und Verordnungshäufigkeiten erheblich vom Fachgruppendurchschnitt abweichen.

Auswirkungen des Urteils

Macht eine Praxis geltend, dass ihre Fallzahlen in einem bestimmten Heilmittel-Indikationsgebiet deutlich von denen der Fachgruppe abweicht, muss dies mit Aufstellungen über die Praxisdaten im Vergleich zu den Fachgruppendaten belegt werden. Die Prüfgremien müssen den entsprechenden Diagnosevergleich dann von Amts wegen durchführen. Die Praxis muss dann die abgebildete Diagnosehäufigkeit nicht noch substantiieren. Es ist Aufgabe der Prüfgremien, durch den rechnerischen Vergleich der Diagnose- und Verordnungshäufigkeiten festzustellen, ob strukturelle Besonderheiten der Praxis gegeben sind. Dafür ist keine ergänzende Argumentation des Arztes notwendig. Dies erscheint vor allem insofern interessengerecht, dass betroffene Vertragsärzte bei ungünstigen (nur zufälligen) Diagnosehäufigkeiten nicht darauf angewiesen sind, den im Einzelfall mitunter schwierig darzustellenden Praxisschwerpunkt zu verargumentieren.

Fazit | Betroffene Vertragsärzte können zwar nicht darauf verzichten, die relevante Abweichung von der Fachgruppe geltend zu machen und dies mit den einschlägigen Diagnose- und Verordnungshäufigkeiten im Vergleich zur Fachgruppe darzulegen (in der Regel sollte dies mit vertretbaren Aufwand mitilfe Praxisverwaltungssystem und den Honorarbescheidunterlagen gelingen). Es ist aber nicht notwendig, dass dieses Zahlenmaterial arztseitig weitergehend begründet wird, also die Atypik der Praxis in Worte zu fassen.
Offen bleibt jedoch, ab welchem Umfang die Abweichungen von der Fachgruppe sodann tatsächlich als Praxisbesonderheit bewertet werden und ob eine solche arztseitige Beweiserleichterung auch in anderen Konstellationen von Wirtschaftlichkeitsprüfungen eintreten kann, bspw. im Fall von Durchschnittsprüfungen bei Arzneimitteln. Es wäre wünschenswert, insofern eine höhere Rechtssicherheit zugunsten der Vertragsärzte zu gewinnen, die – ohne einen erklärbaren Praxisschwerpunkt – aufgrund einer Diagnose häufig aus medizinischen Gründen gezwungen sind, in größerem Umfang als ihre Fachkollegen zu verordnen.

AUSGABE: AAA 4/2024, S. 14 · ID: 49917987

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